20. November 2024
Barrierefreiheitsstärkungsgesetz
Commercial

Barrierefreiheitsstärkungsgesetz: Der Countdown läuft 

Ab dem 28. Juni 2025 müssen viele Produkte und Dienstleistungen barrierefrei gestaltet werden. Der Anwendungsbereich reicht vom Smartphone und Notebook bis zum Online-Shop. 

Angesichts der Vielzahl der an uns gerichteten Anfragen war es an der Zeit, unseren bereits im Jahr 2021 veröffentlichten Beitrag zu dem Thema auf den neuesten Stand zu bringen. Zudem werden wir in zwei weiteren Blog-Beiträgen die konkreten Anforderungen an Produkte und Dienstleistungen näher beleuchten.

Mit dem Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) wird die Richtlinie (EU) 2019/882 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen – auch bekannt als European Accessibility Act (kurz: EAA) – weitestgehend eins zu eins in das nationale Recht umgesetzt. 

Der EAA verpflichtet die EU-Mitgliedstaaten, bestimmte Produkte und Dienstleistungen zukünftig barrierefrei zugänglich und nutzbar zu machen. Dabei geht es letztlich um besonders wichtige alltägliche Produkte und Dienstleistungen wie Computer, Mobiltelefone, Bank- und Ticketautomaten, E-Mail-Dienste oder Online-Shops, die Menschen mit Behinderung oft schlichtweg deshalb nicht nutzen können, weil sie nicht barrierefrei sind. 

In zwei weiteren Blogbeiträgen werden wir gezielt auf die Anforderungen für Produkte und Dienstleistungen eingehen. 

Auch außerhalb von Deutschland ist die EU-weite Umsetzung des EAA in nationales Recht weitgehend abgeschlossen. Dies betrifft nicht nur die inhaltlichen Vorgaben, sondern auch die Festlegung von Sanktionen und aufsichtsbehördlichen Maßnahmen im Falle von Verstößen gegen die Anforderungen der Barrierefreiheit. Schwierigkeiten bereitet es nach unseren Erkenntnissen noch, das zur Marktüberwachung notwendige, geeignete Personal zu rekrutieren. Angesichts der anspruchsvollen inhaltlichen und technischen Vorgaben der Barrierefreiheit verwundert dies nicht. 

Barrierefreiheitsstärkungsgesetz: Übergangsfrist bis 28. Juni 2025

Von wenigen Ausnahmen abgesehen, gilt das BFSG, und im Übrigen auch die entsprechenden Umsetzungsakte in den anderen EU-Mitgliedstaaten, ab dem 28. Juni 2025. Ist der Anwendungsbereich eröffnet, müssen Produkte, die nach dem 28. Juni 2025 in Verkehr gebracht werden bzw. Dienstleistungen, die nach diesem Stichtag erbracht werden, die Barrierefreiheitsanforderungen des BFSG erfüllen. 

Soweit noch nicht geschehen, bleibt damit weniger als ein Jahr, um Produkte und Dienstleistungen so zu gestalten, dass sie die neuen Vorgaben einhalten. Nach unseren Erfahrungen sind zum Teil erhebliche Änderungen an den Produkten und Diensten notwendig. 

Was ist barrierefrei zu gestalten?

Der Anwendungsbereich des BFSG ist im Hinblick auf die erfassten Produkte und Dienstleistungen nahezu deckungsgleich mit dem der Richtlinie. Lediglich die Dienste, die Verbrauchern den Zugang zu audiovisuellen Mediendienste ermöglichen (z.B. Video-on-Demand-Dienste) sind nicht enthalten, da deren Barrierefreiheit gesondert im Medienstaatsvertrag geregelt wird. Auch ist die barrierefreie Nutzung des 112-Notrufs nicht Bestandteil des Gesetzes, da dies im TKG, genauer in der Technischen Richtlinie Notrufverbindungen (TR Notruf), geregelt werden wird. 

