1. März 2012
CMS

Fremde Welt vor der Haustür

Unser Münchener Kanzleistandort ist Förderer des Roland Berger Schüler-Stipendiums und  hat die Kosten für ein Stipendium übernommen. Dieter Straub berichtet von einem Projekt, das bewegt.

Gestandenen Anwälten soll es ja eigentlich nur noch selten passieren, dass man in Situationen gerät, mit denen man nur schwer umgehen kann. Als ich gebeten wurde, zusammen mit unserem Partner Dr. Seeliger Mitglied der so genannten Hauptjury der Roland Berger Stiftung zu werden, war ich zwar einigermaßen aufgeregt, ahnte aber noch nicht, wie sehr mich dieses Projekt bewegen würde. Aufgabe dieser Jury ist es, aus den bei der Roland Berger Stiftung eingegangenen 115 Bewerbungen 30 Stipendiaten für München auszuwählen. Die Roland Berger Stiftung fördert begabte, engagementbereite und lernwillige Kinder und Jugendliche aus sozial benachteiligten Familien. Ziel ist es, diesen Stipendiaten eine Ausbildung zu ermöglichen, die sie ohne Unterstützung nie erhalten würden. Jeder Stipendiat wird von einem ehrenamtlichen Mentor betreut, der als Vertrauensperson und Mittler zwischen Elternhaus, Schule und Stiftung agiert.

Vor einem informellen Kennenlernen der rund 30 Juryteilnehmer Anfang Februar hatten wir einen Leitzordner mit den Unterlagen der Kinder erhalten, die sich in unserer Jury vorstellen würden. Alleine die Lektüre der Lebensläufe war faszinierend und erschütternd zugleich. Was würde uns erwarten?

In den Geschäftsräumen von Roland Berger im Hochhaus an der Mies-van-Rohe-Straße sollte unsere Jury die Kinder kennenlernen. In München kennt jeder die durch gläserne Brücken verbundenen Doppeltürme, den Skyline Tower, am Autobahnende in Schwabing. Vom 26. Stockwerk hat man einen faszinierenden Blick über die Stadt in die Berge.

„Unser“ erstes Kind war ein 8-jähriges Mädchen, das vor eineinhalb Jahren aus dem Irak mit seinen Eltern und Geschwistern nach München kam. Die Eltern sind beide Analphabeten. Das Kind hat innerhalb eines Jahres so gut Deutsch gelernt, dass es die Hauptschule besuchen kann. Das Mädchen war aufgeweckt, interessiert, fröhlich und erzählte unbefangen von ihrem Alltag, insbesondere welche Aufgaben es innerhalb der Familie zu übernehmen hat. So muss sie u. a. auf ihre drei jüngeren Geschwister (eines davon geistig behindert) aufpassen. Eine ihr gezeigte Bildergeschichte konnte sie fantasievoll ausschmücken und fortführen. Wir waren sprachlos.

Ein achteinhalbjähriges Mädchen aus Russland, das  erst vor einem Jahr aus St. Petersburg gekommen ist, lebt mit ihrer Mutter in einem 1-Zimmer-Appartement. Der Vater blieb in Russland. Das Kind verbringt seine Nachmittage bei der Mutter, einer Klavierspielerin, im Ballett und hat selbst bereits mit Klavierspielen und Ballett angefangen. Die Ausdrucksweise war nahezu akzentfrei mit einem unglaublichen Wortschatz. Sie erzählte uns, dass sie sich für Bilder von Franz Marc und James Rizzi interessiert und konnte auf Nachfrage auch Details dazu angeben. Eigentlich war es schon fast unheimlich – das Mädchen war wie eine kleine Erwachsene und hatte sie doch ihre Kindheit erst vor sich. Dass dieses Kind hochbegabt ist, spürte man auf Anhieb, und trotzdem hätte man ihr etwas Kindlichkeit gewünscht.

