28. Februar 2012
Sicherung von Tariftreue und Sozialstandards sowie fairen Wettbewerb bei der Vergabe öffentlicher Aufträge
Vergaberecht

Verordnete Treue im Vergaberecht

Von Christian Scherer-Leydecker und Patrick Mückl

Was in der Liebe nicht immer klappt, versucht der Gesetzgeber für das Vergaberecht per Dekret zu verordnen. Am 10.01.2012 hat der nordrhein-westfälische Landtag das Gesetz über die Sicherung von Tariftreue und Sozialstandards sowie fairen Wettbewerb bei der Vergabe öffentlicher Aufträge (Tariftreue- und Vergabegesetz NRW – TVgG NRW) beschlossen, das zum 01.05.2012 in Kraft treten wird. Vergleichbare Regelungen wurden beispielsweise in Thüringen, Brandenburg, Niedersachsen, Bremen und Berlin verabschiedet. Das Gesetz regelt allgemeine Grundsätze für die Vergabe öffentlicher Aufträge und schreibt die Berücksichtigung von Umweltschutz-, Energieeffizienz- und sozialen Kriterien sowie von Kriterien der Frauenförderung bei der Beschaffung durch öffentliche Auftraggeber in Nordrhein-Westfalen vor. Sein Herzstück bildet die Festlegung einer Tariftreuepflicht und eines Mindestlohns als Kriterien für die Vergabe von Aufträgen, deren Wirksamkeit man durchaus bezweifeln kann.

Anwendungsbereich

Das TVgG NRW trifft eine differenzierte Regelung dazu, welche gesetzlichen Vorgaben auf welche Vertragstypen und -leistungen Anwendung finden. Danach gilt das Gesetz zunächst einmal vollständig für Bau- und Dienstleistungsverträge. Auf Lieferverträge ist hingegen nur ein Teil des Gesetzes anwendbar; insbesondere die Regelungen zur Tariftreue und zum Mindestlohn gelten hier nicht. Grundsätzlich sind aber alle öffentlichen Auftraggeber i.S.d. § 98 GWB im Land Nordrhein-Westfalen vom Gesetz erfasst, soweit sie nicht im Namen oder im Auftrag des Bundes oder eines anderen Bundeslandes tätig werden. Verpflichtet sind demnach nicht nur öffentlich-rechtliche Körperschaften, sondern auch private Gesellschaften, die öffentlich finanziert oder in sonstiger Weise dominiert sind, z. B. privat-rechtlich organisierte Stadtwerke. Ein Teil der Regelung gilt nur für Aufträge ab einem geschätzten Auftragswert (ohne Umsatzsteuer) von 20.000,00 €. Die allgemeinen Vergaberechtsgrundsätze und die Tariftreuepflicht nach § 4 Abs. 1 TVgG NRW gelten jedoch auch für Aufträge unterhalb dieser Schwelle.

Tariftreuepflicht

Nach § 4 Abs. 1 TVgG NRW müssen die öffentlichen Auftraggeber im Rahmen des Vergabeverfahrens von den Unternehmen eine Erklärung abfordern, in der diese sich schriftlich zur Einhaltung allgemein verbindlicher Mindestarbeitsbedingungen verpflichten. Dies betrifft insbesondere Mindestarbeitsbedingungen in für allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträgen (§ 5 Tarifvertragsgesetz – TVG) oder einer nach §§ 7 oder 11 des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes (AEntG) vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales erlassenen Rechtsverordnung. Gleiches gilt für Mindestentgelte nach dem Mindestarbeitsbedingungengesetz (MiArbG). Die Pflicht zur Einhaltung dieser Mindestbedingungen ergibt sich nicht unmittelbar, sondern aus dem TVG, einer Rechtsverordnung nach dem AEntG bzw. MiArbG. Sie wird nun mittelbar durch § 4 Abs. 1 TVgG NRW zusätzlich für die Beschaffung in Nordrhein-Westfalen gefordert, indem sie zum Kriterium für die Vergabe öffentlicher Aufträge erhoben wird. Da die Einhaltung der vorgenannten Mindestarbeitsbedingungen auch im privaten Sektor zwingend ist, dürfte die Regelung insoweit mit der Rechtsprechung des EuGH zu Tariftreuevorgaben in Einklang stehen: Der EuGH hatte in der Rechtssache „Rüffert“ entschieden, dass nur für Vergaben öffentlicher Aufträge geltende Tariftreueregelungen im Bausektor gegen die Arbeitnehmer-Entsenderichtlinie der EU verstoßen.