Das Ziel, für die alltägliche Teilhabe besonders wichtige Produkte und Dienstleistungen barrierefrei zu gestalten, hat einerseits zur Aufnahme einer großen Anzahl von Produkten und Dienstleistungen in den Anwendungsbereich geführt. Andererseits beschränkt sich das BFSG auf Verbraucherprodukte und Dienstleistungen für Verbraucher. Lediglich Zahlungs- und Selbstbedienungsterminals sind keine Verbraucherprodukte, sind aber im Zusammenhang mit den darüber erbrachten Verbraucherdienstleistungen zu sehen. 

Das BFSG umfasst unter anderem die folgenden (Verbraucher-)Produkte:

  • Computer und Notebooks
  • Tablets
  • Smartphones und Mobiltelefone
  • Geldautomaten, Fahrausweis- und Check-in-Automaten
  • Fernsehgeräte mit Internetzugang
  • E-Book-Lesegeräte
  • Router

Hinzu kommen die besagten Geldautomaten, Fahrausweis- und Check-in-Automaten.

Zudem stellt das BFSG insbesondere für die folgenden (Verbraucher-)Dienstleistungen Barrierefreiheitsanforderungen auf:

  • Telefondienste
  • Messenger-Dienste
  • Auf Mobilgeräten angebotene Dienstleistungen (inkl. Apps) und Ticketdienste im Zusammenhang mit der Personenbeförderung
  • E-Books
  • Bankdienstleistungen 
  • Elektronischer Geschäftsverkehr

Computer, Smartphones, Tablets etc.

Von den Anforderungen des BFSG sind vor allem IKT-Verbraucherprodukte betroffen: Hardware-Systeme für Verbraucher-Universalrechner, einschließlich ihrer Betriebssysteme müssen zukünftig barrierefrei gestaltet werden, wozu insbesondere PCs, Desktops, Notebooks, Smartphones und Tablets zählen. Durch die Begrenzung auf Verbraucherprodukte sind reine Geschäftscomputer von den Anforderungen grundsätzlich nicht erfasst.

Rein praktisch ist diese Unterscheidung nicht immer einfach zu treffen, da Hersteller häufig einheitliche Hardware konzipieren und dabei nicht zwischen Verbraucher- und Geräten für kommerzielle Nutzer differenzieren.

Das BFSG findet ausdrücklich auf jegliche Verbraucherendgeräte mit interaktivem Leistungsumfang, die für den Zugang zu audiovisuellen Mediendiensten oder zu Telekommunikationsdiensten verwendet werden, Anwendung. Damit sind auch Spielekonsolen, Streaming-Sticks (z.B. Amazon Fire TV Stick), sowie Tablets oder Smartphones als „Zugangs″-Produkte erfasst. Da unter den Begriff der audiovisuellen Mediendienste neben den audiovisuellen Angeboten der öffentlich-rechtlichen und privaten Fernsehanstalten auch die Video-on-Demand-Angebote von Streaming-Diensten (Netflix, Amazon Prime etc.) fallen, sind jegliche Geräte, über die solche Dienste abrufbar sind (Smart-TV, Tablet, etc.) erfasst.

Online-Shops

Die Regelungen zur Barrierefreiheit haben schließlich auch große Auswirkungen auf alle Arten des eCommerce: Das BFSG verpflichtet die Mitgliedsstaaten dazu, den gesamten Online-Handel für Verbraucher barrierefrei zu gestalten. So gelten die Barrierefreiheitsanforderungen an Dienstleistungen im elektronischen Geschäftsverkehr für den Online-Verkauf jeglicher Produkte und Dienstleistungen und erfassen jene Dienstleistungen, die über Websites oder Apps im Hinblick auf den Abschluss eines Verbrauchervertrages erbracht werden. Lediglich Kleinstunternehmen, d.h. Unternehmen, die weniger als zehn Beschäftigte und höchstens einen Jahresumsatz oder eine Jahresbilanzsumme von 2 Millionen Euro haben, sind von dieser Verpflichtung ausgenommen. 

