1. September 2016
GWB, Kartellschadensersatzrichtlinie
Europarecht

Reform des Kartellschadensersatzrechts

Der erste Referentenentwurf zur Reform des GWB setzt die europäische Kartellschadensersatzrichtlinie in deutsches Recht um.

Am 1. Juli 2016 ist der lang erwartete erste Referentenentwurf zur Reform des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) veröffentlicht worden. Die 9. GWB-Novelle wird dabei die europäische Kartellschadensersatzrichtlinie [1] in deutsches Recht umsetzen. Auch wenn das bereits klägerfreundliche, deutsche Kartellschadensersatzrecht nicht revolutioniert wird, kann sich die Kartellrechtspraxis auf bedeutende Neuerungen einstellen.

Erleichterungen für Kartellopfer

Die Rechtsposition des Klägers in sog. „follow-on“-Klagen, d.h. Klagen auf Schadensersatz nachdem ein Kartellverstoß des Beklagten rechtskräftig festgestellt worden ist, wird weiter gestärkt. Die Reform erleichtert die private Durchsetzung des Kartellrechts insbesondere durch die Einführung einer (widerlegbaren) Schadensvermutung sowie durch verlängerte Verjährungsfristen.

Die Kodifizierung der Vermutung einer kartellbedingten Preiserhöhung, d.h. eines Schadenseintritts dem Grunde nach (unabhängig von der konkreten Höhe), hilft dem Geschädigten beim (üblicherweise schwierigen) Nachweis der Kausalität zwischen Kartellverstoß und Schaden. Die Vermutungsregel beruht auf (umstrittenen) wirtschaftswissenschaftlichen Studien, wonach über 90 % aller Kartelle zu Preisanstiegen führen. Bislang behalf sich die deutsche Rechtsprechung mit einem Anscheinsbeweis, der vom Gegner substantiiert „erschüttert“ werden musste.

Die kenntnisabhängige Verjährungsfrist wird von 3 auf 5 Jahre verlängert, welche zudem erst nach endgültiger Beendigung des Kartellverstoßes zu laufen beginnt. Der Zeitraum, in dem die Verjährung aufgrund kartellbehördlicher Ermittlungen gehemmt ist, verlängert sich von 6 Monaten auf ein Jahr nach rechtskräftigem Abschluss des amtlichen Verfahrens. Nicht explizit geregelt ist, ob diese Vorschriften für bereits laufende Verfahren oder nur für Klageerhebungen ab Inkrafttreten des Gesetzes gelten.

Schutz von Kronzeugenprogrammen und Herausgabe von Beweismitteln

Der Referentenentwurf bringt jedoch nicht nur Vorteile für Kartellopfer. Die Reform möchte einen Ausgleich zwischen den individuellen Interessen von Kartellgeschädigten und dem übergeordneten Ziel einer effizienten Kartellverfolgung im Interesse aller schaffen. Aus diesem Grund werden Kronzeugenerklärungen und Vergleichsvereinbarungen kategorisch von dem Recht auf Akteneinsicht ausgenommen. Die Einsichtnahme in die Verfahrensakten der Kartellermittlungen ist aber ein wesentliches Mittel, um die Erfolgsaussichten der (klageweise) Geltendmachung eigener Schadensersatzansprüche zu erörtern.

Insgesamt wird der Zugang zu Beweismitteln noch stärker als bisher vom Ermessen des Gerichts abhängen. Das Recht auf Herausgabe von Beweismitteln und die Erteilung von Auskünften besteht aus einem Geflecht von Ausnahmen (z.B. Kronzeugenerklärungen) und Abwägungen (z.B. mit Geheimhaltungsinteressen), das eine rechtssichere, praktikable Anwendung lähmt. Deutsche Gerichte halten ohnehin stark am zivilprozessualen Beibringungsgrundsatz fest und stehen umfassenden Auskunftsersuchen bekanntermaßen skeptisch gegenüber. Sie sehen darin häufig nach deutschem Recht unzulässige Ausforschungsbeweise („fishing expeditions”). Es bleibt abzuwarten, wann ein deutsches Gericht ein Beweismittel als nach neuem Recht „hinreichend genau bezeichnet“ ansieht, um den (materiellen) Anspruch auf dessen Herausgabe zu rechtfertigen. Immerhin ist dieser Anspruch nunmehr separat (und verjährungshemmend) einklagbar, so dass eine unsichere und teure Klage auf Schadensersatz nicht sofort erhoben werden muss.

Einwand der Schadensweiterwälzung

Der von Kartellanten häufig erhobene Einwand des sog. „Passing-on“ erfährt bedeutende Neuerungen. Dabei geht es um die Weiterreichung des erlittenen Schadens an die nächste Wirtschaftsstufe, so z.B. wenn der Bäcker seine Brötchenpreise anhebt, weil er kartellüberteuertes Mehl einkaufen musste. Der Schaden wird zu einem Streuschaden und landet letztlich beim Endverbraucher. Bislang lag die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen einer Schadensweiterwälzung beim Kartellanten bzw. den indirekten Abnehmern kartellierter Produkte.

