5. März 2018
Musterfeststellungsklage
Dispute Resolution

Musterfeststellungsklage: „Wilder Westen“ oder alles halb so wild?

Die Große Koalition möchte die sog. Musterfeststellungsklage einführen. Verbraucher sollen künftig „kollektiv“ klagen können.

Es wurde schon viel über Massenklagen diskutiert und spekuliert: Doch was ist damit genau gemeint? Wer sind Verbraucher? Etwa nur Anspruchssteller im Zusammenhang mit dem sog. Abgasskandal? Wird in Deutschland eine Industrie der Sammelklagen vergleichbar wie im „Wilden Westen“ der USA eingeführt?

Musterfeststellungsklage in der ZPO

Festzustehen scheint, dass mit der Großen Koalition eine neue Klageart in die deutsche Zivilprozessordnung eingeführt wird, die sog. Musterfeststellungsklage. Nach dem Entwurf des Koalitionsvertrages soll die neue Klageform dazu dienen, die „Rechtsdurchsetzung für die Verbraucherinnen und Verbraucher zu verbessern“.

Diese Zielsetzung beruht auf der Erwägung, dass gerade Verbraucher im Rahmen von Massengeschäften des täglichen Lebens häufig gleich gelagerte Schäden erleiden, ohne dass es sich jedoch für den Einzelnen lohnen würde, seinen Schaden gerichtlich geltend zu machen. Für die gerichtliche Durchsetzung sei angesichts des Aufwands und des Prozesskostenrisikos der erlittene Nachteil häufig zu gering.

Die aktuelle Diskussion um Dieselfahrzeuge wird hierfür als Anschauungsbeispiel herangezogen. Sie dürfte auch der Hauptgrund sein, warum die Große Koalition die geplante Musterfeststellungsklage einführen und bis November 2018 in Gesetzesform gießen möchte.

Bis zum heutigen Tag muss jeder Kfz-Halter, der behauptet, im Zusammenhang mit dem Kauf eines Dieselautos einen Schaden erlitten zu haben, selbst vor Gericht ziehen. Dies ist zeit- und kostenaufwendig. Zudem stellt sich die Politik die Frage, ob das sinnvoll ist. Denn allen Fällen des sog. Abgasskandals liege u.a. dieselbe Frage zugrunde. Mit Hilfe der neuen Klageart würde diese Frage in einem für alle Betroffenen gleichzeitig geführten Musterprozess festgestellt, d.h. geklärt, werden (daher auch der Name „Musterfeststellungsklage“).

Das Ergebnis würde sodann bindend feststehen und damit die individuelle Anspruchsverfolgung erleichtern. Angesichts der mit der Feststellung einhergehenden Bindungs- und „Prangerwirkung“ soll – so wohl die Annahme der Großen Koalition – die Durchführung von Zweitprozessen vermieden und der Konflikt in sonstiger Weise beigelegt werden.

Anwendungsbereich unklar

Abzuwarten bleibt, ob die Musterfeststellungsklage darüber hinaus auch in anderen Bereichen eine Rolle spielen wird. Zu denken ist etwa an Fälle, in denen Unternehmen bei Verbrauchern Gebühren in Form von Kleinstbeträgen erheben, wie z.B. die Forderung von Bearbeitungsgebühren für Verbraucherkredite, Preisaufschläge im späten Stadium von Online-Käufen oder Forderungen aufgrund AGB-Klauseln in Telefon-, Strom- und Gasverträgen. Auch Ansprüche resultierend aus Massenunfällen – die Loveparade-Katastrophe oder der Germanwings-Absturz bieten hierfür ggf. tragische Beispiele aus der Vergangenheit – könnten Gegenstand von Musterfeststellungsverfahren werden.

Mit Blick auf die vorgenannten Fälle wird in der Literatur die Frage aufgeworfen, ob die geplante Beschränkung der Musterfeststellungsklage auf Verbraucher Sinn ergibt (vgl. Halfmeier, in: ZRP 2017, 201, 202). Es sei nicht ersichtlich, warum der in einem Massenunfallgeschehen geschädigte Geschäftsreisende, der kein Verbraucher im Sinne des § 13 BGB sei, nicht von der Musterfeststellungsklage profitieren könne, während dies für einen allein zu Urlaubszwecken reisenden Verbraucher möglich sein solle.

