10. September 2014
Marktmissbrauch
Aktienrecht

Die neue Marktmissbrauchsverordnung: Fluch und Segen?

Knapp drei Jahre sind seit dem ersten Verordnungs-Vorschlag der EU-Kommission vergangen. Am 2. Juli 2014 ist die neue Marktmissbrauchsverordnung (market abuse regulation – MAR) nun endlich in Kraft getreten. Die ab 2016 geltenden Vorschriften werden die Regelungen des deutschen Wertpapierhandelsgesetzes (WpHG) zur Bekämpfung von Insidergeschäften und Marktmanipulation sowie zur Ad hoc-Publizität ablösen. Börsennotierte Unternehmen sollten sich auf die Neuerungen frühzeitig vorbereiten.

Für Emittenten an regulierten Märkten gibt es zunächst eine gute Nachricht: Die aus dem WpHG bekannten Grundstrukturen des Marktmissbrauchsrechts bleiben von der MAR unangetastet. Die Musik spielt allerdings in den zahlreichen Details, die hinreichend Stoff für eine zweite, schlechte Nachricht bieten.

Erweiterung des Anwendungsbereichs

Ähnlich dem Umfang des Verordnungstextes, der sich seit dem ersten Entwurf in etwa verdoppelt hat, wurde auch der Anwendungsbereich des Marktmissbrauchsrechts erheblich ausgeweitet. Der europäische Gesetzgeber reagiert damit auf eine nachhaltige Verlagerung der Liquidität von den geregelten Märkten hin zu alternativen Handelsplattformen und die damit verbundene Verlagerung missbräuchlicher Verhaltensweisen.

Künftig gilt das volle Regulierungsspektrum auch für Finanzinstrumente an multilateralen und anderen organisierten Handelssystemen sowie für Derivate.

Insbesondere der deutsche Freiverkehr einschließlich seiner Qualitätssegmente (etwa Entry Standard oder m:access), dessen Attraktivität der Bundesgerichtshof jüngst erst mit seiner Delisting-Entscheidung gefördert hatte, wird künftig mit einem Regulierungsniveau zu kämpfen haben, welches weitgehend dem des regulierten Marktes entspricht.

Die für Freiverkehrsemittenten gänzlich neuen Pflichten der Ad hoc-Publizität, des Führens von Insiderverzeichnissen sowie der Directors‘ Dealings machen eine rechtzeitige Auseinandersetzung und unternehmensinterne Vorbereitung für diese Emittenten besonders empfehlenswert.

„Erleichterungen″ für kleinere und mittlere Unternehmen

In diesem Zusammenhang lassen sich die von der MAR vorgesehenen „Erleichterungen″ für Emittenten an so genannten „KMU-Wachstumsmärkten″ nur mit einer ordentlichen Portion Galgenhumor betrachten.

Die Zielsetzung ist durchaus zu begrüßen. Für kleinere und mittlere Unternehmen soll der bereits durch die Marktmissbrauchsrichtlinie 2003 (2003/6/EG) verursachte administrative Aufwand reduziert werden. Mit diesem Ziel vor Augen ermöglicht es die Verordnung nun, Ad hoc-Mitteilungen statt auf einer eigenen Webseite auf der Webseite des Handelsplatzes zu veröffentlichen.

Daneben sind Emittenten an KMU-Wachstumsmärkten grundsätzlich von der laufenden Führung von Insiderverzeichnissen befreit, solange sie auf Anfrage der BaFin in der Lage sind, eine solche Liste zur Verfügung zu stellen. Hält man sich den künftig noch steigenden Umfang dieser Listen vor Augen, ist trotz dieser vermeintlichen Erleichterung faktisch eine Liste zu führen.

Derartige Pseudo-Erleichterungen sollten die Freiverkehrssegmente jedenfalls nicht dazu motivieren, sich als KMU-Wachstumsmarkt registrieren zu lassen.

