IGH-Gutachten zu Klimapflichten: Staaten müssen handeln – mit klaren Folgen für Unternehmen, deren Klimaverantwortung stärker justiziabel wird.
Am 23. Juli 2025 hat der Internationale Gerichtshof (IGH) – das oberste Rechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen – ein wegweisendes Gutachten zu den völkerrechtlichen Pflichten von Staaten im Zusammenhang mit dem Klimawandel veröffentlicht.
Der Gerichtshof stellte klar, dass der Schutz des Klimasystems und der Umwelt vor menschengemachten Treibhausgasemissionen eine Verpflichtung gegenüber der gesamten internationalen Gemeinschaft (erga omnes) darstellt.
Das Gutachten enthält weitreichende Aussagen – nicht nur mit Blick auf die Staatenverantwortung, sondern auch mit Folgewirkungen für die Geschäftstätigkeit von Unternehmen. Es hat das Potenzial, die Auslegung und Anwendung internationaler Rechtsnormen im Bereich Klimawandel und Umweltschutz maßgeblich zu prägen und könnte damit den Rechtsrahmen weltweit nachhaltig beeinflussen. Mit dem Gutachten fügt sich der IGH in eine wachsende Reihe internationaler Entscheidungen ein, die auf eine verstärkte rechtliche Kontrolle des Klimaverhaltens von Staaten und zunehmend auch von Unternehmen hindeuten.
Ausgangspunkt: Anfrage der UN-Generalversammlung
Das Gutachten basiert auf einem Ersuchen der UN-Generalversammlung an den IGH (Resolution 77/276), das zwei zentrale Fragen aufwarf:
- Welche internationalen Pflichten haben Staaten zum Schutz des Klimasystems vor anthropogenen Treibhausgasemissionen, um die Lebensgrundlagen heutiger und künftiger Generationen zu sichern?
- Welche rechtlichen Konsequenzen ergeben sich, wenn ein Staat durch sein Handeln oder Unterlassen erhebliche Klimaschäden verursacht – insbesondere mit Blick auf kleine Inselstaaten und betroffene Bevölkerungen?
Als Rechtsgrundlagen wurden unter anderem die UN-Charta, der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte sowie das Pariser Klimaabkommen in Bezug genommen. Die mündlichen Verhandlungen, die im Dezember 2024 in Den Haag ihren Auftakt nahmen, vereinten eine breite Staatengemeinschaft und internationale Organisationen – von besonders gefährdeten Inselstaaten bis hin zu großen Emittenten wie führenden Wirtschaftsmächten. Zahlreiche Staaten, Zusammenschlüsse und Fachgremien nutzten die Gelegenheit, ihre Rechtsauffassungen und wissenschaftlichen Analysen einzubringen. Das Gericht ließ dabei auch Beiträge unter breiter Einbeziehung wissenschaftlicher Expertise zu, um die komplexen naturwissenschaftlichen Grundlagen und die vielschichtigen Folgen des Klimawandels umfassend in die rechtliche Bewertung einfließen zu lassen.
Der IGH bejaht im Ergebnis nicht nur die Zuständigkeit zur Beantwortung dieser Fragen, sondern liefert ein Gutachten mit bemerkenswerter Klarheit.
Der Maßstab: Sorgfaltspflicht, Kooperation und Schutzpflichten
Zentral ist nach Ansicht des IGH die Pflicht zur Verhinderung erheblicher Umweltschäden, die sich aus dem Völkergewohnheitsrecht ergibt. Diese Verpflichtung gilt auch für das Klimasystem – trotz der diffusen grenzüberschreitenden Ursachen des Klimawandels. Staaten müssen demnach mit gebotener Sorgfalt handeln und ihre nationalen Beiträge (NDCs) unter dem Pariser Übereinkommen nicht nur formulieren, sondern effektiv umsetzen.
Daneben bestätigt der IGH die Pflicht zur internationalen Zusammenarbeit, einschließlich finanzieller und technologischer Unterstützung. Auch betont er die Anforderungen aus Menschenrechten – etwa das Recht auf Leben, Gesundheit und eine saubere Umwelt.
Der Gerichtshof betont dabei: Die Einhaltung dieser Pflichten ist nicht allein politisch, sondern auch rechtlich relevant.
Rechtsfolgen: Verletzung zieht Verantwortung nach sich
Für den Fall einer Verletzung dieser Verpflichtungen verweist der IGH auf das System der Staatenverantwortlichkeit. Dazu zählen:
- Leistungspflichten,
- Unterlassungsverpflichtungen und
- Wiedergutmachung, etwa in Form von Entschädigung oder Genugtuung, vorausgesetzt, es besteht ein hinreichend direkter und bestimmter Kausalzusammenhang zwischen der völkerrechtswidrigen Handlung oder Unterlassung und dem Schaden – ein Maßstab, den der IGH bewusst flexibel auf Klimaschäden anwendet.