Daher fordern einige Stimmen, dass die Musterfeststellungsklage in allen Fällen Anwendung finden soll, in denen es in der juristischen Aufarbeitung um eine Vielzahl gleich gelagerter Fälle geht. Allein dies soll dem Sinn und Zweck kollektiven Rechtsschutzes entsprechen. Die Beschränkung der Musterfeststellungsklage auf Verbraucher sowie das geplante Inkrafttreten des Gesetzes noch in diesem Jahr – wie im Entwurf des Koalitionsvertrags vorgesehen – deuten indes darauf hin, dass das neue Klageverfahren speziell auf die sog. Diesel-Gate-Fälle  zugeschnitten ist.

Nur qualifizierte Einrichtungen klagebefugt

Doch was wird sich durch die Einführung der neuen Klage konkret ändern? Hat der Verbraucher überhaupt einen Vorteil davon? Welche Änderungen bringt die neue Klage für die Beklagtenseite im Musterfeststellungsprozess?

Das eigentlich „Bahnbrechende“ an der Einführung der neuen Klage ist, dass sie eine echte kollektive Klagemöglichkeit eröffnet, die der deutschen Zivilprozessordnung an sich fremd ist. Abgesehen von einzelnen Sonderfällen außerhalb der Zivilprozessordnung können in Deutschland nur Personen klagen, die sich auf Rechte berufen, die ihnen individuell und persönlich zustehen. Zu solchen Sonderfällen gehören Musterverfahren in kapitalmarktrechtlichen Streitigkeiten (KapMuG) oder Verbandsklagen nach dem Gesetz über Unterlassungsklagen bei Verbraucherrechts- und anderen Verstößen (UKlaG) und nach dem Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG),

Die Bündelung von Ansprüchen mehrerer Personen und deren kollektive Geltendmachung durch eine andere Person oder Personengruppe ist damit grundsätzlich ausgeschlossen. Dahinter steht der im deutschen Rechtssystem fest verankerte Grundsatz der sog. Abwehr von „Popularklagen“ – gemeint ist, die Durchsetzung fremder Interessen durch unbeteiligte Dritte –, was auch zur Entlastung der Justiz beitragen soll. Und das ist auch gut so.

Mit Einführung der Musterfeststellungsklage wäre dies anders: Der Entwurf des Koalitionsvertrags sieht insoweit vor, dass ausschließlich festgelegte qualifizierte Einrichtungen, angedacht sind insbesondere die Verbraucherverbände, klagebefugt sein sollen. Diese müssen glaubhaft darlegen, dass der Anspruch bzw. das Rechtsverhältnis, das es festzustellen gilt, mindestens zehn Personen, d.h. Verbraucher, betrifft. Die Betroffenen müssen sodann ihre Ansprüche in ein Klageregister anmelden. Sie sind jedoch nicht am eigentlichen Musterprozess beteiligt. Dieser wird allein durch die qualifizierte Einrichtung geführt.

Für den Betroffenen fällt daher auch nur eine geringe Gebühr (ggf. EUR 10,00) für die Anmeldung im Klageregister an. Durch die Anmeldung kann der einzelne Betroffene aber von der Musterfeststellungsklage profitieren. Zum einen wird die Verjährung seiner Ansprüche durch die Anmeldung gehemmt. Zum anderen entfaltet die Feststellung für ihn in einem etwaigen individuell geführten Anschlussprozess eine Bindungswirkung, d.h. das Gericht kann von der Feststellung des Musterprozesses nicht mehr abweichen.

Verbraucher profitiert von einfacher Rechtsdurchsetzung

Damit liegen die Vorteile für den Verbraucher auf der Hand: Durch die einmalige Anmeldung seines Anspruches riskiert er zunächst nicht die Verjährung seiner Forderung. Er kann vielmehr den Ausgang des Musterverfahrens und den konkreten Inhalt der getroffenen Feststellung abwarten. Ist die Entscheidung im Musterverfahren für den Betroffenen positiv, erwartet der Gesetzgeber wohl, dass das beklagte Unternehmen dem Betroffenen von sich aus ein Angebot unterbreitet bzw. die streitgegenständlichen Schäden angemessen reguliert. Falls nicht – etwa, weil weitere Einwendungen gegen den Anspruch bestehen – müsste jeder Betroffene einen eigenen Prozess gegen das Unternehmen anstrengen, bei dem sich dieser dann zumindest auf die getroffene Feststellung berufen kann.

