Die EU-Plattformarbeitsrichtlinie stärkt Rechte von Plattformarbeitenden, führt eine Vermutung für deren Arbeitnehmerstatus ein und regelt den Einsatz von Algorithmen auf Plattformen.
Die EU-Plattformarbeitsrichtlinie markiert einen wichtigen Schritt in Richtung besserer rechtlicher und sozialer Absicherung von Personen, die Plattformarbeit leisten. Dabei stechen insbesondere zwei zentrale Neuerungen hervor: die gesetzliche Vermutung zugunsten einer Qualifikation dieser Personen als Arbeitnehmer* und die Regelungen zur Nutzung von Algorithmen bei der Auftragsvergabe. Diese Maßnahmen adressieren wesentliche Herausforderungen in der Plattformarbeit, werfen jedoch gleichzeitig neue rechtliche und praktische Fragen auf.
Weite Definition der „digitalen Arbeitsplattform“
Die neuen Vorgaben der EU‑Plattformarbeitsrichtlinie gelten für sog. „digitale Arbeitsplattformen“. Die Definition einer „digitalen Arbeitsplattform“ ist extrem weit gefasst. Nach Art. 2 Abs. 1 lit. a) ist darunter jede natürliche oder juristische Person zu verstehen, die eine Dienstleistung erbringt, die alle folgenden Anforderungen erfüllt:
- sie wird zumindest teilweise auf elektronischem Wege, z. B. über eine Website oder eine mobile Anwendung, aus der Ferne bereitgestellt;
- sie wird auf Verlangen eines Empfängers der Dienstleistung erbracht;
- sie umfasst als notwendigen und wesentlichen Bestandteil die Organisation der von Einzelpersonen entgeltlich geleisteten Arbeit, unabhängig davon, ob diese Arbeit online oder an einem bestimmten Ort ausgeführt wird;
- sie geht mit dem Einsatz automatisierter Beobachtungssysteme oder automatisierter Entscheidungssysteme einher.
Die Definition der digitalen Arbeitsplattformen ist sehr weit und erfasst potenziell die meisten digitalen Dienstleistungsunternehmen. Sofern die Vergabe von Arbeitsaufträgen automatisiert erfolgt, muss genau geprüft werden, ob die Richtlinie anwendbar ist. Das kann beispielsweise auch bei einem Lagerverwaltungssystem der Fall sein, bei dem Aufträge softwaregestützt an das Lagerpersonal vergeben werden. Ausdrücklich vom Anwendungsbereich ausgenommen sind Plattformen, deren Hauptzweck in der Nutzung oder im Angebot von Gütern besteht oder über die Einzelpersonen privat Waren weiterverkaufen können (Art. 2 Abs. 2).
Plattformarbeit: Die rechtliche Herausforderung der Abgrenzung von Selbstständigkeit und Arbeitnehmerschaft
Die Organisation von Dienstleistungen über digitale Plattformen – auch „Plattformarbeit“, „Gig-Economy“ oder „Crowdworking“ genannt – ist eine wachsende Arbeitsform, bei welcher Arbeitsaufträge mithilfe von Algorithmen an Einzelpersonen vermittelt werden. Dadurch können Unternehmen Aufgaben orts- und zeitunabhängig auslagern, während die Personen, die Plattformarbeit leisten, von einer erhöhten Flexibilität und einem breiteren Zugang zu Arbeitsmöglichkeiten profitieren.
Grundsätzlich kann Plattformarbeit – wie grundsätzlich nahezu alle Dienstleistungen auch – sowohl im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses als auch in selbstständiger Form ausgeübt werden. Die Unterscheidung zwischen beiden Beschäftigungsformen ist jedoch oftmals komplex und es verbleiben Graubereiche.
