Durch die Einführung der Abhilfeklage sollen parallel geführte Individualklagen künftig entbehrlich werden. Kann die neue Verbandsklage dies leisten?
Die neue Abhilfeklage ermöglicht die gebündelte Durchsetzung von Verbraucheransprüchen durch eine klageberechtigte Stelle. Neu ist, dass im Erfolgsfall die Ansprüche von Verbrauchern direkt in einem sogenannten Umsetzungsverfahren erfüllt werden, also z.B. durch Zahlung von Schadenersatz oder Erhalt von Reparaturleistungen. Um an der Klage teilzunehmen, müssen sich betroffene Verbraucher lediglich in das Verbandsklageregister anmelden, tragen aber selbst keine Kosten. Die Prozessführung, damit verbundene Anwalts- und Gerichtskosten sowie das Kostenrisiko im Fall des Unterliegens übernimmt vollständig der klagende Verband.
Durch die Möglichkeit der Anspruchsdurchsetzung ohne eigene Kosten und Aufwand soll die Abhilfeklage gerade bei Massenschäden für Verbraucher so attraktiv sein, dass eine individuelle Anspruchsverfolgung bzw. Klageerhebung entbehrlich und dadurch die Justiz entlastet wird. Konkret erhofft sich der Gesetzgeber, dass 21.000 Individualverfahren pro Jahr entfallen.
Das Verbraucherrechtedurchsetzungsgesetz (VDuG) regelt das Verhältnis von Abhilfeklage zu parallelen Individualklagen wie folgt:
Bei Anmeldung zur Abhilfeklage: Sperrwirkung für Individualklagen
Im ersten Fall ist eine Abhilfeklage rechtshängig und ein Verbraucher meldet seinen Anspruch zur Abhilfeklage an. Die Anmeldung des Verbrauchers führt dazu, dass er seinen Anspruch, soweit er denselben Streitgegenstand wie die Abhilfeklage betrifft, weder während des Abhilfeklageverfahrens noch danach im Rahmen einer Individualklage geltend machen kann. Die Abhilfeklage entfaltet Sperrwirkung, § 11 Abs. 2 VDuG.
Aussetzung von Individualklagen und Bindungswirkung der Abhilfeentscheidung
Im zweiten Fall hat der Verbraucher bereits vor Bekanntmachung der Abhilfeklage eine Individualklage erhoben. Danach erhebt ein Verband Abhilfeklage, die denselben Streitgegenstand betrifft. Der Verbraucher meldet seinen Anspruch zur Abhilfeklage an. In diesem Fall setzt das Gericht die Individualklage bis zum rechtskräftigen Urteil im Abhilfeverfahren aus, § 11 Abs. 1 VDuG. Das Urteil ist dann für die Entscheidung des Gerichts im Individualklageverfahren maßgeblich; es entfaltet Bindungswirkung, § 11 Abs. 3 VDuG.
Eine Aussetzungsmöglichkeit des mit der Individualklage befassten Gerichts besteht im Übrigen auch dann, wenn der Kläger des Individualverfahrens kein Verbraucher (oder einem Verbraucher nach § 1 Abs. 2 VDuG gleichgestellt), sondern Unternehmer ist, und die Aussetzung beantragt, § 148 Abs. 2 ZPO. Auf diese Weise sollen auch Unternehmer, die Verbrauchern nicht gleichgestellt sind und somit gemäß §§ 46 Abs. 1, 1 Abs. 2 VDuG an einer Abhilfeklage nicht teilnahmeberechtigt sind, in gewissem Umfang von der Abhilfeklage profitieren können.
Bei Nichtanmeldung zur Abhilfeklage: Parallele Individualklagen möglich
Im dritten Fall laufen Abhilfeklage und Individualklage(n) – denselben Streitgegenstand betreffend – parallel, wobei sich die in den Individualverfahren klagenden Verbraucher der Abhilfeklage nicht anschließen. In dieser Konstellation gibt es keine (Aus-)Wirkungen der Abhilfe- auf die Individualklage, insbesondere keine Sperr- oder Bindungswirkung. Dies folgt aus der Entscheidung des Gesetzgebers gegen ein Opt-out und für ein Opt-in Mechanismus im Rahmen der Anmeldung. Denn: Bei einem Opt-in müssen Verbraucher aktiv ihr Einverständnis erklären, um durch einen klagenden Verband in der Abhilfeklage repräsentiert zu sein. Das bedeutet gleichzeitig die freie Wahlmöglichkeit eines betroffenen Verbrauchers, sich gegen die Repräsentation in einer Kollektivklage zu entschieden und stattdessen individuell zu klagen.
