11. Juni 2021
Barrierefreiheitsstärkungsgesetz
Commercial

Barrierefreiheitsstärkungsgesetz: Neue Anforderungen an Produkte und Dienstleistungen

Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz stellt erstmals grundlegende Anforderungen an die Barrierefreiheit von Produkten und Dienstleistungen auf und wird u.a. erhebliche Auswirkungen auf Hersteller im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologie sowie den Online-Handel haben.

Mit dem Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) wird die Richtlinie (EU) 2019/882 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen – auch bekannt als sog. European Accessibility Act (kurz: EAA) – weitestgehend eins zu eins in das nationale Recht umgesetzt. Der EAA verpflichtet die EU-Mitgliedstaaten, bestimmte Produkte und Dienstleistungen zukünftig barrierefrei zugänglich und nutzbar zu machen, um so das Recht der Menschen mit Behinderung auf Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu stärken, existierende Zugangshindernisse abzubauen und der Harmonisierung des Binnenmarktes Rechnung zu tragen. 

Den Ruf nach mehr Barrierefreiheit durch eine unionsweite Vereinheitlichung der produktbezogenen Rechtsvorschriften gibt es schon lange. So wird von nationalen und europäischen Behindertenverbänden seit langer Zeit kritisiert, dass trotz der fortgeschrittenen Digitalisierung und weitreichender technischen Möglichkeiten Menschen mit Behinderung ganz alltägliche Dinge und Dienstleistungen wie Computer, Mobiltelefone, Bank- und Ticketautomaten, E-Mail-Dienste oder Onlineshops oft schlichtweg deshalb nicht nutzen, weil sie nicht barrierefrei sind. 

Dies soll sich nun ändern: Durch die Umsetzung der Richtlinie bis zum 28. Juni 2022 in nationales Recht soll erreicht werden, dass bestimmte, besonders wichtige und alltagsrelevante Produkte und Dienstleistungen unionsweit barrierefrei zugänglich werden. Menschen mit Behinderungen sollen dadurch mehr Produkte zur Verfügung stehen, damit sie u.a. nicht länger gezwungen sind, kostspielige Spezialprodukte zu erwerben. 

Barrierefreiheitsstärkungsgesetz: Übergangsfrist bis 28. Juni 2025

Die Anforderungen des BFSG sind – von bestimmten Ausnahmen abgesehen – ab dem 28. Juni 2025 anzuwenden. Produkte, die nach dem 28. Juni 2025 in Verkehr gebracht werden bzw. Dienstleistungen, die nach diesem Stichtag erbracht werden, müssen die Barrierefreiheitsanforderungen des BFSG erfüllen. Für Selbstbedienungsterminals wurde eine Übergangsfrist von 15 Jahren (bis 2040) festgelegt.

Diese – mitunter stark kritisierten – langen Übergangsfristen sind darauf zurückzuführen, dass die neuen Vorgaben zum Teil erhebliche Änderungen an den Produkten und Diensten notwendig machen. Insbesondere Hersteller von Elektronikprodukten sind gezwungen, bereits in der Entwicklungsphase ihrer Produkte die neuen Vorgaben zu berücksichtigen und entsprechende Vorkehrungen an Hardware und Software zu treffen, um durch entsprechende Gestaltung und Anpassungen den gesetzlichen Anforderungen gerecht zu werden. Um über den 28. Juni 2025 hinaus weiterhin rechtskonforme Produkte und Dienstleistungen anbieten und erbringen zu können, sollten sich die betroffenen Wirtschaftsakteure daher schon jetzt mit den Vorgaben des BFSG auseinandersetzen.

Was ist barrierefrei zu gestalten?

