Die EuGH-Urteile vom 25. April 2024 scheinen die Rechtsprechung zur Reichweite der Prüfungskompetenz des BVL durcheinander zu bringen. Bei genauer Betrachtung ändert sich aber nicht viel.
Kürzlich hat der Europäische Gerichtshof zwei Urteile zur Frage der Reichweite der Prüfungskompetenz nationaler Zulassungsbehörden und Gerichte im zonalen Zulassungsverfahren von Pflanzenschutzmitteln erlassen.
Zum zonalen Zulassungsverfahren eines Pflanzenschutzmittels
In Deutschland trifft das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (nachfolgend BVL) als nationale Zulassungsbehörde seine Zulassungsentscheidung für Deutschland auf der Grundlage der Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 (nachfolgend: PSM-VO). Die PSM-VO legt unionsweit harmonisierte Regelungen für das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln fest.
Der nationalen Zulassung eines Pflanzenschutzmittels geht ein zweistufiges Verfahren voraus: Auf europäischer Ebene werden zunächst die Wirkstoffe für Pflanzenschutzmittel genehmigt Es folgt eine nationale Zulassung der Pflanzenschutzmittel mit genehmigten Wirkstoffen.
Wie auch der Wirkstoffgenehmigung, geht der Zulassung von Pflanzenschutzmitteln eine umfangreiche wissenschaftliche Prüfung auf Grundlage von unionsweit harmonisierten Anforderungen und Leitlinien voraus. Diese Prüfung und Bewertung von Pflanzenschutzmitteln erfolgt arbeitsteilig im Rahmen eines zonalen Zulassungsverfahrens. Die EU ist dafür in drei Zonen aufgeteilt: Nord, Zentral und Süd, wobei Deutschland in der zentralen Zone ist.
Innerhalb einer Zone prüft der vom Antragsteller* ausgewählte „bewertende Mitgliedstaat“ die Zulassungsvoraussetzungen und trifft eine Zulassungsentscheidung, die sog. Referenzzulassung. Andere Mitgliedstaaten der gleichen Zone, in denen ebenfalls ein Zulassungsantrag gestellt wird, werden am Zulassungsverfahren beteiligt (sog. Concerned Member State). Gemäß Art. 36 Abs. 2 PSM-VO gewähren oder verweigern die Concerned Member State die Zulassung „auf der Grundlage der Schlussfolgerungen aus der Bewertung“ durch den bewertenden Mitgliedstaat.
Bindung an die Referenzzulassung
Ist also Deutschland an einem zonalen Zulassungsverfahren als Concerned Member State beteiligt, ist das BVL als zuständige Zulassungsbehörde für Deutschland in der Regel an die Bewertung des bewertenden Mitgliedstaats gebunden.
Nach dem in Art. 36 Abs. 1 PSM-VO verankerten Prinzip gegenseitigen Vertrauens soll sich der Concerned Member State darauf verlassen können, dass die Schlussfolgerung des prüfenden Mitgliedstaats auf einer unabhängigen, objektiven und transparenten Bewertung unter Berücksichtigung des neuesten Stands von Wissenschaft und Technik und unter Heranziehung der zum Zeitpunkt des Antrags verfügbaren Leitlinien beruht. Vor diesem Hintergrund ist ein Concerned Member State im zonalen Zulassungsverfahren an die Referenzzulassung des bewertenden Mitgliedstaates gebunden und grundsätzlich nicht berechtigt, die Zulassungsvoraussetzungen erneut zu prüfen. Nach gefestigter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts Braunschweig und des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts ist die Prüfungskompetenz des beteiligten Mitgliedstaats beschränkt und er ist nicht befugt, die Referenzzulassung auf ihre Rechtmäßigkeit zu überprüfen (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss v. 3. Juli 2023 – 10 LA 116/22; VG Braunschweig, Urteil v. 12. April 2018 – 9 A 26/16). Daraus folgt, dass die Entscheidung des Referenzmitgliedstaats in der Regel bindend für alle anderen Mitgliedstaaten derselben Zone ist.
