19. September 2014
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Vergaberecht

EuGH: Mindestlohnverpflichtung in Vergabeverfahren verstößt gegen EU-Recht

Gestern hat der EuGH über die im Tariftreue- und Vergabegesetz Nordrhein-Westfalen (TVgG NRW) normierte Pflicht zur Zahlung eines Mindestlohns durch Auftragnehmer öffentlicher Aufträge entschieden (C-549/13). In dem konkreten Fall wird die Verpflichtung auf den Mindestlohn als Verstoß gegen die europäische Dienstleistungsfreiheit beanstandet. Die Entscheidung wirft aber auch Fragen zur Zulässigkeit der Mindestlohnregelung in den Vergabegesetzen der Bundesländer insgesamt auf.

Grenzenloser Mindestlohn?

§ 4 Abs. 3 des TVgG NRW sieht vor, dass sich Unternehmen, an die öffentliche Aufträge vergeben werden sollen, verpflichten müssen, ihren Beschäftigten ein Mindeststundenentgelt von 8,62 Euro zu zahlen. Diese Verpflichtung müssen sie auch an ihre Nachunternehmer weitergeben.

Davon darf man auch im Hinblick auf Unternehmen aus anderen Mitgliedstaaten nicht abweichen. Eine Härtefallregelung ist ebenfalls nicht vorgesehen. Mit dieser Regelung bezweckte der nordrhein-westfälische Gesetzgeber, Lohndumping und Preiswettbewerb von Bietern zu Lasten ihrer Arbeitnehmer wirksam zu begegnen.

EuGH: Verstoß gegen die Dienstleistungsfreiheit

Dem gestern ergangenen Urteil zugrunde lag die öffentliche Ausschreibung eines Auftrags zur Aktendigitalisierung der Stadt Dortmund. In Anwendung des TVgG NRW verlangte die Stadt von den Bietern die Verpflichtung auf den Mindestlohn. Hiergegen hat ein Bieter geklagt, der den Auftrag mittels eines Subunternehmers in Polen ausschließlich dort ausführen lassen wollte.

Der EuGH sieht in der Regelung des TVgG NRW einen Verstoß gegen die europäische Dienstleistungsfreiheit gemäß Art. 56 AEUV, soweit durch sie ein Unternehmen aus einem anderen Mitgliedstaat betroffen ist, das – wie vorliegend – den Auftrag ausschließlich durch Arbeitnehmer in diesem anderen Mitgliedstaat ausführt. Die Regelung stelle nämlich für Unternehmen aus solchen Mitgliedstaaten mit niedrigerem Lohnniveau eine zusätzliche wirtschaftliche Belastung dar, die sie davon abhalten kann, sich am Wettbewerb zu beteiligen.

Arbeitnehmerschutz nur bei öffentlichen Aufträgen ist ungeeignet

Zwar könne diese Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit grundsätzlich durch den Arbeitnehmerschutz gerechtfertigt werden. Bereits in der Rechtssache „Rüffert″ (C-346/06) habe der Gerichtshof aber festgestellt, dass eine Mindestlohnregelung, die nur Arbeitnehmer im Rahmen öffentlicher Aufträge schützt, nicht aber Arbeitnehmer im privaten Markt, nicht geeignet sei, den angestrebten Arbeitnehmerschutz zu gewährleisten.

Entscheidung scheint inkonsequent

Der EuGH weist auf diese Entscheidung aus dem Jahr 2008 zwar hin, zieht hieraus allerdings nicht die konsequente Schlussfolgerung, dass die Regelung des TVgG NRW europarechtswidrig ist. Das verwundert und man fragt sich, ob der Gerichthof an dieser Rechtsprechung noch festhalten will.

Denn er stützt seine Entscheidung sodann auf ein anderes Argument: Er führt aus, dass die Regelung des TVgG NRW „jedenfalls″ deshalb unverhältnismäßig sei, weil kein Bezug des Mindestentgelts zum polnischen Mindestlohnniveau und den dortigen Lebenshaltungskosten besteht. Die im TVgG NRW vorgesehene Regelung sei zum Schutz der polnischen Arbeitnehmer, die in Polen arbeiten und leben, nicht erforderlich. Die Festlegung des deutschen Mindestlohns für diese Arbeitnehmer gehe über das hinaus, was zum Schutz dieser Arbeitnehmer erforderlich ist.

Ausblick: Europarechtskonforme Auslegung und Inländerdiskriminierung

Die unterschiedslose Forderung, die Bieter und deren Nachunternehmer auf das deutsche Mindestlohnniveau zu verpflichten, ist mithin europarechtswidrig. Die Gesetzgeber in den Bundesländern, in denen solche Regelungen gelten, sind daher aufgefordert, dem Rechtsverstoß abzuhelfen.

Dessen ungeachtet muss die betroffene Rechtsvorschrift aber bereits vor der Anpassung der Gesetze europarechtskonform angewendet werden, um dem Urteil die geforderte Geltung zu verschaffen. Im Hinblick auf die Begründung des EuGH wäre eine Auslegung dahingehend denkbar, dass § 4 Abs. 3 TVgG NRW und die entsprechenden Regelungen in den anderen Bundesländern allenfalls noch im Hinblick auf deutsche Arbeitnehmer angewendet werden dürfen, da der Mindestlohn auf deren Lebenshaltungskosten abgestimmt wurde.

Angesichts der damit einhergehenden Inländerdiskriminierung fragt sich, ob eine solche Auslegung mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz und dem vom Landesgesetzgeber verfolgten Gesetzeszweck vereinbar ist. Viel spricht dafür, die Vorschrift nur noch auf die Vergabe von Aufträgen anzuwenden, die nicht binnenmarktrelevant sind.

Die zuständigen Ministerien in Nordrhein-Westfalen, aber auch in den anderen Bundesländern, in denen solche Mindestlohnvorgaben für öffentliche Vergaben existieren, müssen durch entsprechende Runderlasse schnellstmöglich Rechtssicherheit schaffen. Betroffenen Bietern ist zu empfehlen, den Rechtsverstoß unverzüglich gegenüber der Vergabestelle zu rügen.

Tags: Arbeitnehmerschutz Dienstleistungsfreiheit EuGH Gleichbehandlungsgrundsatz Lohndumping Mindestlohn öffentliche Aufträge TVgG NRW