Indirekte Abnehmer, die aufgrund des weitergewälzten Schadens selbst auf Schadensersatz klagen, profitieren nunmehr von einer (widerlegbaren) Weiterwälzungsvermutung zu ihren Gunsten. Weitergehend als bisher ist der direkte Abnehmer kartellierter Produkte sowohl dem indirekten Abnehmer als auch dem Kartellanten gegenüber zur Herausgabe von Beweismitteln verpflichtet, z.B. zur Offenlegung von Umsatzahlen und Preistabellen. Schließlich wird den Gerichten ermöglicht, die Höhe der Weitergabe des Preisaufschlags zu schätzen, was die Geltendmachung des „Passing-on“-Einwands weiter erleichtert.

All dies läuft dem Ziel der Reform, die private Durchsetzung des Kartellrechts zu stärken in zweierlei Hinsicht zuwider: Zum einen dürfte sich die Verfahrensdauer in Kartellschadensersatzfällen insgesamt erheblich verzögern. Zum anderen verringert sich auf dem Weg zum Endverbraucher nicht nur der einzelne Schaden, sondern gleichzeitig auch der Anreiz des Einzelnen, überhaupt Klage zu erheben. Sammelklagen nach dem Vorbild amerikanischer „class actions“ könnten diesem Effekt entgegenwirken, sind im deutschen Recht aber bislang tabu. Für Kartellschadensersatzverfahren scheint der deutsche Gesetzgeber die Einführung eines Klageregisters oder Musterfeststellungsklagen von Verbraucherverbänden zu befürworten. Der Referentenentwurf sieht derartige Neuerungen allerdings noch nicht vor, und bleibt dadurch hinter seinen eigenen Zielen zurück.

Haftung von Muttergesellschaften für Kartellverstöße ihrer Töchter

Die federführenden Ministerien konnten sich darüber hinaus nicht auf die Einführung des europäischen Konzepts der „wirtschaftlichen Einheit“ als Definition des (haftenden) Unternehmens im Kartellzivilrecht verständigen. Das Bundeswirtschaftsministerium hätte die europäische Definition gerne ins deutsche Kartellschadensersatzrecht übertragen, mit der Folge, dass Mutterunternehmen für Kartellverstöße ihrer Tochterunternehmen (auch zivilrechtlich) haftbar gewesen wären. Das Bundesjustizministerium hält demgegenüber strikt am gesellschaftsrechtlichen Trennungsprinzip fest, wonach für Verbindlichkeiten von Gläubigern nur das Gesellschaftsvermögen haftet, nicht auch das Vermögen der Gesellschafter.

Eine explizite Übernahme des europäischen Unternehmensbegriffs erfolgte daher nicht. Allerdings ermöglicht die offene Formulierung des neuen §. 33a Abs. 1 GWB eine europarechtskonforme bzw. -freundliche Auslegung durch die Gerichte. Bis zur höchstrichterlichen Klärung dieser umstrittenen (Auslegungs-)Frage ist indes mit Rechtsunsicherheit zu rechnen, die für alle Teilnehmer des Rechtsverkehrs unbefriedigend ist.

Schwer begründbar ist zudem die Differenzierung zwischen der privaten und öffentlichen Sanktionierung von Kartellverstößen. Denn im Unterschied zum Kartellzivilrecht hat die Reform die weite europäische Unternehmensdefinition in das öffentliche Kartellordnungswidrigkeitenrecht übertragen. Dies hat zur Folge, dass Mutterunternehmen zwar nicht für private Schadensersatzforderungen von Kartellgeschädigten ihrer Tochtergesellschaften haftbar gemacht werden können, gleichwohl aber für der Staatskasse zufließende Bußgelder ihrer Tochtergesellschaften.

Ausblick

Die Richtlinie ist bis zum 27. Dezember 2016 umzusetzen. Aller Voraussicht nach wird diese Umsetzungsfrist allerdings nicht eingehalten werden können. Ministerialbeamten zufolge ist nicht vor Februar 2017 mit einer Implementierung zu rechnen, so dass sich möglicherweise schwierige europarechtliche Fragen der unmittelbaren und mittelbaren Anwendbarkeit der Richtlinie stellen werden. Die 9. GWB-Novelle bleibt für die Kartellrechtspraxis auf der Agenda.

[1] Richtlinie 2014/104/EU über bestimmte Vorschriften für Schadensersatzklagen nach nationalem Recht wegen Zuwiderhandlungen gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union (ABl. L 349 vom 5.12.2014)

Tags: GWB Kartellschadensersatzrichtlinie

Frédéric Crasemann