Nach gefestigter Rechtsprechung kann die Bindungswirkung der Referenzzulassung nur in seltenen Ausnahmsfällen entfallen. Das Verwaltungsgericht Braunschweig hat insoweit entschieden, dass im nationalen Zulassungsverfahren kein Raum für eine weitergehende Überprüfung der Referenzzulassung besteht, solange sich nicht aufdrängt, dass ein Referenzmitgliedstaat die im jeweiligen Zulassungsverfahren zu beachtenden Rechtsvorschriften systematisch verletzt (VG Braunschweig, Urteil v. 12. April 2018 – 9 A 26/16; nachfolgend vgl. auch VG Braunschweig, Urteil v. 28. Mai 2020 – 9 A 151/18 und 9 A 495/17; VG Braunschweig Urteil v. 3. September 2020 – 9 A 165/18).
An das Vorliegen einer systematischen Rechtsverletzung sind hohe Anforderungen zu stellen. Denn andernfalls würde das europäische Instrument der zonalen Zulassung, das auf gegenseitigem Vertrauen und einer Vermutung der Beachtung des Unionsrechts durch die anderen Mitgliedstaaten gründet, grundlegend in Frage gestellt (vgl. VG Braunschweig, Urteil v. 30.11.2016, 9 A 28/16, Juris Rn. 22 – dort zum Verfahren der gegenseitigen Anerkennung). Vereinzelte Rechtsverstöße in einem oder einigen wenigen pflanzenschutzrechtlichen Zulassungsverfahren sind daher nicht geeignet, systematische Mängel des Zulassungsverfahrens darzulegen (VG Braunschweig, Urteil v. 30. November 2016 –9 A 27/16; VG Braunschweig, Urteil v. 30. November 2016 – 9 A 28/16; VG Braunschweig, Urteil v. 12. April 2018 – 9 A 26/16). Erforderlich ist vielmehr eine von willkürlichem Verhalten getragene Rechtsverletzung durch den prüfenden Mitgliedstaat (vgl. VG Braunschweig, Urteil v. 30. November 2016- 9 A 28/16: „von einer eigenständigen, aktuellen Bewertung des Pflanzenschutzmittels der Klägerin nicht etwa willkürlich abgesehen“).
Eine weitere Ausnahme liegt vor, wenn die Voraussetzungen von Art. 36 Abs. 3 PSM-VO vorliegen. Dies ist vor allem der Fall, wenn der Concerned Member State einen berechtigten Grund nachweist, dass ein Pflanzenschutzmittel in seinem Gebiet angesichts spezifischer ökologischer oder landwirtschaftlicher Bedingungen ein unannehmbares Risiko für die Gesundheit von Mensch und Tier oder die Umwelt darstellt.
EuGH-Urteile zur Prüfungskompetenz der beteiligten Mitgliedstaaten
Der EuGH hatte nun in der Rechtssache C-308/22 und in den verbundenen Rechtssachen C-309/22 und C-310/22 in einem Vorabentscheidungsersuchen, das vom Obersten Verwaltungsgerichtshof für Handel und Industrie, Niederlande im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Pesticide Action Network Europe (PAN Europe) und der niederländischen Zulassungsbehörde hinsichtlich der niederländischen Zulassung bestimmter Pflanzenschutzmittel, eingereicht wurde, u.a. die Regelungen der PSM-VO zur Bindungswirkung der Referenzzulassung und deren Ausnahmetatbestände auszulegen.
Konkret ging es in dem Verfahren Rs. C-308/22 entsprechend einer Vorlagefrage insbesondere darum, ob Art. 36 PSM-VO dahin auszulegen ist, dass der Concerned Member State, der nach Art. 36 Abs. 2 und Abs. 3 PSM-VO über die Zulassung eines Pflanzenschutzmittels entscheidet, von der wissenschaftlichen Risikobewertung des bewertenden Mitgliedstaats abweichen darf, wenn zur Zeit der Zulassungsentscheidung bereits neuere Erkenntnisse vorlagen.
Der EuGH hat insoweit mit seinem Urteil vom 25. April 2024 in der Rs. C-308/22 entschieden, dass ein beteiligter Mitgliedstaat von der wissenschaftlichen Bewertung des Referenzmitgliedstaats in den Fällen von Art. 36 Abs. 3 PSM-VO u.a. dann abweichen darf, wenn ihm „die zuverlässigsten wissenschaftlichen oder technischen Daten vorliegen“, die der Referenzmitgliedstaat bei der Erstellung seiner Bewertung nicht berücksichtigt hat und die ein unannehmbares Risiko für die Gesundheit von Mensch und Tier oder für die Umwelt aufzeigen.