Im deutschen Arbeitsrecht wird die Arbeitnehmereigenschaft durch § 611a BGB und § 7 SGB IV geregelt. Dabei spielen Kriterien wie persönliche Abhängigkeit, Weisungsgebundenheit und die Eingliederung in die betriebliche Arbeitsorganisation des Auftraggebers eine entscheidende Rolle. Bei der Bewertung ist stets eine Gesamtbetrachtung erforderlich. So entschied das BAG in der sogenannten Crowdworker – Entscheidung (BAG, Urteil v. 1. Dezember 2020 – 9 AZR 102/20) – dass es für das Merkmal der Weisungsgebundenheit jedenfalls ausreiche, dass der Auftragnehmer in ein System eingebunden ist, welches ihn faktisch zu kontinuierlicher Arbeit nach präzisen Vorgaben anleitet. Dieses Urteil verdeutlicht, dass digitale Arbeitsformen, wie sie in der Plattformökonomie verbreitet sind, ebenfalls unter die klassischen arbeitsrechtlichen Kriterien fallen können.
Dabei bestätigt sich, dass die Einordnung digitaler Arbeitsverhältnisse nicht nur von der formalen Vertragsgestaltung abhängt, sondern insbesondere von der konkreten Umsetzung und den tatsächlichen Arbeitsbedingungen. Aus diesem Grund entschied sich der deutsche Gesetzgeber bewusst gegen die Einführung einer gesetzlichen Vermutung bei der Definition des Arbeitnehmerbegriffs in § 611a BGB wie sie ursprünglich im Referentenentwurf vorgesehen war. Auch die Einführung einer Vermutungsregelung in § 7 Abs. 4 SGB IV a.F. erwies sich als so fehleranfällig, dass sie nach kurzer Zeit wieder aufgehoben wurde.
Bei Plattformarbeit ist die Abgrenzung zwischen Selbstständigkeit und Arbeitnehmereigenschaft besonders anspruchsvoll, da hierbei die Beschäftigungsformen oft hybride oder atypische Merkmale aufweisen und eine Vielfalt an Modellen und Gestaltungsformen existiert. Das führt in der Praxis zu einer hohen rechtlichen Unsicherheit für Unternehmen und Personen, die Plattformarbeit leisten.
Die EU-Plattformarbeitsrichtline führt eine gesetzliche Vermutung zugunsten der Arbeitnehmereigenschaft ein
Auf dieses Problem wurde auch die Europäische Kommission aufmerksam und stellte bereits im Dezember 2021 die EU-Plattformarbeitsrichtlinie vor. Nach intensiven Diskussionen und Änderungen wurde die finale Version am 11. November 2024 im Amtsblatt der EU veröffentlicht. Die Mitgliedstaaten sind jetzt verpflichtet, die EU-Plattformarbeitsrichtlinie bis zum 2. Dezember 2026 in nationales Recht umzusetzen.
Ziel der Richtlinie ist es, die Zuordnung zu einer Beschäftigungsform durch einen Vermutungstatbestand in Art. 5 Abs. 1 zugunsten der Arbeitnehmereigenschaft unionsrechtlich zu regeln:
Es wird gesetzlich vermutet, dass das Vertragsverhältnis zwischen einer digitalen Arbeitsplattform und einer Person, die Plattformarbeit über diese Plattform leistet, ein Arbeitsverhältnis ist, wenn gemäß den nationalen Rechtsvorschriften, Kollektiv- bzw. Tarifverträgen oder den Gepflogenheiten der Mitgliedstaaten und unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Gerichtshofs Tatsachen, die auf Steuerung und Kontrolle hindeuten, vorliegen. Möchte die digitale Arbeitsplattform die gesetzliche Vermutung widerlegen, hat sie zu beweisen, dass das betreffende Vertragsverhältnis kein Arbeitsverhältnis im Sinne der in den Mitgliedstaaten geltenden Rechtsvorschriften, Kollektiv- bzw. Tarifverträge oder Gepflogenheiten ist, wobei die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu berücksichtigen ist.
Der Vermutungstatbestand liegt demnach vor, wenn objektive Tatsachen darauf hindeuten, dass eine „Kontrolle und Steuerung“ gegeben ist.
- Steuerung wird dabei durch eine weisungsgebundene Tätigkeit des Arbeitnehmers gekennzeichnet. Dies kann nicht nur klassische Arbeitsverhältnisse umfassen, sondern auch freie Dienst- und Werkvertragsverhältnisse sowie Verträge mit Angehörigen freier Berufe einschließen.