Zwar enthält das Gutachten keine bindende Entscheidung – seine Argumentation entfaltet jedoch rechtliche Signalwirkung.
Unternehmen im Blick: Pflichtenumsetzung auf nationaler Ebene
Auch wenn das Gutachten völkerrechtlich ausschließlich an Staaten adressiert ist, entfaltet es mittelbare Wirkung auf Wirtschaftsakteure. Nationale Gesetzgeber, Behörden und Gerichte werden sich bei der Fortentwicklung und Anwendung bestehender Rechtsnormen – etwa im Umwelt- und Klimaschutzrecht oder bei unternehmerischen Sorgfaltspflichten – an den vom IGH entwickelten Maßstäben orientieren. Zugleich wird die IGH-Stellungnahme vielfach so verstanden, dass Staaten gehalten sind, private Akteure wirksamer zu regulieren – ein Signal für spürbar schärfere sektorspezifische Vorgaben.
Die vom IGH herausgearbeiteten Maßstäbe – insbesondere der Vorsorgegrundsatz und die Pflicht zur Vermeidung erheblicher Klimaschäden – dürften zukünftig in gerichtlichen Verfahren als Orientierung für die Bewertung unternehmerischen Handelns dienen. Damit steigt nicht nur mittelbar das Haftungsrisiko, sondern auch die Wahrscheinlichkeit, dass selbstgesetzte Klimaziele zu rechtlich einklagbaren Standards werden. In der Folge ist mit mehr Verfahren gegen Unternehmen zu rechnen – von Greenwashing- und Offenlegungsthemen (etwa auch prospekt- und verbraucherschutzrechtlich) bis hin zu planungs- und genehmigungsrechtlichen Angriffen auf Projekte.
Das korrespondiert mit jüngeren Entwicklungen in Deutschland: In unserem Beitrag zum Verfahren Lliuya/RWE vor dem OLG Hamm zeigen wir, wie Zivilgerichte Klimahaftung dogmatisch schärfen und justiziabel machen (zum Blogbeitrag).
Auch über das RWE-Verfahren hinaus zeichnen sich internationale Tendenzen zur rechtlichen Klimaverantwortung ab: So hat das Berufungsgericht in Den Haag im November 2024 das spektakuläre erstinstanzliche Urteil gegen Shell aufgehoben und damit einen unmittelbaren Anspruch auf weitreichende Emissionsreduktionen verneint. Zugleich hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im April 2024 im Fall KlimaSeniorinnen Schweiz eine Verletzung der EMRK durch unzureichenden Klimaschutz festgestellt – und damit die menschenrechtliche Dimension staatlicher Klimapflichten betont. Beide Entscheidungen verdeutlichen, dass die Gerichte zwar unterschiedlich akzentuieren, insgesamt aber ein klarer Trend zu verstärkter gerichtlicher Kontrolle des Klimaverhaltens von Staaten und Unternehmen erkennbar ist.
Hinzu kommt: Investoren, Aufsichtsbehörden und NGOs fordern zunehmend belastbare, konsistente und transparente Klimaberichterstattung. ESG- und Klimaversprechen geraten dadurch unter schärfere Beobachtung – sowohl in rechtlicher Hinsicht als auch im Hinblick auf Reputations- und Marktrisiken. Unternehmen, die ihre Governance- und Risikomanagementsysteme frühzeitig anpassen, können nicht nur regulatorische Anforderungen erfüllen, sondern sich auch strategische Vorteile sichern. Zudem kann proaktives Handeln den Zugang zu Klimafinanzierung, grünen Anleihen (Green Bonds) und ESG-orientierten Investoren erleichtern – und so neue Spielräume für nachhaltiges Wachstum eröffnen.
Fazit: Nicht bindend, aber rechtlich maßgeblich – und wirtschaftlich relevant
Das Gutachten ist ein Meilenstein des Klimarechts: Es ist zwar nicht rechtlich bindend, entfaltet aber erhebliche Orientierungswirkung und legt justiziable Maßstäbe an Staaten an – mit spürbaren betriebswirtschaftlichen Implikationen.
Für Unternehmen bedeutet dies: Klimaverantwortung entwickelt sich rasch zu einem festen Bestandteil eines verbindlichen Rechtsrahmens. Wer frühzeitig belastbare Governance-Strukturen, wirksames Klimarisikomanagement und transparente Berichterstattung etabliert, kann Haftungs- und Reputationsrisiken minimieren und zugleich strategische Vorteile sichern. Der internationale Druck, Klimarisiken wirksam zu steuern, wächst – und vorausschauendes Handeln wird zum entscheidenden Wettbewerbsfaktor. Wer jetzt handelt, gestaltet nicht nur den eigenen Klimapfad – sondern setzt auch Standards für die Märkte von morgen.
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