8. April 2025
Wirecard Vorstand Haftung
Dispute Resolution

Wirecard – Haftung ressortunzuständiger Vorstandsmitglieder

Der Fall Wirecard zeigt erneut die Haftungsrisiken ressortunzuständiger Vorstandsmitglieder auf.

Die Insolvenz der Wirecard AG zählt zu den spektakulärsten Unternehmenszusammenbrüchen der deutschen Wirtschaftsgeschichte. Der Fokus der medialen Berichterstattung lag auf der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des ehemaligen Vorstandsvorsitzenden Dr. Markus Braun sowie des geflüchteten Vorstandsmitglieds Jan Marsalek. Doch jenseits der Strafverfolgung lenkt der Fall Wirecard den Blick vor allem auf die Anforderungen an eine funktionierende Corporate Governance börsennotierter Unternehmen bei risikobehafteten Geschäften und verdeutlicht, welche persönlichen Haftungsrisiken insbesondere auch ressortunzuständige Vorstandsmitglieder im Rahmen ihrer Überwachungs- und Kontrollpflichten treffen.

Abschluss hochriskanter Investitionsgeschäfte durch den Vorstand

Die Wirecard AG war ein international tätiges Unternehmen im Bereich der Zahlungsdienstleistungen. Ihr Geschäftsmodell bestand darin, bargeldlose Zahlungen für Händler und Verbraucher über digitale Plattformen abzuwickeln. Nach der Aufdeckung massiver finanzieller Unregelmäßigkeiten geriet das Unternehmen im Jahr 2020 in die Insolvenz. Im Rahmen der anschließenden Ermittlungen gegen ehemalige Vorstandsmitglieder stellte sich heraus, dass mehrere Geschäfte ohne ausreichende Risikoprüfung getätigt wurden, wodurch der Wirecard AG erhebliche finanzielle Verluste entstanden sind. Im Mittelpunkt standen dabei zwei Geschäfte mit einer in Singapur ansässigen Gesellschaft (OCAP), die sich zu diesem Zeitpunkt bereits aus früheren Darlehensverträgen mit der Wirecard Unternehmensgruppe mit der Rückzahlung von EUR 2,375 Mio. in Rückstand befand. 

Am 27. März 2020 vergab die Wirecard AG auf der Grundlage eines vorausgegangenen Beschlusses des Gesamtvorstands ein ungesichertes Darlehen in Höhe von EUR 100 Mio. an die OCAP. Dieses Darlehen stand im Zusammenhang mit dem Aufbau des sog. Drittpartnergeschäftes in Asien. Dabei wird die Erbringung der Zahlungsdienstleistungen auf externe Partnerunternehmen – mit eigenen länderspezifischen Lizenzen für die Vornahme entsprechender Zahlungsdienstleistungen – ausgelagert und die von den Drittpartnern im Rahmen der Zahlungsabwicklung vereinnahmten Entgelte anteilig abgeführt. Nach mehreren anonymen Whistleblower-Schreiben und Presseberichten, wonach das Drittpartnergeschäft in Asien nicht existiere, hatte der Aufsichtsrat eine Untersuchung durch eine renommierte Wirtschaftsprüfungsgesellschaft in Auftrag gegeben. Diese Untersuchung war zum Zeitpunkt der Beschlussfassung des Vorstands und dem Abschluss des Darlehensvertrags noch nicht abgeschlossen. 

Weiterhin zeichnete die Wirecard-AG aufgrund zweier Beschlüsse des Gesamtvorstandes am 30. Dezember 2019 und 30. März 2020 Schuldverschreibungen bei der OCAP in Höhe von insgesamt EUR 100 Mio. Ein anwaltlicher Berater hatte mit E-Mail vom 19. Dezember 2019 an die Rechtsabteilung darauf hingewiesen, dass vor der Zeichnung der Schuldverschreibungen eine Financial Due Diligence durchzuführen ist. Diese E-Mail wurde auch der Beklagten zu 4) am selben Tag weitergeleitet.