Insiderinformation und Ad hoc-Publizität (Art. 7, 17 MAR)

„Zeitlich gestreckte Sachverhalte″: enttäuschte Hoffnungen und weiter ungeklärte Fragen

Anlässlich des Rechtsstreits in der Sache Geltl./.Daimler waren die so genannten „zeitlich gestreckten Sachverhalte″ eines der zentralen insiderrechtlichen Themen der letzten Jahre. BGH und EuGH hatten in ihren Entscheidungen etwa klargestellt, dass nicht nur das „Endereignis″ eines zeitlich gestreckten Sachverhalts eine Insiderinformation darstellen kann, sondern dass bereits vorgelagerte, kursrelevante Zwischenschritte eine Ad hoc-Mitteilung auslösen können.

Leider hat sich auch der europäische Gesetzgeber auf eine Wiederholung dieser Klarstellungen beschränkt und sich nicht den noch offenen Rechtsfragen angenommen. Insbesondere die Bestimmung der Kursrelevanz wirft weiterhin Fragen auf, sollte allerdings richtigerweise nach der „Probability-Magnitude-Formel″ im Rahmen einer Gesamtschau vorgenommen werden. Danach sind die Eintrittswahrscheinlichkeit des Endereignisses und die Schwere der möglichen Auswirkungen regelmäßig die entscheidenden Faktoren, obgleich auch etwaige weitere, das Zwischenereignis selbst betreffende Umstände eine Rolle spielen können.

Bedeutung einer frühzeitigen Selbstbefreiung unvermindert hoch

Vor diesem Hintergrund ist es weiterhin wichtig, Führungskräfte für eine frühzeitige Ad hoc-Relevanz von Ereignissen sowie für die Bedeutung umgehender Selbstbefreiungsbeschlüsse zu sensibilisieren.

Eine Selbstbefreiung bleibt auch in Zukunft möglich, wenn die unverzügliche Offenlegung geeignet wäre, die berechtigten Interessen des Emittenten zu beeinträchtigen, zudem keine Irreführung der Öffentlichkeit zu befürchten ist und die Vertraulichkeit der Insiderinformation gewährleistet wird. Zentraler Prüfungspunkt ist dabei auch weiterhin das Vorliegen eines berechtigten Emittenten-Interesses, etwa bei noch laufenden Verhandlungen und einer noch ausstehenden Zustimmung eines anderen Organs.

Die europäische Aufsichtsbehörde ESMA soll eine indikative Liste von Fallbeispielen berechtigter Interessen erarbeiten. Dies hatte in der Praxis die Hoffnung geschürt, künftig auf einen umfangreicheren Katalog zurückgreifen zu können. Zwischenzeitlich hat die ESMA aber signalisiert, dass zur Wahrung des Ausnahmecharakters einer Selbstbefreiung nicht mit einer derartigen Ausdehnung zu rechnen ist.

Sonderfall Gerüchte

Im Hinblick auf die Gewährleistung der Vertraulichkeit werden Emittenten die Entstehung von Marktgerüchten noch genauer im Auge behalten müssen. Bislang war nach dem Aufkommen von Gerüchten nur dann kein weiterer Aufschub der Ad hoc-Mitteilung möglich, wenn diese Gerüchte auf einer Vertraulichkeitslücke beim Emittenten beruhten.

Nach den Regelungen der MAR ist die sofortige Veröffentlichung einer Ad hoc-Mitteilung auch dann geboten, wenn die Gerüchte den Tatsachenkern treffen, und zwar gänzlich unabhängig von deren Herkunft. Es spielt dann keine Rolle mehr, ob das Gerücht aus der Sphäre des Emittenten stammt oder auf willkürlichen, „ins Blaue hinein″ gemachten Behauptungen von Marktteilnehmern beruht.

Weitere Einzelheiten zum künftigen Selbstbefreiungsverfahren

  • Die MAR stellt von einer Vorabmitteilung an die BaFin auf eine Mitteilung ex post um.
  • Sowohl der Mitteilungsinhalt als auch neue Dokumentationspflichten im Verlauf des Selbstbefreiungsverfahrens werden detailliert vorgegeben.
  • Auch nach neuem Recht ist eine ausdrückliche Selbstbefreiungsentscheidung erforderlich. Die ESMA hat sich gegen eine automatische Befreiungswirkung bei Vorliegen der Selbstbefreiungsvoraussetzungen ausgesprochen.
  • Die Entscheidungszuständigkeit muss zwar unternehmensintern klar geregelt sein, konkrete Vorgaben macht das europäische Recht aber nicht.