Barrierefreiheitsanforderungen

Das BFSG legt lediglich den allgemeinen Grundsatz fest, dass die betroffenen Produkte und Dienstleistungen barrierefrei sein müssen, um auf dem Markt bereitgestellt bzw. erbracht zu werden. Nach der Definition des Gesetzes sind Produkte und Dienstleistungen barrierefrei, wenn sie für Menschen mit Behinderungen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar sind. Dazu zählt nicht nur die Barrierefreiheit des Produkts oder der Dienstleistung an sich, sondern auch, dass Menschen mit Behinderungen Zugang zu den nötigen Informationen erhalten.

In der Gesetzesbegründung wird dieses allgemeine Prinzip dahingehend ergänzt, als dass ein Produkt oder eine Dienstleistung dann als barrierefrei einzustufen ist, 

wenn eine Information über das Zwei-Sinne-Prinzip zur Verfügung gestellt wird, die Inhalte in verständlicher Weise dargestellt sind, in einer Schriftart mit angemessener Schriftgröße, in geeigneter Schriftform und Kontrast, und auf eine Weise, die die Nutzer wahrnehmen können.

Konkretisierung durch Rechtsverordnung 

Die konkret einzuhaltenden Anforderungen für die Erreichung dieser Barrierefreiheit sind nicht im BFSG selbst, sondern in der etwas später als das BFSG erlassenen Verordnung zum Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSGV) enthalten. 

Abgesehen von den eingangs erwähnten Diensten für den Zugang zu audiovisuellen Mediendiensten, beinhaltet die Verordnung die Anforderungen aus Anhang I des EAA. Ein Blick in die Verordnung lohnt sich dennoch, da die Verordnung im Vergleich zum Anhang I des EAA handhabbarer aufgebaut ist und einige Passagen verständlicher formuliert wurden.

Allerdings ist – wenig überraschend – auch die Rechtsverordnung so formuliert, dass sie nicht genau festlegt, wie die konkreten Anforderungen eingehalten werden können, sondern vielmehr darstellt, was das Ergebnis der Barrierefreiheit sein muss. So legt die BFSGV als Barrierefreiheitsanforderung (und Zielvorgabe) für die erfassten Produkte (z.B. Tablet, Smartphone) fest, dass Kommunikation, Bedienung, Information, Steuerung und Orientierung so gestaltet sein müssen, dass die Nutzung über mehr als einen sensorischen Kanal möglich ist.  

Wie die konkreten Anforderungen rein praktisch und vor allem technisch umzusetzen sind, wird in entsprechenden (technischen) Standards beschrieben werden. Nach Beauftragung durch die Europäische Kommission sind die europäischen Normungsorganisationen bereits mit der Ausarbeitung von harmonisierten Normen für die Anforderungen an die Barrierefreiheit befasst. Am wichtigsten ist sicherlich die Norm EN 301 549, die Anforderungen an die Barrierefreiheit der Informations- und Kommunikationstechnik und an entsprechende Dienste festlegt. Diese Norm wird voraussichtlich erst nach Geltungsbeginn des BFSG im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht. Geplant ist Mai 2026. Weitere nutzbare technische Vorgaben und Spezifikationen sind z.B. in den Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) enthalten. 

Barrierefreiheitsstärkungsgesetz: Betroffene Unternehmen

Als Wirtschaftsakteure von den Barrierefreiheitsanforderungen und den Pflichten des BFSG betroffen sind Hersteller, Händler und Importeure der erfassten Produkte sowie die Dienstleistungserbringer. 

So dürfen Hersteller ihre Produkte ab dem 28. Juni 2025 grundsätzlich nur noch dann in Verkehr bringen, wenn sie nach den Barrierefreiheitsanforderungen gestaltet und hergestellt worden sind, die Konformität in einem Konformitätsbewertungsverfahren nachgewiesen und eine EU-Konformitätserklärung ausgestellt, sowie die CE-Kennzeichnung angebracht wurde. 

Anders als der EAA bezieht das BFSG als „deutsche Besonderheit″ auch explizit den so genannten „Quasi-Hersteller″, d.h. die Person, die sich als Hersteller ausgibt, indem sie ein Produkt unter ihrem eigenen Namen oder ihrer eigenen Marke in den Verkehr bringt, mit ein und unterwirft ihn den originären Herstellerpflichten. 

