Hersteller in der Europäischen Union (EU) müssen sich auf eine Veränderung im Bereich der Produkthaftung gefasst machen.
Am 28. September 2022 veröffentlichte die Europäische Kommission einen Entwurf für eine neue Produkthaftungsrichtlinie („ProdHaftRL-E“), welche die seit 1985 geltende Produkthaftungsrichtlinie an die digitalen Herausforderungen des Markts anpassen soll.
Dieser Vorschlag durchbricht eine fast 40 Jahre alte Produkthaftungstradition und trifft auch das nationale Zivilprozessrecht. So sieht der ProdHaftRL-E Offenlegungsverpflichtungen und Beweiserleichterungen zu Lasten des Herstellers vor, die erhebliche Auswirkungen auf Produkthaftungsprozesse in Deutschland haben werden.
Pflicht des Herstellers zur Offenlegung von Beweismitteln
Die größte Neuerung des Entwurfs findet sich in Art. 8 ProdHaftRL-E. Hiernach sollen die nationalen Gerichte zukünftig die Möglichkeit haben, auf Antrag des Geschädigten* den Hersteller zu verpflichten, in seiner Verfügungsgewalt befindliche und für den Schadensersatzanspruch relevante Beweismittel offenzulegen (Disclosure of Evidence). Diese Beweismittel sollen auch Dokumente umfassen, die vom Hersteller durch Zusammenstellung oder Klassifizierung der verfügbaren Beweismittel neu erstellt werden müssen.
Für die Offenlegungsverpflichtung ist in einem Produkthaftungsprozess nach dem Willen des Unionsgesetzgebers lediglich erforderlich, dass der Kläger das Vorliegen des Schadensersatzanspruches plausibel macht. Die Gerichte haben die Offenlegung dann auf ihre Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit (Art. 8 Abs. 2 ProdHaftRL-E) zu prüfen und an dem berechtigten Interesse des Geschädigten zu messen (Art. 8 Abs. 3 ProdHaftRL-E). Sofern dem Hersteller aufgegeben wird, eine Information offenzulegen, bei der es sich um ein (mutmaßliches) Geschäftsgeheimnis handelt, sollen die Gerichte Maßnahmen ergreifen, um die Vertraulichkeit dieser Informationen zu wahren (Art. 8 Abs. 4 ProdHaftRL-E). Kommt der Hersteller der Pflicht zur Offenlegung nicht oder nur unzureichend nach, riskiert er die Vermutung der Fehlerhaftigkeit des Produkts nach Art. 9 Abs. 2a ProdHaftRL-E und somit einen Prozessverlust.
Ein solches Rechtsinstitut kennt das deutsche Zivilprozessrecht – abgesehen von den nur sehr restriktiv gehandhabten §§ 142, 144 ZPO und § 810 BGB – nicht. So ist es nach diesen Vorschriften bisher notwendig, dass die Unterlagen genau bezeichnet werden, in welche die Einsichtnahme begehrt wird. Ansonsten unterliegen Einsichtsnahmerechte dem Einwand der unzulässigen Ausforschung. Ebenso können der Schutz von Geschäftsgeheimissen sowie datenschutzrechtliche Bedenken einer Offenlegungsverpflichtung entgegenstehen.
Auch den Rechtsordnungen der meisten anderen Mitgliedsstaaten ist eine so weitgehende Offenlegungsverpflichtung fremd. Sie findet sich bislang nur im „Common Law“ und lässt sich am ehesten mit der aus den USA bekannten „Pre-Trial Discovery“ vergleichen.
Mit der Verpflichtung der Mitgliedsstaaten, eine so weitgehende Offenbarungspflicht umzusetzen, möchte der Unionsgesetzgeber eine entscheidende Hürde der Produkthaftung überwinden und den Geschädigten den Zugang zu Informationen über das fehlerhafte Produkt ermöglichen (Erwägungsgrund Nr. 30 ProdHaftRL-E). Für die Beweisbarkeit des Produktfehlers stellt die Offenlegungspflicht unbestritten ein effektives Mittel dar. Doch kann sie für den Hersteller auf die Entscheidung hinauslaufen, den Prozess zu verlieren, um seine Geschäftsgeheimnisse zu schützen. Auch können die Kosten für die Beschaffung der relevanten Informationen durch den Einsatz von Software und KI-Systemen – das sog. E‑Discovery – bis in die Millionenhöhe ansteigen und so das Prozesskostenrisiko für beide Parteien unberechenbar machen. Schließlich birgt die geplante Regelung die Gefahr, dass Produkthaftungsfälle unnötig in die Länge gezogen werden, weil vor der eigentlichen Verhandlung über die Produkthaftung ein zeit- und ressourcenzehrendes Verhandeln über die Reichweite der Offenlegungsverpflichtung und über den Umfang der offenzulegenden Dokumente geführt wird.
