Im Mai 2023 hat der British High Court ein bedeutendes Urteil im Rechtsstreit der NGO ClientEarth gegen den Vorstand der Shell plc gefällt.
Obwohl die Klage nach Anhörung der Klägerin ClientEarth als unzulässig abgewiesen wurde, setzt sie die Reihe der „Klimaklagen“ fort und zeigt auf, wie wichtig es ist, dass Unternehmensleitungen den Umgang mit Klimarisiken in ihre Unternehmensstrategien integrieren.
Vorstand von Shell sollte in die Haftung genommen werden
ClientEarth hatte als Minderheitsgesellschafterin der Shell plc vor Gericht die Verletzung der dem Vorstand auferlegten Pflichten im Hinblick auf die Bekämpfung des Klimawandels durch den Vorstand (genauer: Board of Directors) der Shell geltend gemacht. Die Klage stellt damit eine weitere sogenannte „Klimaklage“ dar, mit der Besonderheit, dass nicht das Unternehmen, sondern der Vorstand selbst in die Haftung genommen werden sollte.
ClientEarth reichte die Klage gegen den Shell-Vorstand auf Basis des Companies Act 2006 ein. Dieser erlaubt es Minderheitsgesellschaftern, ein von der Gesellschaft abgeleitetes Recht im Wege der Prozessstandschaft geltend zu machen, sogenannte derivative claims (etwa vergleichbar mit der deutschen actio pro socio). In diesem Fall berief sich ClientEarth im Rahmen einer solchen Klage auf die Verletzung bestimmter im Companies Act 2006 normierter und als allgemeine Rechtsgrundsätze geltender Pflichten der Unternehmensleitung.
Die Klage knüpfte dabei an zwei maßgebliche Punkte an:
- Die Managementstrategie von Shell: ClientEarth war der Ansicht, dass die Klimarisiken und ihre Bewältigung in der Managementstrategie des Unternehmens unzureichend adressiert wurden.
- Das niederländische Gerichtsurteil des Bezirksgericht Den Haag (2021): ClientEarth behauptete, dass der Shell-Vorstand pflichtwidrig das Urteil eines niederländischen Gerichts nicht umgesetzt habe, das die Unternehmensstrategie von Shell im Hinblick auf die Klimaziele für die gesamte Shell-Gruppe als unzureichend bewertet hatte. In diesem Zusammenhang müsse Shell seine Emissionen bis 2030 um netto 45% gegenüber 2019 reduzieren.
Mit der Klage von ClientEarth wurden mehrere Ziele verfolgt: Zum einen beantragte ClientEarth die Feststellung, dass eine Pflichtverletzung der Vorstandsmitglieder im Sinne des Companies Act 2006 vorliegt. Zum anderen strebte ClientEarth den Erlass einer einstweiligen Verfügung an, die die Vorstandsmitglieder von Shell verpflichten sollte, eine (fortgeschriebene) Strategie zum Umgang mit und der Steuerung von Klimarisiken (auch: Klimarisikomanagement) zu erarbeiten und umzusetzen und das oben erwähnte niederländische Urteil zu befolgen.
Die rechtlichen Grundlagen: Companies Act 2006
Die Ziffern 170 ff. des Companies Act 2006 regeln die Pflichten des Vorstands (Directors) im britischen Unternehmensrecht. Zentral für den vorliegenden Fall sind die Ziffern 172 und 174:
Ziffer 172 verpflichtet Vorstandsmitglieder, im guten Glauben so zu handeln, dass sie den Erfolg des Unternehmens zum Nutzen seiner Mitglieder als Ganzes fördern. Dabei räumt das Gesetz seinem Wortlaut nach einen bestimmten Ermessensspielraum ein (must act in the way he considers […] most likely to promote the success of the company). Die Regelung enthält außerdem einen nicht abschließenden Katalog verschiedener Faktoren, die im Rahmen dieser Handlungsmaxime zu berücksichtigen sind. Hierzu gehören, neben den langfristigen Konsequenzen des unternehmerischen Handelns, den Mitarbeiterinteressen und Geschäftsbeziehungen auch die Auswirkungen des Geschäftsbetriebs auf Gemeinschaft und Umwelt.