Mit E-Mail vom 27. März 2020 an die Rechtsabteilung erklärte der anwaltliche Berater der Wirecard AG, dass die Verträge mit der OCAP geprüft worden und aus rein rechtlicher Sicht keine Deal-Breaker zu identifizieren seien. Er wies in dieser E-Mail aber zugleich darauf hin, dass eine üblicherweise einzuholende Risikobewertung durch einen Dritten nicht vorliege und eine eigene Einschätzung zum Ausfallrisiko nicht abgegeben werden könne. Der Leiter der Rechtsabteilung leitete diese E-Mail weiter und fasste die Ergebnisse der anwaltlichen Prüfung so zusammen, dass aus rechtlicher Sicht kein Deal-Breaker erkennbar und lediglich darauf hinzuweisen sei, dass Rückgriffsansprüche „durch das übliche, hier gewählte Konstrukt ausgeschlossen“ seien und damit ein höheres Ausfallrisiko bestünde. 

Haftung des ressortunzuständigen Vorstandsmitglieds

Nach Ansicht des LG München I haftet neben den hauptverantwortlichen und ressortverantwortlichen Vorstandsmitgliedern auch die ehemalige Chief Product Officer (die Beklagte zu 4)) für den entstandene Schaden (LG München I, Urteil v. 5. September 2024 – 5 HK O 17452/21). Sie habe gegen die ihr als ressortunzuständiges Vorstandsmitglied verbleibenden Überwachungs- und Kontrollpflichtenpflichten verstoßen, die ein Vorstandsmitglied zwingen einzugreifen, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass das zuständige Vorstandsmitglied in seinem Arbeitsbereich die Geschäfte nicht ordnungsgemäß führt.

Die fünfte Handelskammer des LG München I knüpft dabei an die ständige höchstrichterliche Rechtsprechung zur Rechtswirkung der Ressortverteilung an. Danach darf sich ein ressortunzuständiges Vorstandsmitglied  zwar im Grundsatz darauf verlassen, dass das ressortzuständige Vorstandsmitglied die ihm qua Ressortverteilung zugewiesenen Aufgaben ordnungsgemäß erfüllt. Eine gegenständliche („ressortmäßige“) Aufteilung der Geschäftsleitungsverantwortung ist insbesondere bei großen Unternehmen zur effektiven und effizienten Erfüllung der Geschäftsleitungspflichten notwendig und daher auch üblich. Allerdings verbleiben bei den ressortunzuständigenVorstandsmitgliedern stets Überwachungs- und Kontrollpflichten. Sie müssen sich über wesentliche Geschäftsvorgänge anderer Ressorts insoweit in Kenntnis setzen (lassen), dass sie diese auf ihre Plausibilität überprüfen können. Bestehen nach einer solchen Prüfung Anhaltspunkte, dass die bestreffende Geschäftsleitungsmaßnahme pflichtwidrig sein könnte, ist jedes Vorstandsmitglied verpflichtet, gegen diesen Geschäftsvorgang zu intervenieren.

Die Schwierigkeit besteht in der Praxis darin, diese – allgemeinen – Rechtssätze auszufüllen und zu entscheiden, welche Sachverhaltsaufklärung im Einzelfall für eine pflichtgemäße Plausibilisierung der Geschäftsmaßnahme erforderlich gewesen wäre und ob sich bei pflichtgemäßer Prüfung Anhaltspunkte für ein Fehlverhalten der verantwortlichen Vorstandmitglieder hätten ergeben müssen. Das LG München I sah solche Anhaltspunkte in mehrfacher Hinsicht gegeben. 

Einschränkung des Vertrauensgrundsatzes wegen zurückliegender Pflichtverletzungen 

Nach Ansicht des LG München I durfte sich die Beklagte zu 4) bereits im Ausgangspunkt nicht darauf verlassen, dass die ressortzuständigen Vorstandsmitglieder ihre Geschäftsleiterpflichten ordnungsgemäß erfüllen und die weiteren Vorstandsmitglieder ordnungsgemäß und vollständig informieren. Der Vertrauensgrundsatz schützt nicht das tatsächliche Vertrauen, sondern nur ein normativ zu bestimmendes „berechtigtes Vertrauen“. Maßgeblich dafür ist, ob objektiv Anhaltspunkte erkennbar waren, die der Vertrauensgewährung entgegenstehen und Anlass für Misstrauen geben mussten.