Auch für die beklagten Unternehmen bringt die Einführung einer Musterfeststellungsklage weitreichende Konsequenzen mit sich. Hier ist nicht nur an die Bindungswirkung des Ausgangs der Entscheidung zu denken, sondern auch an eine mögliche „Prangerwirkung“, die bereits mit der öffentlichen Bekanntmachung der Erhebung der Musterklage im Klageregister und der Zahl der Anmeldungen von allen in gleicher Weise betroffenen Verbrauchern im Klageregister einhergeht. Ob sich betroffene Unternehmen dadurch bereits im außergerichtlichen Stadium verhandlungsbereit zeigen werden, bleibt abzuwarten.

Im Ergebnis kann festgehalten werden, dass sich die Rechtsdurchsetzungsmöglichkeiten durch das Instrument der Musterfeststellungsklage für den Verbraucher insgesamt verbessern werden. Die Musterfeststellungsklage erweitert die Möglichkeiten der Anspruchsverfolgung des Verbrauchers. Dem Einzelnen bleibt es nämlich wohl unbenommen, seine Forderung von Anfang an – wie bisher auch – im Wege der Individualklage geltend zu machen.

Keine Sammelklagen wie in den USA zu befürchten

In der konkreten Ausgestaltung geht die Musterfeststellungsklage wiederum nicht so weit, dass sie zu vergleichbaren (Klage-)Zuständen führen wird wie im „Wilden Westen“. Dafür unterscheidet sich die angestrebte deutsche Musterfeststellungsklage zu sehr von dem Konzept der Sammelklage in den USA. Bei der amerikanischen „class action“ genügt es allein schon, Mitglied der Gruppe („class“) zu sein, um von den Wirkungen der Entscheidung zu profitieren. Außerdem ist dort keine Beschränkung der Klagebefugnis auf qualifizierte Einrichtungen vorgesehen.

Für den Verbraucher werden daher auch nach der Einführung einer Sammelklage in das deutsche Zivilprozessrecht rechtliche Hürden der Anspruchsdurchsetzung verbleiben, insbesondere, weil ein individueller Prozess im Anschluss an das Musterverfahren nicht entbehrlich werden wird, wenn sich die Parteien nicht einigen.

Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob das vorgesehene zweistufige Verfahren – Musterfeststellungsklage und darauf basierende individuelle Anspruchsverfolgung – nicht im Ergebnis sogar zu einer Erschwerung der Rechtsdurchsetzung führt. Dies könnte der Fall sein, wenn sich die Tatsachen- und Beweislage im Rahmen des individuellen Prozesses nach einem möglicherweise langjährigen Musterverfahren durch alle Instanzen zu Lasten des Verbrauchers verschlechtert hat.

Es bleibt abzuwarten, ob und in welcher Form der Gesetzgeber all diese Aspekte im Rahmen der angestrebten Gesetzesänderung berücksichtigen wird.

Unsere Beitragsreihe informiert rund um die Pläne der GroKo in den verschiedenen Rechtsbereichen. Bereits erschienen sind Beiträge zu den allgemeinen Änderungen im Arbeitsrecht sowie speziell zur Zeitarbeit, zu den Auswirkungen der geplanten Einschränkung sachgrundloser Befristungen, zum Recht auf befristete Teilzeit und zu den Änderungen hinsichtlich flexibler und mobiler Arbeitsgestaltung. Weiter ging es mit einem Überblick über die von der GroKo im Koalitionsvertrag geplanten Maßnahmen zu den Themen Venture Capital, Start-ups und Unternehmensgründung. Wir haben einen Überblick über die Änderungspläne der GroKo im Steuerrecht gegeben sowie die Pläne einer Musterfeststellungsklage und eines Sanktionsrechts für Unternehmen beleuchtet. Neben einem Überblick übers Gesellschaftsrecht haben wir uns mit der SPE näher beschäftigt. Danach sind wir auf die Sitzverlegungsrichtlinie, die Reform des Personengesellschaftsrechts sowie die Grunderwerbsteuer bei Share Deals eingegangen. Zuletzt erschienen sind Beiträge zur Finanztransaktionsteuer und zu Änderungen im Kündigungsschutz hochbezahlter Bankangestellter.

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