Der Anwendungsbereich des BFSG ist im Hinblick auf die erfassten Produkte und Dienstleistungen nahezu deckungsgleich mit dem der Richtlinie. Lediglich die Dienste, die Verbrauchern den Zugang zu audiovisuellen Mediendienste ermöglichen (z.B. Video-on-Demand-Dienste) sind nicht enthalten, da deren Barrierefreiheit gesondert im Medienstaatsvertrag geregelt wird. Auch ist die barrierefreie Nutzung des 112-Notrufs nicht Bestandteil des Gesetzes – die entsprechende Regelung wird im Rahmen der TKG-Reform in das neue Telekommunikationsmodernisierungsgesetz integriert.

Der umfangreiche Anwendungskatalog enthält ausschließlich Produkte und Dienstleistungen‚ die für Menschen mit Behinderungen als besonders wichtig eingestuft wurden. 

So erfasst das Gesetz unter anderem die folgenden Produkte:

  • Computer und Notebooks
  • Tablets
  • Smartphones und Mobiltelefone
  • Geldautomaten, Fahrausweis- und Check-in-Automaten
  • Fernsehgeräte mit Internetzugang
  • E-Book-Lesegeräte
  • Router

Zudem stellt es insbesondere für die folgenden Dienstleistungen Barrierefreiheitsanforderungen auf:

  • Telefondienste
  • Messenger-Dienste
  • Auf Mobilgeräten angebotenen Dienstleistungen (inkl. Apps)
  • E-Books
  • Personenbeförderungsdienste
  • Bankdienstleistungen 
  • Elektronischer Geschäftsverkehr

Computer, Smartphones, Tablets etc.

Von den Anforderungen des BFSG sind vor allem IKT-Produkte betroffen: Hardware-Systeme für Verbraucher-Universalrechner einschließlich ihrer Betriebssysteme müssen zukünftig barrierefrei gestaltet werden, wozu insbesondere PCs, Desktops, Notebooks, Smartphones und Tablets zählen. Durch die Begrenzung auf Verbraucher-Produkte sind reine Geschäftscomputer von den Anforderungen grundsätzlich nicht erfasst. Rein praktisch wird sich diese Unterscheidung jedoch wohl nur selten auswirken, da Hersteller in der Regel einheitliche Hardware konzipieren und dabei nicht zwischen Verbraucher- und Geschäfts-Geräte differenzieren.

Das BFSG findet ausdrücklich auf jegliche Verbraucherendgeräte mit interaktivem Leistungsumfang, die für den Zugang zu audiovisuellen Mediendiensten oder zu Telekommunikationsdienste verwendet werden, Anwendung. Damit sind auch Spielekonsolen, Streaming-Sticks (z.B. Amazon Fire TV Stick) sowie Tablets oder Smartphones als „Zugangs″-Produkte erfasst. Da unter den Begriff der audiovisuellen Mediendienste neben den audiovisuellen Angeboten der öffentlich-rechtlichen und privaten Fernsehanstalten auch die Video-on-Demand-Angebote von Streaming-Diensten (Netflix, Amazon Prime etc.) fallen, sind jegliche Geräte, über die solche Dienste abrufbar sind (Smart-TV, Tablet, etc.) erfasst.

Onlineshops

Die Regelungen zur Barrierefreiheit haben schließlich auch Auswirkungen auf den eCommerce: Die Richtlinie verpflichtet die Mitgliedsstaaten dazu, den gesamten Online-Handel für Verbraucher barrierefrei zu gestalten. So gelten die Barrierefreiheitsanforderungen an Dienstleistungen im elektronischen Geschäftsverkehr für den Online-Verkauf jeglicher Produkte und Dienstleistungen und erfassen jene Dienstleistungen, die über Websites oder Apps im Hinblick auf den Abschluss eines Verbrauchervertrages erbracht werden. Lediglich Kleinstunternehmen, d.h. Unternehmen, die weniger als zehn Beschäftigte und höchstens einen Jahresumsatz oder eine Jahresbilanzsumme von 2 Millionen Euro haben, sind von dieser Verpflichtung ausgenommen. 