Anlass für Misstrauen in die Tätigkeit der ressortverantwortlichen Vorstandsmitglieder sah die Kammer vorliegend bereits deshalb gegeben, weil diese in der Vergangenheit großvolumige Kredite unter Missachtung des Zustimmungsvorbehaltes des Aufsichtsrates ausgegeben hatten. Der Abschluss dieser Darlehensverträge und die damit verbundenen Pflichtverletzungen der handelnden Vorstandsmitglieder waren zwar nicht unmittelbar Gegenstand des Urteils des LG München I. Sie wirkten sich auf den Pflichtenmaßstab der Beklagten zu 4) aber insoweit aus, als diese nach Ansicht des LG München I schwerwiegenden zurückliegenden Pflichtwidrigkeiten Anlass zu Misstrauen in die Ordnungsmäßigkeit der künftigen Geschäftsführung der ressortzuständigen Vorstandsmitglieder geben musste.

Laufende Untersuchung bzgl. des Drittpartnergeschäftes

Die Beklagte zu 4) hätte weiterhin auch deshalb nicht von der Ordnungsmäßigkeit der streitgegenständlichen Zahlungen ausgehen dürfen, weil zum Zeitpunkt der Vertragsabschlüsse eine noch nicht abgeschlossene Sonderuntersuchung in Bezug auf das – mit den auszureichenden Geldern im Zusammenhang stehende – Drittpartnergeschäft durchgeführt wurde. Dem stand nach Einschätzung des LG München I auch nicht entgegen, dass der Sonderprüfer hinsichtlich eines Teilaspektes des Untersuchungsgegenstandes zuvor erklärt hatte, dass es wahrscheinlich keine negativen Feststellungen geben werden. Der Sonderprüfer hatte insoweit nämlich auch mitgeteilt, dass andere Untersuchungsgegenstände der Sonderprüfung mangels Nachvollziehbarkeit der vorgelegten Unterlagen noch nicht abschließend geprüft und beurteilt werden könnten. Die Verdachtsmomente, die durch die Whistleblower-Schreiben und die Presseberichterstattungen hervorgerufen wurden, waren nach Ansicht des LG München I folglich nicht beseitigt und führten zu einer Intensivierung der Überwachungs- und Kontrollpflicht der Beklagten zu 4).

Pflicht zur Vertragslektüre 

Diesen gesteigerten Überwachungs- und Kontrollpflichten wurde die Beklagte zu 4) nicht gerecht. Sie war zwar – soweit ersichtlich – das einzige Verstandsmitglied, welches zumindest das Konstrukt der zu zeichnenden Schuldverschreibungen in Frage stellte und sich in einer E-Mail an Jan Marsalek beschwerte, dass es sich dabei um ein komplett verschachteltes Produkt handele und die Struktur für sie nicht nachzuvollziehen sei. Gleichwohl stimmte sie – wohl aufgrund eines beschwichtigenden Gespräches mit Herrn Marsalek – der Zeichnung der Schuldverschreibungen zu, ohne das Vertragswerk selbst gelesen zu haben. Das LG München I erklärte, dass auch ressortunzuständige Vorstandsmitglieder einem mit „erheblichen Belastungen verbundenen Vertrag“ nur bei genauer Kenntnis des Wortlauts des Vertragswerkes zustimmen dürften. Die Aussagen der Kammer exemplifizieren insoweit den allgemein anerkannten Grundsatz, dass die bloße Kundgabe von Zweifeln an der Rechtmäßigkeit einer Geschäftsmaßnahme der Überwachungs- und Kontrollpflicht nicht genügt. Vielmehr intensivieren sich in diesem Fall die Kontrollpflichten. Lassen sich die Verdachtsmomente auch nach intensiver Prüfung nicht ausräumen, verdichten sich die Kontrollpflichten zu einer Interventionspflicht. 