Insiderlisten (Art. 18 MAR) werden noch aufwändiger

Während auch im Hinblick auf die Insiderverzeichnisse nach § 15b WpHG (künftig Insiderlisten genannt) keine wesentlichen Veränderungen ins Haus stehen, erhöhen zusätzliche administrative Details den Aufwand für die Emittenten weiter.

Es lässt sich kritisch hinterfragen, ob die Angabe von Uhrzeiten und diverser Details zur Identität des Insiders (etwa dessen unternehmensinterne Funktion, mobile Telefonnummern und E-Mail-Adressen) für die zuverlässige Identifikation des Insiders wirklich eine maßgebende Rolle spielen und somit die Wirksamkeit des Marktmissbrauchsrechts tatsächlich fördern. Auf derartige Kritik hat die ESMA bislang abwehrend reagiert.

Weitere Einzelheiten zu den Insiderlisten:

  • Während die BaFin schon bislang eine schriftliche Dokumentation der Insideraufklärung empfahl, wird die Schriftlichkeit nun zur gesetzlichen Pflicht.
  • Laut ESMA werden die Insiderlisten elektronisch an die Aufsichtsbehörde zu übermitteln sein.
  • Die Aufbewahrungsfrist beträgt künftig mindestens fünf statt bisher genau sechs Jahre und eine Pflicht zur anschließenden Vernichtung der Insiderverzeichnisse kennt die MAR nicht mehr.

Directors‘ Dealings (Art. 19 MAR)

Handelsverbot in closed periods

Im Bereich der Geschäfte von Führungskräften werden die Mitteilungs- und Veröffentlichungspflichten nach §§ 15a WpHG, 10 ff. WpAIV grundsätzlich in die MAR überführt. Wahrlich neu ist dagegen ein Handelsverbot in so genannten „geschlossenen Zeiträumen″ (closed periods): 30 Kalendertage vor Ankündigung eines Zwischenberichts oder Jahresabschlussberichts ist es Führungskräften künftig generell untersagt, mit den Papieren ihrer Gesellschaft Handel zu treiben.

Sofern Quartalsberichte veröffentlicht werden, führt diese Regelung dazu, dass bis zu fünf Monate im Jahr keine Eigengeschäfte mehr getätigt werden dürfen. In Extremfällen finanzieller Not oder in bestimmten Konstellationen von Belegschaftsaktien-Programmen oder Arbeitnehmersparplänen kann der Emittent einzelne Geschäfte zulassen.

Neue Aufklärungs- und Dokumentationspflichten

Daneben haben neue Aufklärungs- und Dokumentationspflichten einen erheblichen Umfang. Nach der MAR hat der Emittent zunächst eine fortlaufende Liste der Führungskräfte und der ihnen nahestehenden Personen zu führen. Parallel ist er verpflichtet, seine Führungskräfte über die ihnen obliegenden Mitteilungspflichten schriftlich aufzuklären.

Die Führungskräfte wiederum müssen die ihnen nahestehenden Personen schriftlich aufklären und eine Kopie des Aufklärungsdokuments aufbewahren. Die ESMA hat bereits Entwürfe von Mustermitteilungen und Musterveröffentlichungen vorgelegt.

Weitere Neuerungen im Bereich der Directors‘ Dealings

  • Der Gegenstand der Mitteilungspflicht wird auf Geschäfte in Schuldtiteln, das Verpfänden und Verleihen von Finanzinstrumenten, Geschäfte eines mit eigenem Ermessen ausgestatteten Vermögensverwalters sowie auf Geschäfte im Rahmen einer Lebensversicherung erweitert.
  • Nach einer verkürzten Meldefrist ist künftig unverzüglich, spätestens nach drei statt bislang fünf Geschäftstagen zu melden.

Insiderverbote (Art. 14 MAR)

Nach der MAR wird es weiterhin verboten sein, Insidergeschäfte zu tätigen oder dies zu versuchen, Dritten Insidergeschäfte zu empfehlen oder diese hierzu anzustiften sowie Insiderinformationen unrechtmäßig offen zu legen.

Stornierung oder Änderung von Aufträgen verboten

Neu ist hingegen, dass auch die Stornierung oder Änderung eines Auftrags in Bezug auf ein Finanzinstrument, auf das sich die Informationen beziehen, als Insidergeschäft gilt, wenn der Auftrag vor Erlangung der Insiderinformationen erteilt wurde.