Barrierefreiheitsanforderungen

Das BFSG legt lediglich den allgemeinen Grundsatz fest, dass die betroffenen Produkte und Dienstleistungen barrierefrei sein müssen, um auf dem Markt bereitgestellt bzw. erbracht zu werden. Nach der Definition des Gesetzes sind Produkte und Dienstleistungen barrierefrei, wenn sie für Menschen mit Behinderungen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar sind. Dazu zählt nicht nur die Barrierefreiheit des Produkts oder Dienstleistung an sich, sondern auch, dass Menschen mit Behinderungen Zugang zu den nötigen Informationen erhalten.

In der Gesetzesbegründung wird dieses allgemeine Prinzip dahingehend ergänzt, als dass ein Produkt oder Dienstleistung dann als barrierefrei einzustufen ist, 

wenn eine Information über das Zwei-Sinne-Prinzip zur Verfügung gestellt wird, die Inhalte in verständlicher Weise dargestellt sind, in einer Schriftart mit angemessener Schriftgröße, in geeigneter Schriftform und Kontrast, und auf eine Weise, die die Nutzer wahrnehmen können.

Konkretisierung durch Rechtsverordnung notwendig

Die konkret einzuhaltenden Anforderungen für die Erreichung dieser Barrierefreiheit sind im BFSG selbst jedoch nicht (weiter) spezifiziert. Die genauen Anforderungen an die Barrierefreiheit sind vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) in einer Rechtsverordnung vielmehr erst noch festzulegen. 

Um daher final beurteilen zu können, welche Änderungen und Anpassungen im Einzelfall notwendig werden, muss der Erlass dieser Kriterien abgewartet werden. 

Da das BAMS bei der Konkretisierung der Anforderungen daran gehalten ist, die Vorgaben des Anhang I des EAA umzusetzen, ist jedoch damit zu rechnen, dass die Rechtsverordnung so formuliert sein wird, dass sie nicht genau festlegt, wie die konkreten Anforderungen erreicht werden, sondern vielmehr darstellt, was das Ergebnis der Barrierefreiheit sein muss. So legt der EAA als Barrierefreiheitsanforderung (und Zielvorgabe) für Produkte, die Kommunikation, Bedienung, Information, Steuerung und Orientierung ermöglichen (z.B. Tablet, Handy) fest, dass diese so gestaltet sein müssen, dass die Nutzung über mehr als einen sensorischen Kanal möglich ist.  

Wie die konkreten Anforderungen rein praktisch und vor allem technisch umzusetzen sind, wird von der Ausarbeitung entsprechender (technischer) Standards abhängen. Die Europäische Kommission hat die europäischen Normungsorganisationen bereits mit der Ausarbeitung von harmonisierten europäischen Normen für die Anforderungen an die Barrierefreiheit von Produkten beauftragt. Für potentiell betroffene Unternehmen kann es Sinn machen, sich an diesen Prozessen selbst oder über Verbände zu beteiligen.

Barrierefreiheitsstärkungsgesetz: Betroffene Unternehmen

Als Wirtschaftsakteure von den Barrierefreiheitsanforderungen und den Pflichten des BFSG betroffen sind Hersteller, Händler und Importeure der erfassten Produkte sowie die Dienstleistungserbringer. 

So dürfen Hersteller ihre Produkte ab dem 28. Mai 2025 grundsätzlich nur noch dann in Verkehr bringen, wenn sie nach den Barrierefreiheitsanforderungen gestaltet und hergestellt worden sind, die Konformität in einem Konformitätsbewertungsverfahren nachgewiesen und eine EU-Konformitätserklärung ausgestellt sowie die CE-Kennzeichnung angebracht wurde. 

Anders als der EAA bezieht das BFSG als „deutsche Besonderheit″ auch explizit den sog. „Quasi-Hersteller″, d.h. die Person, die sich als Hersteller ausgibt, indem sie ein Produkt unter ihrem eigenen Namen oder ihrer eigenen Marke in den Verkehr bringt, mit ein und unterwirft ihn den originären Herstellerpflichten. 