Verletzung der Interventionspflicht

Das LG München I nahm eine solche Interventionspflicht vorliegend an. Die Beklagte zu 4) hätte nach Überzeugung der Kammer bei pflichtgemäßer Prüfung erkennen müssen, dass die betreffenden Vorstandsbeschlüsse zur Vergabe des Darlehens bzw. zur Zeichnung der Schuldverschreibungen von der Business Judgment Rule (BJR) nicht mehr gedeckt und als pflichtwidrig zu beurteilen waren. Die BJR gewährt den Vorstandsmitgliedern in den rauen Gewässern der Organhaftung zwar einen sprichwörtlich sicheren Hafen, wenn sich ein Risiko einer unternehmerischen Entscheidung nachträglich realisiert und zum Schaden der Gesellschaft führt. Die haftungsprivilegierende Wirkung der BJR greift aber nur ein, wenn es sich um eine unternehmerische Entscheidung handelt, diese auf einer angemessenen Informationsgrundlage getroffen wurde und das handelnde Vorstandsmitglied davon ausgehen durfte, zum Wohle der Gesellschaft zu handeln. Für nicht-ressortzuständige Vorstandsmitglieder, welche die unternehmerische Entscheidung nicht selbst erarbeitet haben, sondern denen die Entscheidung nur zur Zustimmung vorgelegt wurde, wirkt sich die BJR nach allgemeinen Grundsätzen als eine Erweiterung des interventionsfreien Handlungsrahmens aus: Eine Intervention gegen die unternehmerische Entscheidung muss erst dann erfolgen, wenn diese erkennbar nicht mehr von der BJR gedeckt ist. 

Vorliegend betonte das LG München I zwar im Ausgangspunkt, dass die wirtschaftliche Zweckmäßigkeit der unternehmerischen Entscheidung nicht der gerichtlichen Kontrolle unterliege; ebenso wenig dürfe das Gericht eine eigene unternehmerische Entscheidung anstelle des Vorstands vornehmen. Der unternehmerische Handlungsspielraum sei jedoch dann überschritten, wenn aus der Sicht eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsmannes das hohe Risiko eines Schadens unabweisbar ist und keine vernünftigen geschäftlichen Gründe dafürsprechen, es dennoch einzugehen. Eine Pflichtverletzung ist nach Ansicht der Kammer deshalb insbesondere dann gegeben, wenn das Handeln gegen die in der jeweiligen Branche anerkannten Erkenntnisse und Erfahrungsgrundsätze verstößt. Der innerhalb des Bankensektors geltende Grundsatz, Kredite grundsätzlich nicht ohne übliche Sicherheiten zu gewähren, gelte auch außerhalb des Bankensektors. Die Kammer stellte daneben auch auf weitere erschwerend hinzugetretene Umstände ab. So wurden zwar frühere Darlehen von der OCAP vertragsgemäß bedient; zum Zeitpunkt der streitgegenständlichen Darlehensvergabe befand sich die OCAP aber aus anderen laufenden Darlehensverbindlichkeiten mit der Zahlung von Zinsen in Höhe von EUR 2,375 Mio. in Rückstand. Der Kredit schöpfte zudem die Liquiditätsreserven der Gesellschaft vollständig aus, worauf der Leiter der Treasury Abteilung vor Vertragsabschluss auch mahnend hingewiesen hatte. Eine völlig ungesicherte Kreditvergabe an einen finanzschwachen Vertragspartner stellte nach Ansicht des LG München I unter diesen Umständen ein unvertretbares Risiko dar und war als Verstoß gegen die Sorgfaltspflicht eines ordentlichen Geschäftsmanns zu werten. Die Beklagte zu 4) hätte dies erkennen und daher die Darlehensvergabe verhindern müssen. 

Ebenso deutlich positionierte sich das LG München I zur Pflichtwidrigkeit der gezeichneten Schuldverschreibungen. Im Vorfeld dieser Entscheidung hätte es zu den elementaren Pflichten eines jeden Vorstandsmitglieds gehört, jedenfalls aufzuklären, ob die Rückzahlungsforderungen gegen die OCAP existierten und werthaltig waren. Hierfür wäre nach Ansicht des LG München I die Durchführung einer Financial Due Diligence erforderlich gewesen, um dem objektivierten branchenüblichen Standard zu genügen. Eine umfassende Prüfung der verbrieften Forderungen sei zwingende Voraussetzung für ein solches Geschäft. Nur so könne der Vorstand ermitteln und feststellen, inwieweit die in der Schuldverschreibung verbrieften Forderungen existieren und werthaltig seien. Auf das Erfordernis einer solchen Due Diligence war die Beklagte zu 4) im Vorfeld der Beschlussfassung durch E-Mail hingewiesen worden. Daher wäre es nach Einschätzung des LG München I ihre Aufgabe gewesen, auf eine solche Due Diligence hinzuwirken.