Ausnahmeregelungen

Aus Gründen der Verhältnismäßigkeit und Innovationsfreiheit sieht das Gesetz zwei Ausnahmeregelungen vor: 

  • Zum einen gelten die Barrierefreiheitsanforderungen nur insoweit, als dass deren Einhaltung keine wesentliche Änderung des Produktes oder der Dienstleistung erfordert, die zu einer grundlegenden Veränderung der Wesensmerkmale des Produkts oder der Dienstleistung führt. 
  • Auch kommt den Barrierefreiheitsanforderungen nur insoweit Geltung zu, als dass ihre Einhaltung zu keiner unverhältnismäßigen Belastung des betroffenen Wirtschaftsakteurs führen würde. 

Die entsprechende Beurteilung dieser Ausnahmen muss der jeweils betroffene Wirtschaftsakteur, z.B. im Rahmen des Konformitätsbewertungsverfahrens, selbst vornehmen, dokumentieren und gegebenenfalls der zuständigen Marktüberwachungsbehörde mitteilen. 

Das BFSG weicht in diesem Punkt vom EAA ab und ist weniger streng ausgestaltet, da die genannten Ausnahmetatbestände unabhängig voneinander gelten und nicht wie in der Richtlinie, kumulativ vorliegen müssen.

Konformitätsbewertung und CE-Kennzeichnung

Das BFSG sieht zudem weitere Vorgaben betreffend die Kennzeichnung, Verpackung, Betriebsanleitung und Warnhinweise vor und normiert umfangreiche Vorgaben, wo und wie Informationen bereitgestellt werden müssen. Die Einhaltung der Anforderungen des BFSG ist Teil des Konformitätsbewertungsverfahrens eines Produktes. In der EU-Konformitätserklärung für das betreffende Produkt wird aber nicht das BFSG, sondern vielmehr der EAA anzugeben sein. Zudem unterliegen die dem Anwendungsbereich des BFSG unterfallenden Produkte der CE-Kennzeichnung. 

Sanktionen 

Der Verstoß gegen die Barrierefreiheitsanforderungen stellt eine bußgeldbewehrte Ordnungswidrigkeit dar (Bußgelder bis zu 100.000 EUR möglich). Die Einhaltung der Anforderungen sollen die Bundesländer im Zuge der Marktüberwachung sicherstellen. Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) soll die Koordinierung zwischen den Bundesländern sowie die Kommunikation mit der Europäischen Kommission und anderen EU-Mitgliedstaaten übernehmen. 

Die Marktüberwachungsbehörden überprüfen die Einhaltung der Regelungen des BFSG und können bei Verstößen den jeweiligen Wirtschaftsakteur dazu verpflichten, Korrekturmaßnahmen zu ergreifen oder die Bereitstellung des Produktes bzw. das Angebot oder die Erbringung auf dem deutschen Markt einzuschränken oder zu untersagen. 

Barrierefreiheitsstärkungsgesetz bringt neues Klagerecht für Verbraucher und Verbände

Zur Gewährleistung einer effektiven Rechtsverfolgung sieht das BFSG für Verbraucher zukünftig mehrere Optionen zur Rechtsdurchsetzung vor: Entsprechen Produkte oder Dienstleistungen nicht den Anforderungen der Barrierefreiheit und sind deshalb nicht oder nur sehr eingeschränkt nutzbar, können Verbraucher bei der zuständigen Landesbehörde der Marktüberwachung Maßnahmen zur Beseitigung des Verstoßes beantragen. Wird der Antrag abgelehnt, ist der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten eröffnet. Zudem sieht das BFSG auch die Option einer Verbandsklage vor. Verbraucher können sich durch einen Verband mittels Prozessvertretung vertreten lassen oder ihre Rechte von dem Verband in eigenen Namen durchsetzen lassen (so genannte Prozessstandschaft). Das BFSG schafft zudem ein eigenes Verbandsklagerecht für Verbände und qualifizierte Einrichtungen.

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