Insoweit hat sich der EuGH insbesondere darauf gestützt, dass ein Mitgliedstaat nach Art. 29 Abs. 1 Buchst. e) PSM-VO u.a. verpflichtet sei, eine Zulassung aufzuheben, wenn er feststellt, dass das Pflanzenschutzmittel unter Berücksichtigung des neuesten Stands von Wissenschaft und Technik schädliche Auswirkungen auf die Gesundheit von Mensch oder Tier oder unannehmbare Auswirkungen auf die Umwelt im Sinne der PSM-VO hat und diese Erkenntnisse seinerzeit vom bewertenden Mitgliedstaat bewusst nicht berücksichtigt wurden. Das Gericht verweist in diesem Zusammenhang auf die dem Urteil vorausgegangenen Schlussanträge der Generalanwältin Medina, die aus dem vorstehenden schlussfolgerte, dass ein beteiligter Mitgliedstaat auch nicht verpflichtet sein könne, das Inverkehrbringen eines Pflanzenschutzmittels zuzulassen, wenn wissenschaftliche oder technische Erkenntnisse vorliegen, die ein unannehmbares Risiko für die Gesundheit von Mensch oder Tier oder für die Umwelt erkennen lassen. Weiter führt der EuGH aus, dass diese Auslegung durch das Vorsorgeprinzip und das Ziel der PSM-VO gestützt werde, ein hohes Schutzniveau für die Gesundheit von Mensch und Tier sowie für die Umwelt zu gewährleisten.
In den Urteilen zu den verbundenen Rechtssachen C-309/22 und C-310/22 hat der EuGH geurteilt, dass der die Zulassungsentscheidung treffende nationale Mitgliedstaat die zum Zeitpunkt dieser Prüfung verfügbaren einschlägigen und zuverlässigen wissenschaftlichen oder technischen Erkenntnisse zu berücksichtigen hat.
Berücksichtigung „neuester“ wissenschaftlicher Erkenntnisse
Die beiden Urteile verdeutlichen, dass Antragsteller sich im Rahmen des Zulassungsverfahrens auch mit neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen auseinandersetzen müssen. Solche Erkenntnisse, die von der Zulassungsbehörde des bewertenden Mitgliedstaats im Rahmen des Zulassungsverfahrens angeführt werden, müssen sie ggf. widerlegen, um nachzuweisen, dass ein Pflanzenschutzmittel die Zulassungsvoraussetzungen erfüllt.
Aus dem Wortlaut „zuverlässigst“ lässt sich ableiten, dass die Erkenntnisse eine gewisse Qualität haben müssen und mindestens die gleiche Qualität aufweisen müssen wie die vorherigen Erkenntnisse. Nicht jede wissenschaftliche Publikation muss daher berücksichtigt werden.
Es bleibt zukünftig dabei, dass nationale Zulassungsbehörden nur im Ausnahmefall von der Referenzzulassung abweichen dürfen
Der EuGH hat das System des zonalen Zulassungsverfahrens nicht angetastet. Im Gegenteil: Er hat bestätigt, dass dieses System im Kontext des Europarechts und vor dem Hintergrund wichtiger europäischer Prinzipien wie etwa dem Harmonisierungsgrundsatz seine Berechtigung hat. Er hat lediglich klargestellt, dass eine Zulassungsentscheidung eines bewertenden Mitgliedsstaats ausnahmsweise auch dann überprüft werden kann, wenn dieser nicht die im Zeitpunkt seiner Zulassungsentscheidung vorliegenden neuesten „zuverlässigsten“ wissenschaftlichen Erkenntnisse berücksichtigt hat. Dies dürfte das Verwaltungsgericht Braunschweig in seine gefestigte Rechtsprechung einordnen und hier einen weiteren Ausnahmefall annehmen, in dem die Referenzzulassung überprüft werden kann. Nicht entschieden hat der EuGH, ob Erkenntnisse zu berücksichtigen sind, die erst nach der Zulassungsentscheidung des bewertenden Mitgliedstaats bekannt werden. Diese Frage wird sich wohl erst in Zukunft stellen. Zunächst bleibt es also dabei, dass den Zulassungsentscheidungen der bewertenden Mitgliedstaaten Vertrauen zu schenken ist und die nationalen Zulassungsbehörden hiervon nur im Ausnahmefall abweichen dürfen.
* Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.