Später fachsimpelte ein 9-jähriger Junge aus einer serbokroatischen Familie mit uns über die Krise beim FC Bayern und berichtete offen von seinen Schwierigkeiten in der Schule aufgrund seiner mangelhaften Deutschkenntnisse. Die Schilderungen von Gewalt und Mobbing auf dem Schulhof und wie an der Schule mit Hilfe der Lehrer und  der als Streitschlichter agierenden Mitschüler damit umgegangen wird, war ein Blick in eine fremde Welt. Das Ganze nur 3-4 km Luftlinie vom Skyline Tower entfernt im Problemviertel Hasenbergl.

Ein ebenfalls 9-jähriger Jungen aus einer bosnischen Familie  war zunächst gar nicht in der Lage, uns direkt anzusehen. Er rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Die Augen wanderten rastlos durch den Raum. Die an ihn gestellten Fragen verstand er zum Teil nicht. Uns wurde rasch klar, dass hier tiefsitzende traumatische Erlebnisse noch nicht verarbeitet waren. Nach Rücksprache mit einer der Betreuerinnen des Stipendienprogramms wurde beschlossen, dass man für diesen Jungen zunächst ein spezielles Programm zur Traumabewältigung durchführen muss, bevor er in ein Förderprogramm integriert werden könnte.

Es würde diesen Beitrag sprengen, die Schicksale der übrigen Kinder aufzuzählen. Hatten wir bis dahin doch nur den Eindruck von den Kindern, die sich in unserer Jury vorgestellt hatten. Was wir dann von den anderen Jurymitgliedern hörten, mit welchen persönlichen Schicksalen sie konfrontiert wurden, war anrührend und bewegend. Da war die Rede von einem 17-jährigen Afghanen, der auf abenteuerlichen  Wegen nach dem Tod seiner Eltern es geschafft hatte, sich ganz alleine nach München durchzuschlagen, dort in einem Heim für Asylbewerber untergekommen war und nun die Realschule besuchte. Er hatte sich innerhalb eines Jahres selbst Deutsch beigebracht und wurde von seinen Lehrern als einer der Klassenbesten für das Roland Berger Schüler-Stipendium vorgeschlagen. In dem Bewusstsein, bei jedem der Ausgewählten den Grundstein für eine gesicherte Ausbildung zu legen, wurden die Stipendiaten der Reihe nach besprochen. Gleichzeitig blieb ein ungutes Gefühl, dass man die vielen anderen engagierten und hilfebedürftigen Kinder nicht berücksichtigen konnte, da letztlich nur 30 Plätze zur Verfügung standen. Herr Berger bedankte sich bei jedem einzelnen Jurymitglied für das Engagement.

Die 24 Stunden von Freitagabend bis Samstagabend haben sich bei mir als Erlebnis festgesetzt, das ich nicht missen möchte und das meinen Blick wieder fokussiert hat auf das, was vor unserer eigenen Haustür mitten in München passiert. Der Blick auf die Schattenseiten unserer Gesellschaft bringt auch eine höchst heilsame Neubestimmung des eigenen Standpunktes mit sich. Plötzlich werden alle anderen Probleme, die man mit sich rumschleppt, ganz unbedeutend und klein. Auch noch einige Wochen nach der Hauptjurysitzung kreisen meine Gedanken immer wieder um „unsere Stipendiaten“ und wie sie die Entscheidung, in das Programm aufgenommen worden zu sein, wohl aufgefasst haben, wie es wohl weitergeht und was im Laufe der nächsten 4-5 Jahre aus diesen Kindern wird. Wir werden es verfolgen.

Ein unvergessliches Wochenende. Ich bin stolz darauf, dass CMS München sich in diesem Projekt engagiert. Die Mitglieder der Hauptjury treffen sich wieder am 24. April 2012 in der Pinakothek der Moderne. Dort werden die 30 Stipendiaten sich noch einmal alle persönlich vorstellen und offiziell in das Programm aufgenommen. Ich bin sehr gespannt.

Die Stipendiaten der Roland Berger Stiftung betreiben hier ein eigenes Blog. Mehr über das Projekt erfahren Sie hier.

Tags: pro bono Roland Berger Stiftung Stipendiaten