Ziffer 174 legt die Pflicht der Direktoren fest, angemessene Sorgfalt, Fertigkeit und Gewissenhaftigkeit (reasonable care, skill and diligence) an den Tag zu legen. Dieser Maßstab wird einerseits objektiv an generellem Wissen, Sachverstand und Erfahrung gemessen, die vernünftigerweise von einer ein solches Amt bekleidenden Person erwartet werden kann. Andererseits spielen auch subjektive Faktoren wie generelles Wissen, Sachverstand und tatsächlich vorhandene Erfahrung eine Rolle.
Die Argumente von ClientEarth: Mangelnde Einhaltung der Klimarisikostrategie
Die Klägerin argumentierte, dass die bestehenden Maßnahmen von Shell zur Bewältigung ihrer Klimarisiken unzureichend seien und die Unternehmensführung dadurch ihre Pflichten verletzt habe, wie sie im Companies Act 2006 festgelegt sind.
Für das Verständnis und den daraus resultierenden Umfang dieser Pflichten verwies ClientEarth auf die durch den Vorstand beschlossene „Energy Transition Strategy“ (2021): die Erreichung von Netto-Null-Emissionen bis 2050 und die Selbstverpflichtung zur Einhaltung der Ziele des Übereinkommens von Paris. ClientEarth berief sich dabei nicht nur auf eine grundsätzliche Pflicht zum Klimarisikomanagement, sondern formulierte verschiedene abgeleitete Pflichten, wie die Verpflichtung, Klimarisiken auf Grundlage eines vernünftigen wissenschaftlichen Konsenses zu bewerten, diesen angemessenes Gewicht beizumessen und angemessene Maßnahmen zu ergreifen oder die Verpflichtung, die Risiken für die langfristige finanzielle Rentabilität und Widerstandsfähigkeit des Unternehmens beim Übergang der weltweiten Energiewende in ein mit dem 1,5°C-Ziel zu vereinbarendes System zu mindern.
Vor diesem Hintergrund habe der Vorstand in dreierlei Hinsicht gegen geltendes Recht verstoßen: Er habe weder angemessene Ziele zur Erreichung des 1,5°C-Ziels im Rahmen des Pariser Übereinkommens festgelegt, noch Mittel ergriffen, um die im Rahmen der Energy Transition Strategy selbstgesteckten Ziele zu erreichen. Außerdem habe er in Kenntnis des erwähnten niederländischen Urteils keine Maßnahmen ergriffen, um dem Urteil nachzukommen, was gegen den allgemeinen Rechtsgrundsatz verstoße, rechtskräftig ergangene Urteile zu befolgen.
British High Court erklärt die Klage für unzulässig: Ermessensspielraum verkannt
Das Gericht wies die Klage von ClientEarth zurück und erklärte sie für unzulässig (British High Court of Justice, Urteil v. 12. Mai 2023 – [2023] EWHC 1137). Es stellte fest, dass es an dem (für die derivative claims erforderlichen) Nachweis des ersten Anscheins (prima facie test) fehlte, und dass die Beweise für die Behauptungen von ClientEarth nicht ausreichten, um die Pflichtverletzung des Vorstands zu belegen.
Für die Zulässigkeit der Klage sei es – gewissermaßen im Sinne eines Rechtsschutzbedürfnisses – erforderlich gewesen einen prima facie case nachzuweisen. Gemessen an diesem Maßstab sei es der Klägerin nicht gelungen, darzulegen, dass der Shell-Vorstand das „Klimarisiko“ bei der strategischen Ausrichtung des Unternehmens nicht hinreichend berücksichtigt habe. Insbesondere sei kein ausreichender Beweis eines Experten (expert evidence) vorgelegt worden, um die Unzulänglichkeit der Klimastrategie von Shell nachzuweisen.
