10. Mai 2012
Energiewirtschaft & Klimaschutz

Genügend Wettbewerb bei der Stromerzeugung in Deutschland?

Wenn Energieversorgungsunternehmen Aufträge vergeben, ist an das Sektorenvergaberecht zu denken. An dieses können auch Energieversorgungsunternehmen, die sich überwiegend in privater Hand  befinden, gebunden sein. Die Kommission hat nun entschieden, dass solche Auftragsvergaben, die die Erzeugung und den Erstabsatz von Strom aus konventionellen Quellen in Deutschland betreffen, zukünftig von der Anwendung der Sektorenvergaberichtlinie freigestellt sind.

Das Sektorenvergaberecht ist in Deutschland in der Sektorenverordnung geregelt. Danach sind Aufträge ab einer bestimmten Größenordnung (Schwellenwerte) grundsätzlich in einem europaweiten Vergabeverfahren zu vergeben. Das Vergabeverfahren beginnt mit einer Bekanntmachung im Supplement zum Amtsblatt der Europäischen Union und neben den bestimmten, konkreten Verfahrensvorschriften sind die allgemeinen Grundsätze der Transparenz und der Gleichbehandlung zu beachten. Diese vergaberechtlichen Bindungen werden von Sektorenauftraggebern mitunter als Wettbewerbsnachteil empfunden. Das deutsche Sektorenvergaberecht beruht – wie das übrige Vergaberecht auch – auf einer europäischen Richtlinie: der Richtlinie 2004/17/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 zur Koordinierung der Zuschlagserteilung durch Auftraggeber im Bereich der Wasser-, Energie- und Verkehrsversorgung sowie der Postdienste (Sektorenvergaberichtlinie). Ziel der Sektorenvergaberichtlinie ist die Schaffung von Wettbewerb in diesen Sektoren.

Die Sektorenvergaberichtlinie sieht die Möglichkeit vor, dass die Kommission Auftragsvergaben in bestimmten Sektorenbereichen freistellen kann, wenn die betreffende Sektorentätigkeit bereits auf einem Markt mit freiem Zugang unmittelbar dem Wettbewerb ausgesetzt ist. In diesem Zusammenhang hat die Kommission beispielsweise im Jahr 2008 entschieden, dass das Sektorenvergaberecht in Österreich nicht mehr für Auftragsvergaben im Bereich  der Energieerzeugung gilt.

Vor diesem Hintergrund hatte der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft e.V. (BDEW) am 26.11.2011 bei der Kommission beantragt, dass in Deutschland Beschaffungen für Errichtung, Kauf und Betrieb (einschließlich Wartung) von Stromerzeugungsanlagen, gleich welcher Art, sowie die damit zusammenhängenden Hilfstätigkeiten von der Anwendbarkeit der Sektorenvergaberichtlinie freigestellt werden. Über diesen Antrag hat die Kommission mit Beschluss vom 24.4.2012 entschieden und festgestellt, dass Auftragsvergaben, die die Erzeugung und den Erstabsatz von Strom aus konventionellen Quellen in Deutschland betreffen, zukünftig von der Anwendung der Sektorenvergaberichtlinie freigestellt sind. Demgegenüber unterliegen Auftragsvergaben, die die Erzeugung und den Erstabsatz von Strom, der nach dem Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) vergütet wird, nach wie vor der Sektorenvergaberichtlinie. Die Kommission hat somit dem Antrag des BDEW nur zum Teil entsprochen. Interessant ist die Begründung der Kommission.

Der deutsche Strommarkt sei zunächst folgendermaßen zu charakterisieren: Der Großteil der Erzeugungskapazitäten befinde sich in den Händen von vier großen Energieversorgungsunternehmen, namentlich RWE AG, E.ON AG, EnBW AG und Vattenfall Europe AG. Die beiden größten Energieversorgungsunternehmen (RWE AG und E.ON AG) seien nicht an das Sektorenvergaberecht gebunden, weil sie nicht von der öffentlichen Hand beherrscht würden und ihnen auch sonst keine staatlich vermittelte Vorzugsstellung (besondere oder ausschließliche Rechte) eingeräumt sei. Der kumulierte Marktanteil der drei größten Stromerzeuger (bezogen auf die Einspeisung in Stromnetze) habe im Jahr 2010 70 % betragen. Strom, der nach dem Erneuerbaren-Energien-Gesetz (EEG) zu vergüten war, habe 18 % ausgemacht. Deutschland sei bis zum Jahr 2010 ein Nettoexporteur von Strom gewesen. Aufgrund der Entscheidung der Bundesregierung, Kernkraftwerke stillzulegen, sei Deutschland im Jahr 2011 zu einem Nettoimporteuer von Strom geworden.

Die Kommission sieht in dieser Situation, insbesondere in dem Marktkonzentrationsgrad, einen Indikator dafür, dass die Erzeugung und der Großhandel von konventionellem Strom in Deutschland einem gewissen Wettbewerbsdruck ausgesetzt seien. Dieser Wettbewerbsdruck werde vor allem durch die beiden größten, nicht an das Sektorenvergaberecht gebundenen Markt-Player sowie das privilegierte Vergütungssystem für Strom aus erneuerbaren Energien hervorgerufen. Aus diesen Gründen würden die übrigen Markt-Player ihre Tätigkeit ohnehin an wettbewerblichen Grundsätzen ausrichten. Eine Bindung an das Sektorenvergaberecht sei daher nicht mehr notwendig.

Für die Erzeugung und den Erstabsatz von EEG-Strom gelte dies hingegen nicht. EEG-Strom werde vorrangig an das Netz angeschlossen, habe bei der Netzeinspeisung Vorrang gegenüber konventionellem Strom und werde – anders als Strom aus konventionellen Quellen – in der Regel auch nicht direkt auf dem Großhandelsmarkt abgesetzt, sondern zuerst von den Übertragungsnetzbetreibern zu einem gesetzlich festgelegten Vergütungssatz abgenommen. Es sei daher davon auszugehen, dass die Tätigkeit von EEG-Stromerzeugern auch in naher Zukunft nicht dem Wettbewerb ausgesetzt sei. Aus diesem Grund müsse die Sektorenvergaberichtlinie in diesem Bereich nach wie vor Anwendung finden.

Nach § 3 Abs. 7 der Sektorenverordnung wird der Beschluss der Kommission in Deutschland verbindlich, wenn die Bekanntmachung im Bundesanzeiger durch das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie erfolgt ist. Mit der Bekanntmachung ist in Kürze zu rechnen. Fortan werden Beschaffungsverträge von öffentlichen Sektorenauftraggebern, die die Erzeugung oder den Erstabsatz von Strom aus konventionellen Quellen betreffen, nicht mehr vergabeverfahrenspflichtig sein. Der Umgang mit bereits begonnenen Vergabeverfahren, die die jetzt freigestellten Sektorenbereiche betreffen, hängt von dem Stand des Vergabeverfahrens ab.

Und die Frage des Wettbewerbs im Energiesektor bleibt spannend: Bei der Kommission ist seit Kurzem ein weiteres Freistellungsverfahren für den Energiesektor anhängig. Der Antrag betrifft in diesem Fall die Erzeugung und den Verkauf von Strom in Italien.

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