Mindestlohn

Das Gesetz geht jedoch über die Festlegung einer Tariftreue hinaus, indem es für öffentliche Aufträge über Leistungen, die nicht den Vorgaben zur Tariftreue unterliegen, die Erklärung der Bieter fordert, ein Mindeststundenentgelt von 8,62 € zu zahlen. Nach dem Wortlaut des § 4 Abs. 3 TVgG NRW gilt diese Regelung nur in den Fällen, in denen keine allgemeinverbindliche Mindestarbeitsbedingungen i.S.d. § 4 Abs. 1 TVgG NRW festgelegt sind. Die Regelungsbereiche überschneiden sich daher dem Wortlaut nach nicht. Trotzdem regelt § 4 Abs. 4 TVgG NRW, dass in dem Fall, in dem die Vergabe eines Auftrags die Voraussetzungen sowohl der Tariftreue- als auch der Mindestlohnregelung erfüllt, die für die Beschäftigten jeweils günstigere Regelung gelten soll. Diese Kollisionsregelung läuft an sich ins Leere.

Aus den Gesetzesmaterialien ergibt sich allerdings eindeutig, dass der Gesetzgeber mit ihr ein Günstigkeitsprinzip festlegen wollte. Sein Ziel war es, im Rahmen öffentlicher Aufträge jedenfalls die Zahlung eines Mindestlohns in Höhe von 8,62 € (brutto) zu erreichen. Vor diesem Hintergrund ist nicht auszuschließen, dass Gerichte annehmen werden, der Mindestlohn nach TVgG NRW gelte in jedem Fall – also auch dann, wenn allgemeinverbindliche oder kraft Rechtsverordnung geltende Tarifregelungen einen geringeren Mindestlohn festlegen.

Allerdings ist durchaus zweifelhaft, ob die Festlegung eines Mindestlohns nur für öffentliche Aufträge mit der EU-Arbeitnehmer-Entsenderichtlinie in Einklang steht. Dies gilt jedenfalls, soweit es sich um Aufträge mit Binnenmarktrelevanz handelt. Denn der Mindestlohn gilt – weil es um Vergabebedingungen geht – nur für Beschäftigte im Rahmen eines öffentlichen Auftrags und nicht bei der Tätigkeit des Arbeitnehmers im Rahmen eines privaten Auftrags. Dies widerspricht der bereits erwähnten Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache Rüffert. Angesichts der hierdurch bewirkten Rechtsunsicherheit sollte bald eine gerichtliche Klärung herbeigeführt werden. Dies kann bei Aufträgen, deren Wert die Schwellenwerte der Vergabeverordnung (VgV) (dazu auch hier) überschreiten, im Rahmen eines Vergabenachprüfungsverfahrens geschehen. Wichtig ist, dass der (potentielle) Rechtsverstoß zuvor unverzüglich gegenüber der ausschreibenden Stelle gerügt werden muss.

Übergangsregelung

Das TVgG NRW tritt zum 01.05.2012 in Kraft. Es gilt allerdings nicht für jeden Auftrag, der ab diesem Datum geschlossen wird. Maßgeblich für die Anwendbarkeit ist, zu welchem Zeitpunkt das Vergabeverfahren begonnen wird, also in der Regel der Zeitpunkt der Bekanntmachung der Vergabeabsicht. Verfahren, die bis zum 30.04.2012 eingeleitet sind oder werden, fallen nicht unter den Anwendungsbereich des Gesetzes, auch wenn der Vertrag nach dem 01.05.2012 geschlossen wird.

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