Das Gericht stimmte außerdem nicht mit der Auslegung der Pflichten des Companies Act 2006 durch ClientEarth überein. ClientEarth habe den den Vorstandsmitgliedern zuerkannten Ermessensspielraum verkannt: Anders als von ClientEarth dargetan, ließen sich die Pflichten des Companies Act 2006 nicht erzwingbar festlegen, sondern würden nur einen gesetzlich festgelegten Mindestinhalt wiedergeben. Das Gericht stellte klar, dass die Vorstandsmitglieder von Shell innerhalb ihres Ermessensspielraums handeln und die Unternehmensstrategie gestalten dürften. Dies schließe etwa auch die Wahl der Mittel ein, mit denen die Unternehmensstrategien verfolgt werden könnten. Verkannt habe ClientEarth weiter auch die Bedeutung des Klimaschutzes innerhalb des Pflichtenkataloges des Vorstandes: Die vielseitigen konkurrierenden Erwägungen, die der Vorstand bei der bestmöglichen Förderung des Unternehmenserfolges zum Wohle aller Anteilseigner berücksichtigen muss, stünden gleichwertig nebeneinander. Die Berücksichtigung von Klimaschutzinstrumenten würde dabei keinen Vorrang genießen.
Auch hinsichtlich des Vorwurfs, der Vorstand habe die Anordnung des niederländischen Gerichtes nicht befolgt, folgte das britische Gericht den Klägern nicht. Ein Rechtsgrund hierfür sei nicht ersichtlich, da das niederländische Gericht selbst akzeptiert habe, dass Shell nicht rechtswidrig handele. Es bliebe dem Shell-Vorstand überlassen, wie die auferlegten Reduktionsverpflichtungen zu erfüllen seien.
Client Earth legte daraufhin Berufung ein. Die Zulassung der Berufung wurde im November 2023 durch das Berufungsgericht verweigert.
Inanspruchnahme des Vorstands: Vor einem deutschen Gericht möglich?
Auch im deutschen Aktienrecht ist die sogenannte actio pro socio, also die Geltendmachung einer Klage im Namen der Gesellschaft durch den einzelnen Aktionär unter bestimmten (engen) Voraussetzungen (§ 148 AktG) möglich. Diese ist allerdings auf Ersatzansprüche gerichtet. Eine konkrete Handlung kann derweilen nicht verlangt werden. Daneben genießen Entscheidungen des Vorstands im Rahmen der Business Judgement Rule bei Abwägung der verschiedenen Unternehmensinteressen einen ähnlich weiten Ermessensspielraum und sind damit ebenfalls nur begrenzt gerichtlich überprüfbar. Übergeordnete Bedeutung dürfte demgegenüber dem Minderheitenrecht des § 122 Abs. 2 AktG zukommen: Dieses verleiht Aktionären mit einem Quorum von mindestens 5% das Recht, Ergänzungen der Tagesordnung der Hauptversammlung zu verlangen. Zwar gehört der Umgang mit Klimarisiken und gehören sonstige ESG-Belange grundsätzlich in die (alleinige) Kompetenz des Vorstands (vgl. § 119 Abs. 2 AktG). ESG-Themen können aber im Rahmen anderer Tagesordnungspunkte thematisiert werden. Die Entwicklung dieser – unter dem Stichwort „Say-on-Climate“ auch international geführte – Diskussion und ihre Folgen für das deutsche Aktienrecht bleiben abzuwarten.
Climate Risk Management in der Unternehmensführung bleibt Herausforderung
Obwohl ClientEarth in diesem Fall den Rechtsstreit verloren hat, ist der Fall ein weiteres Beispiel für die Relevanz, Folgen und Bedeutung des Klimawandels für die Unternehmensführung. Die Nachhaltigkeit des unternehmerischen Wirtschaftens stellt sich dabei als elementarer Bestandteil der strategischen Überlegungen des Vorstandes dar und bleibt eine zentrale Herausforderung für die Unternehmensführung. Dies gilt – nicht zuletzt – in Hinblick auf die zunehmende Verrechtlichung dieser Themen (etwa durch die CSRD (Nachhaltigkeitsberichterstattungsrichtlinie) und die CSDDD (Lieferkettenrichtlinie)) sondern auch auf den anhaltenden Fokus und Druck der Öffentlichkeit, gesetzten Standards gerecht zu werden.
Der Beitrag wurde mit Unterstützung von Xenia Guenther-Lübbers erstellt.