Ausnahmeregelungen

Aus Gründen der Verhältnismäßigkeit und Innovationsfreiheit sieht das Gesetz zwei Ausnahmeregelungen vor: 

  • Zum einen gelten die vom BAMS mittels Rechtsverordnung zu erlassenden konkreten Barrierefreiheitsanforderungen nur insoweit, als dass deren Einhaltung keine wesentliche Änderungen des Produktes oder der Dienstleistung erfordert, die zu einer grundlegenden Veränderung der Wesensmerkmale des Produkts oder der Dienstleistung führt. 
  • Auch kommt den Barrierefreiheitsanforderungen nur insoweit Geltung zu, als ihre Einhaltung zu keiner unverhältnismäßigen Belastung des betroffenen Wirtschaftsakteurs führen würde. 

Die entsprechende Beurteilung dieser Ausnahmen muss der jeweils betroffene Wirtschaftsakteur selbst vornehmen, dokumentieren und der zuständigen Marktüberwachungsbehörde mitteilen. 

Das BFSG weicht in diesem Punkt von der Richtlinie ab und ist weniger streng ausgestaltet, da die genannten Ausnahmetatbestände unabhängig voneinander gelten und nicht wie in der Richtlinie, kumulativ vorliegen müssen.

Konformität und CE-Kennzeichnung

Das BFSG sieht zudem weitere Vorgaben betreffend die Kennzeichnung, Verpackung, Betriebsanleitung und Warnhinweise vor und normiert umfangreiche Vorgaben, wo und wie Informationen bereitgestellt werden müssen. Die Einhaltung der Anforderungen des BFSG ist Teil des Konformitätsbewertungsverfahren eines Produktes und wird in der EU-Konformitätserklärung mit anzugeben sein. Zudem unterliegen die dem Anwendungsbereich des BFSG unterfallenden Produkte der CE-Kennzeichnung. 

Sanktionen 

Der Verstoß gegen die Barrierefreiheitsanforderungen stellt eine geldbußbewehrte Ordnungswidrigkeit dar. Die Einhaltung der Anforderungen sollen die Bundesländer im Zuge der Marktüberwachung sicherstellen. Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) soll die Koordinierung zwischen den Bundesländern sowie die Kommunikation mit der Europäischen Kommission und anderen EU-Mitgliedstaaten übernehmen. 

Die Marktüberwachungsbehörden überprüfen die Einhaltung der Regelungen des BFSG und können bei Verstößen den jeweiligen Wirtschaftsakteur dazu verpflichten, Korrekturmaßnahmen zu ergreifen oder die Bereitstellung des Produktes bzw. das Angebot oder die Erbringung auf dem deutschen Markt einzuschränken oder zu untersagen. 

Barrierefreiheitsstärkungsgesetz bringt neues Klagerecht für Verbraucher/-innen und Verbände

Zur Gewährleistung einer effektiven Rechtsverfolgung sieht das BFSG für Verbraucher/-innen zukünftig mehrere Optionen zur Rechtsdurchsetzung vor: Entsprechen Produkte oder Dienstleistungen nicht den Anforderungen der Barrierefreiheit und sind deshalb nicht oder nur sehr eingeschränkt nutzbar, können Menschen mit Behinderung von der zuständigen Landesbehörde der Marktüberwachung Maßnahmen zur Beseitigung des Verstoßes beantragen. Wird der Antrag abgelehnt, ist der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten eröffnet. Zudem sieht das BFSG auch die Option einer Verbandsklage vor. Verbraucher/-innen können sich durch einen Verband mittels Prozessvertretung vertreten lassen oder ihre Rechte von dem Verband in eigenen Namen durchsetzen lassen (sog. Prozessstandschaft). Das BFSG schafft zudem ein eigenes Verbandsklagerecht für Verbände und qualifizierte Einrichtungen.

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