Keine Exkulpation durch erteilten Rechtsrat  

Die Beklagte zu 4) hatte die pflichtwidrig unterlassene Intervention gegen die Darlehensvergabe und gegen die Zeichnung der Schuldverschreibungen schließlich auch zu vertreten. Sie konnte sich nach Ansicht des LG München I nicht darauf berufen, dass ihr von der Rechtsabteilung mitgeteilt worden sei, dass die anwaltlichen Berater in rechtlicher Hinsicht keine Einwände gegen den Abschluss der Schuldverschreibungen gehabt hätten. Das LG München I verwies darauf, dass ein organschaftlicher Vertreter sich nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung nur dann von seiner Haftung exkulpieren könne, wenn er darlegen und beweisen kann, dass er sich unter umfassender Darstellung der Verhältnisse der Gesellschaft und Offenlegung der erforderlichen Unterlagen von einem unabhängigen, für die zu klärende Frage fachlich qualifizierten Berufsträger beraten ließ und den erteilten Rechtsrat einer sorgfältigen Plausibilitätskontrolle unterzogen hat. 

Das LG München I betonte zwar, dass sich die Vorstandsmitglieder grundsätzlich auch auf den Rechtsrat der Rechtsabteilung verlassen dürften, da man nicht annehmen könne, dass die eigene Rechtsabteilung generell ungeeignet sei, eine unabhängige Prüfung eines bestimmten Sachverhalts durchzuführen. Die Beklagte zu 4) habe jedoch nicht hinreichend vorgetragen, dass der Rechtsabteilung keinerlei Vorgaben in Bezug auf das Ergebnis gemacht wurden und die Mitarbeiter der Rechtsabteilung daher tatsächlich unabhängig entscheiden konnten. Auch war nach Ansicht des LG München I nicht erkennbar, inwieweit die Beklagte zu 4) eine eigene Plausibilitätsprüfung vorgenommen hat. Dies gelte insbesondere, da die Beklagte zu 4) selbst vorgetragen habe, den Vertragsentwurf nicht zu kennen. Um eine Plausibilisierung vornehmen zu können, hätte sie sich nach den Urteilsgründen des LG München I nicht nur das zusammenfassende Ergebnis der Rechtsabteilung vorlegen lassen dürfen. Vielmehr sei es erforderlich gewesen, sich die vom Gutachter erstellten Unterlagen vorlegen zu lassen, da sie nur dann in der Lage gewesen sei, abzuschätzen, inwieweit der Sachverhalt von der das Gutachten erstellenden Rechtsabteilung zutreffend erfasst wurde und keine Widersprüche enthielt. 

Haftungsrisiko: „Protokollnotizen“

Das LG München I betritt mit der organhaftungsrechtlichen Aufarbeitung der Wirecard-Insolvenz kein rechtliches Neuland. Vielmehr wird der umfangreich ermittelte Sachverhalt in begrüßenswerter Ausführlichkeit und Genauigkeit unter die (höchstrichterlich) anerkannten Rechtssätze subsumiert.

Das Urteil zeigt aber eindrucksvoll, welchen umfangreichen Kontrollpflichten die Mitglieder eines mehrköpfigen Geschäftsleitungsorgans auch in den Bereichen unterliegen, für die sie nach dem internen Geschäftsverteilungsplan nicht zuständig sind. Bestehen Zweifel an der Rechtmäßigkeit einer konkreten Geschäftsleitungsmaßnahme, genügt es nicht, diese Bedenken bloß zu Protokoll zu geben. Solche „Protokollnotizen“ können dem Organmitglied in einem Haftungsprozess auf die Füße fallen und dokumentieren geradezu mustergültig, dass das Organmitglied seinen Kontrollpflichten nicht in letzter Konsequenz nachgekommen ist. 

Die Gefahr der persönlichen Haftung kann das betreffenden Organmitglied praktisch nur dadurch verhindern, dass es die Geschäftsmaßnahme eigenständig und gründlich prüft, in Ermangelung eigener Sachkunde unabhängige Berater hinzuzieht und – soweit sich die Bedenken nicht beseitigen lassen – gegen die Maßnahme interveniert, und zwar erforderlichenfalls unter Inanspruchnahme gerichtlicher Hilfe. Außerdem hat es jeden einzelnen Schritt in geeigneter Weise zu dokumentieren. 

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