In der Praxis kann dies etwa Risiken beim Stakebuilding im Vorfeld von Transaktionen bergen. Erlangt der interessierte Investor etwa im Rahmen einer Due Diligence Kenntnis von einer negativen Insiderinformation, ist er so lange an seinen Stakebuilding-Auftrag gebunden, bis die Insiderinformation veröffentlicht ist.

Erstmals explizit geregelte Ausnahmetatbestände und Marktsondierungen

Einen vermeintlichen Gegenpol bilden als „legitime Handlungen″ bezeichnete und erstmals explizit geregelte Ausnahmetatbestände (Art. 9 MAR), die allerdings inhaltlich weitgehend den aus Rechtsprechung und Literatur bereits bekannten Ausnahmetatbeständen entsprechen.

Im Hinblick auf die Weitergabe von Insiderinformationen sind künftig so genannte Marktsondierungen unter weiteren Voraussetzungen zulässig. Diesen widmet der europäische Gesetzgeber einen eigenen Artikel (Art. 11 MAR) samt ergänzender technischer Regulierungs- und Durchführungsstandards sowie Leitlinien aus der Feder der ESMA.

Der MAR zufolge sind Ansprachen sowohl potentieller Anleger im Vorfeld von Wertpapierplatzierungen als auch von Aktionären einer Zielgesellschaft bei einem beabsichtigten Übernahmeangebot als Marktsondierung zu qualifizieren.

Sanktionsregime

Drastisch erhöhte Bußgeldrahmen

Schließlich erweitert die MAR die Ermittlungs- und Sanktionsbefugnisse der BaFin ganz erheblich. Auch wenn die BaFin bei der Bestimmung der Art und der Höhe etwaiger Sanktionen weiterhin alle relevanten Umstände zu berücksichtigen hat, soll insbesondere ein drastisch erhöhter Bußgeldrahmen eine abschreckende Wirkung haben.

Juristischen Personen drohen Bußgelder von bis zu 15 Millionen Euro oder 15 Prozent des (Konzern-) Jahresumsatzes, während natürliche Personen mit bis zu 5 Millionen Euro belangt werden können. Die Mitgliedstaaten können diese Beträge noch weiter anheben.

„Naming and Shaming″

In die Schneise einer abschreckenden Wirkung schlägt auch das neue „Naming and Shaming″, wonach die BaFin Sanktionsentscheidungen künftig unter Offenlegung von Art und Charakter des Verstoßes sowie der Identität der betroffenen Person für fünf Jahre auf ihrer Internetseite veröffentlichen wird.

„Whistleblowing″

Auch zur Erhöhung der Entdeckungswahrscheinlichkeit von Verstößen bedient sich die MAR „moderner″ Mittel. Die Mitgliedstaaten haben dafür Sorge zu tragen, dass bei den zuständigen Behörden sowie bei Finanzdienstleistern wirksame Mechanismen für ein „Whistleblowing″ eingerichtet werden.

Strafrechtliche Sanktionen

Dieses verwaltungsrechtliche Sanktionsregime wird durch strafrechtliche Sanktionen der parallel erlassenen Marktmissbrauchsrichtlinie (2014/57/EU), die sich sogar gegen juristische Personen richten können, flankiert.

Die schlechte Nachricht: Mehrarbeit für Emittenten

Durch die Neuerungen zieht sich ein roter Faden: Tatbestände und Pflichten werden erweitert. Statt einer wünschenswerten Reduktion werden administrative Details bis ins Kleinste durchreguliert. Schließlich werden Sanktionen erheblich verschärft.

Ist dies alles für eine effektive Missbrauchsbekämpfung zwingend erforderlich? Aus der Perspektive des Emittenten wird die MAR zunächst nur eines bringen: Mehr Aufwand, ohne sichtbare Verbesserungen.

Tags: Ad hoc-Publizität BaFin ESMA Insidergeschäft Insiderliste MAR market abuse regulation Marktmanipulation Marktmissbrauch Marktmissbrauchsverordnung Wertpapierhandelsgesetz
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Bodo Schmidt-Schmiedebach