Beweiserleichterungen im Produkthaftungsprozess zu Lasten des Herstellers
Daneben sieht der ProdHaftRL-E weitreichende Beweislasterleichterungen zu Gunsten des Geschädigten vor. Zwar liegt die Beweislast für die Fehlerhaftigkeit des Produkts, den erlittenen Schaden und den ursächlichen Zusammenhang zwischen der Fehlerhaftigkeit und dem Schaden auch nach Art. 9 ProdHaftRL-E weiterhin beim Geschädigten. Doch wird dieser Grundsatz durch neue Beweisvermutungen in den weiteren Absätzen des Art. 9 ProdHaftRL‑E aufgeweicht.
So wird die Fehlerhaftigkeit des Produkts vermutet, wenn
- der Hersteller seiner Offenlegungspflicht nach Art. 8 Abs. 1 ProdHaftRL-E nicht nachgekommen ist,
- der Geschädigte nachweisen kann, dass das Produkt nicht den verbindlichen Sicherheitsanforderungen des Unionsrechts oder des nationalen Rechts entspricht und diese Anforderungen auch vor dem eingetretenen Schaden schützen sollten (Schutzzweckzusammenhang), oder
- der Kläger lediglich nachweisen kann, dass der Schaden durch eine offensichtliche Funktionsstörung des Produkts bei normaler Verwendung unter normalen Umständen verursacht worden ist.
Weiterhin wird der ursächliche Zusammenhang vermutet, wenn die Fehlerhaftigkeit festgestellt wurde und der entstandene Schaden typisch ist.
Mit diesen Beweiserleichterungen möchte der Unionsgesetzgeber den Nachteil der Geschädigten gegenüber den Herstellern in Bezug auf den Zugang zu und das Verständnis von Informationen darüber ausgleichen, wie ein Produkt hergestellt wurde und wie es funktioniert. Art. 9 Abs. 4 ProdHaftRL-E führt in seiner Konsequenz allerdings zu einer De-facto-Beweislastumkehr, wenn das Gericht der Ansicht ist, dass die Beweisführung wegen technischer oder wissenschaftlicher Komplexität für den Geschädigten übermäßig schwierig ist. Denn der Geschädigte muss nur noch beweisen, dass das Produkt wahrscheinlich fehlerhaft war und/oder seine Fehlerhaftigkeit den Schaden wahrscheinlich verursacht hat. Es bleibt abzuwarten, wie die nationalen Gerichte mit den geplanten Beweiserleichterungen umgehen und einen gerechten Interessenausgleich sicherstellen.
Discovery erfordert neue Prozessstrategien
Das Ziel der Kommission, die Beweislast in komplexen Fällen zu erleichtern und Einschränkungen bei der Geltendmachung von Produkthaftungsansprüchen zu verringern, wird durch eine Verschiebung des Prozessrisikos zu Lasten der Hersteller erreicht. Die prozessualen Neuerungen der Richtlinie, namentlich die Offenlegungsverpflichtung und die Beweiserleichterungen, machen im Hinblick auf die Prozessführung neue Strategien erforderlich, um die Daten und Geschäftsgeheimnisse der Hersteller zu schützen und um auf die neuen Beweisvermutungen zu reagieren. Dies gilt umso mehr, als die EU-Verbandsklagenrichtlinie (Richtlinie [EU] 2020/1828) die nationalen Gesetzgeber verpflichtet, bis Juni 2023 die Möglichkeit einer Verbandsklage zu schaffen, in der auch Ansprüche aus der ProdHaftRL geltenden gemacht werden können. Dieses Zusammenspiel verleiht dem Haftungsrisiko der Hersteller eine nur schwer einschätzbare Dimension.
*Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.