Trotz der formell nicht gegebenen Sperr- oder Bindungswirkung in diesen Fällen, ist allerdings damit zu rechnen, dass von der Entscheidung im Abhilfeklageprozess erhebliche Präjudizwirkung für das Individualklageverfahren ausgehen wird. In parallellaufenden Individualverfahren werden Gerichte daher versuchen, eine Entscheidung so lange hinauszuzögern bis der Abhilfeklageprozess entschieden wurde. Zu beachten ist auch die Verwertungsmöglichkeit eines Sachverständigengutachtens aus dem Abhilfeklageverfahren in einem parallelen Individualverfahren gemäß § 411a ZPO, sofern es um dieselbe Beweisfrage geht. Im Hinblick auf die spätere Verwertung des Gutachtens kann das mit der Individualklage befasste Gericht das Verfahren nach § 148 Abs. 3 ZPO aussetzen.
Trotz Kostenfreiheit: Ausmaß der Nutzung der Abhilfeklage offen
Im Ergebnis reduziert sich die Zahl parallel geführter Individualverfahren nur dann, wenn sich Verbraucher zur Abhilfeklage anmelden. Für die Anmeldung sprechen vor allem die Gründe der Kostenfreiheit und die einfache, ohne Anwaltszwang mögliche Teilnahme durch Anmeldung im Verbandsklageregister.
Werden diese Argumente ausreichen, damit das Modell des kollektiven Rechtsschutzes in Form der Abhilfeklage gegenüber individuellen Möglichkeiten der Anspruchsdurchsetzung, wie etwa die Abtretung an Rechtsdienstleister oder die Inanspruchnahme von Verbraucherkanzleien, konkurrenzfähig ist?
Dagegen spricht, dass die Vorteile der Abhilfeklage im Rahmen der Anmelde-Entscheidung erst dann zum Tragen kommen, wenn betroffene Verbraucher von der Abhilfeklage überhaupt erfahren. Verbraucherverbände als klageberechtigte Stellen sind zwar gemäß § 12 Abs. 1 Nr. 1 VDuG verpflichtet, auf ihrer Internetseite über geplante und bereits erhobene Abhilfeklagen zu informieren. Ob dies ausreichen wird, um Verbraucher in großer Zahl für die Abhilfeklage zu gewinnen, bleibt abzuwarten. Denn parallel werden Rechtsdienstleister und Verbraucherkanzleien im Rahmen aufwendiger Marketingkampagnen aktiv auf Verbraucher zugehen und dafür werben, die Ansprüche durchzusetzen.
Nachteilig mit Blick auf das angestrebte Ziel der Reduzierung von parallelen Individualklagen dürfte zudem der lange Anmeldezeitraum der Abhilfeklage – gemäß § 46 Abs. 1 S. 1 VDuG bis drei Wochen nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung – sein. Die lange Anmeldefrist gibt Verbrauchern die Möglichkeit, bei sich abzeichnendem negativen Ausgang der Abhilfeklage der Bindungswirkung der negativen Abhilfeentscheidung dadurch zu entgehen, dass sie die Anmeldung nicht erklären und stattdessen individuell klagen. Im Rahmen der Individualklage besteht für einen Kläger dann aber das Risiko, dass das Gericht ein im Abhilfeklageverfahren erstattetes und für die Klägerseite negatives Gutachten nach § 411a ZPO verwerten könnte.
Abhilfeklage muss sich erst noch als „Klagetool“ für Verbraucher etablieren
Damit die Abhilfeklage ein Erfolgsmodell wird und die Justiz von der Vielzahl parallel geführter Individualklagen entlasten kann, muss sich diese erst als effizientes und wirksames „Klagetool“ etablieren. Dafür müssen Verbraucher ein Grundverständnis hinsichtlich ihrer Rechtsschutzmöglichkeiten und deren Vor- und Nachteile entwickeln, wozu es erheblicher Informationsarbeit bedarf. Andernfalls werden Verbraucher als juristische Laien die Angebote individueller und kollektiver Rechtsdurchsetzung kaum unterscheiden können.