- Kontrolle ist in jedem Mechanismus zur Leistungsbewertung zu sehen. Dies kann sowohl durch formalisierte Kontrollstrukturen als auch durch Bewertungs- und Feedbacksysteme erfolgen, selbst wenn diese ausschließlich der Rückmeldung dienen und keine unmittelbaren rechtlichen oder disziplinarischen Konsequenzen nach sich ziehen.
Dadurch wird deutlich: die Merkmale „Kontrolle und Steuerung“ sind nicht geeignet, die Zuordnung zu einer Beschäftigungsform zu erleichtern. Der weit gefasste Wortlaut der Vermutung soll sicherstellen, dass auch subtile oder indirekte Formen von Kontrolle und Steuerung erfasst werden. Allerdings birgt dies die Gefahr, dass keine ausreichende Differenzierung zwischen verschiedenen Beschäftigungsformen vorgenommen wird. Es fehlt somit eine klare Filterfunktion, um spezifische Konstellationen, wie rein selbstständige Tätigkeiten ohne relevante Steuerung oder Kontrolle, eindeutig auszuschließen. Die EU – Plattformarbeitsrichtlinie setzt damit unionsrechtlich einen Standard, der weit über klassische Arbeitnehmerkonzepte hinausgeht.
Die gesetzliche Vermutung beseitigt Unsicherheiten nicht vollständig
Es bleibt fraglich, ob dieser oder überhaupt ein Vermutungstatbestand dazu geeignet ist, die bestehenden Unsicherheiten tatsächlich zu beseitigen. Statt einen verbindlichen Kriterienkatalog zu schaffen, der eindeutig definiert, ob die Vermutung greift – wie ursprünglich im Entwurf vorgesehen – überträgt der jetzige Kompromiss diese Aufgabe auf die Mitgliedstaaten. Bei der Umsetzung in deutsches Recht wird daher der Schwerpunkt darauf liegen, klare Kriterien festzulegen, die den Vermutungstatbestand auslösen und eine Person, die Plattformarbeit leistet, als Plattformbeschäftigten bzw. Arbeitnehmer einzustufen. Bereits ergangene nationale Entscheidungen zwingen Unternehmen allerdings ohnehin dazu, ihre Vertragsbedingungen und Geschäftspraktiken sorgfältig zu prüfen, um das Risiko einer Einstufung als Scheinselbstständige zu minimieren.
Greift die Vermutungsregel und kann sie von der digitalen Arbeitsplattform nicht erfolgreich widerlegt werden, gilt die Person, die Plattformarbeit leistet, als „Plattformbeschäftigter“. Die EU-Plattformarbeitsrichtlinie legt dabei die Beweislast auf die digitalen Arbeitsplattformen, die darlegen müssen, dass kein Arbeitsverhältnis im Sinne des nationalen Rechts vorliegt. Die Unsicherheit über den rechtlichen Status von Plattformarbeitenden, die durch die EU – Plattformarbeitsrichtlinie eigentlich beseitigt werden sollte, wird damit formal auf den Bereich der Widerlegung verlagert. Dies könnte im Ergebnis dazu führen, dass digitale Arbeitsplattformen gezwungen wären, in pauschaler Weise Arbeitsverträge abzuschließen. Immerhin gilt der Vermutungstatbestand nicht rückwirkend, sodass Plattformunternehmen vor der nationalen Umsetzung ihre Geschäftsmodelle anpassen können. Es zeigt sich, dass der pauschale Ansatz von Art. 5 Abs. 1 der EU-Plattformarbeitsrichtlinie der Komplexität des Arbeitnehmerbegriffs nicht gerecht wird.
Algorithmisches Management muss fair, transparent und datenschutzkonform sein
Zudem hat die EU-Plattformarbeitsrichtlinie das Ziel, Fairness, Transparenz und Verantwortlichkeit beim algorithmischen Management in der Plattformarbeit sicherzustellen. Digitale Arbeitsplattformen nutzen algorithmische Systeme unter anderem, um Prozesse wie Personalmanagement, Aufgabenverteilung und Leistungsbewertung zu automatisieren. Diese Systeme können effizient und datenbasiert Entscheidungen treffen – bergen aber auch Risiken. Insbesondere die Transparenz und Nachvollziehbarkeit der Entscheidungen und der Schutz personenbezogener Daten müssen gewährleistet werden.
Die neuen Regelungen bieten Vorteile für Plattformbeschäftigte und fördern einen menschenzentrierten Umgang mit algorithmischem Management. Plattformen dürfen beispielsweise keine besonders sensiblen Daten wie emotionale Zustände, private Gespräche oder gewerkschaftliche Aktivitäten verarbeiten, wodurch die Privatsphäre der Personen, die Plattformarbeit leisten, gestärkt wird. Das gilt selbst dann, wenn die betroffenen Personen ausdrücklich in die Verarbeitung eingewilligt haben. Darüber hinaus sorgen Transparenzvorgaben dafür, dass Beschäftigte über den Einsatz und die Funktionsweise automatisierter Überwachungs- und Entscheidungssysteme informiert werden müssen.
Besonders hervorzuheben ist die Pflicht, dass jede automatisiert getroffene Entscheidung einer menschlichen Überprüfung zugeführt werden kann. Zudem müssen die digitalen Arbeitsplattformen eine Kontaktperson benennen, mit der die Entscheidungen „erörtert und geklärt“ werden können. Wird festgestellt, dass eine Entscheidung gegen Rechte einer Person verstößt, muss die Entscheidung berichtigt und, sofern eine Berichtigung nicht möglich ist, eine „angemessene Entschädigung“ für den entstandenen Schaden gezahlt werden. Diese Regelung birg ein hohes finanzielles Risikopotenzial für betroffene Unternehmen – wird z.B. eine Praxis, die tausendfach ausgeführt wurde, von einem Gericht als rechtswidrig eingestuft, muss für jeden Verstoß eine „angemessene Entschädigung“ gezahlt werden.
Die Umsetzung der EU-Plattformarbeitsrichtlinie erfordert klare nationale Regelungen
Trotz der genannten Vorteile werfen die Regelungen erhebliche praktische und rechtliche Fragen auf. So bleibt etwa unklar, wie private und berufliche Gespräche in der Praxis voneinander abgegrenzt werden können, da viele Unterhaltungen im Arbeitskontext auch private Elemente enthalten. Solche Unklarheiten können zu Streitfällen und Interpretationsproblemen führen.
Zudem stellt die Umsetzung der Vorschriften, insbesondere die Verpflichtung zur menschlichen Überwachung, viele Plattformen vor große organisatorische Herausforderungen. Dies gilt insbesondere für global agierende Plattformen, die in mehreren Ländern tätig sind und grenzüberschreitend Daten überwachen müssen. Für kleinere Plattformen könnten die Anforderungen eine unverhältnismäßige Belastung darstellen.
Digitale Arbeitsplattformunternehmen müssen ihre Geschäftsmodelle rechtzeitig anpassen
Die EU-Plattformarbeitsrichtlinie ist ein bedeutender Schritt, um den Datenschutz für Personen, die Plattformarbeit leisten, zu stärken. Allerdings bleibt sie hinter ihrem Ziel zurück, klare rechtliche Rahmenbedingungen für die Abgrenzung zwischen Arbeitnehmer- und Selbstständigenstatus zu schaffen. Die praktische Umsetzung wird weiterhin stark von nationalen Regelungen und Gerichtsurteilen geprägt sein.
Der Vermutungstatbestand könnte dazu führen, dass Unternehmen gezwungen sind, pauschal Arbeitsverträge mit Personen abzuschließen, die Plattformarbeit leisten. Entscheidend wird sein, wie die EU-Plattformarbeitsrichtlinie in den Mitgliedstaaten konkret umgesetzt wird und welche Rechtsprechung der EuGH hierzu entwickelt.
Unternehmen sollten die Übergangszeit bis zur Umsetzung der EU-Plattformarbeitsrichtlinie nutzen, um zu überprüfen, ob sie ggf. unter den sehr weiten Anwendungsbereich der Richtlinie fallen und sodann ggf. ihre Vertragsbedingungen und Arbeitspraktiken anpassen. Nur so können sie rechtliche Risiken wie die Gefahr der Scheinselbstständigkeit frühzeitig erkennen, minimieren und langfristig rechtssichere Modelle entwickeln.
Dieser Beitrag wurde mit Unterstützung von Fr. Cora Rahel Marie van Waveren verfasst.
* Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.