6. Mai 2024
boykottierendes Aufsichtsratsmitglied
Corporate / M&A

Das boykottierende Aufsichtsratsmitglied

Über die Handlungsmöglichkeiten, wenn ein Mitglied des Aufsichtsrats die Mitarbeit im Aufsichtsrat boykottiert: Abberufung statt Ergänzung des Aufsichtsrats.

Mit Beschluss vom 9. Januar 2024 (II ZB 20/22) hat der Bundesgerichtshof entschieden, dass ein Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft nicht nach § 104 Abs. 1 AktG ergänzt werden kann, wenn ein Aufsichtsratsmitglied die Mitwirkung im Aufsichtsrat boykottiert. Vielmehr ist dieses Aufsichtsratsmitglied – gegebenenfalls mit gerichtlicher Hilfe gemäß § 103 Abs. 3 AktG – abzuberufen.

Sachverhalt und Gang des Gerichtsverfahrens

In dem vom BGH zu entscheidenden Fall sieht der Gesellschaftsvertrag der AG vor, dass der Aufsichtsrat aus drei Mitgliedern besteht und er – entsprechend der gesetzlichen Regelung des § 108 Abs. 2 S. 3 AktG – nur beschlussfähig ist, wenn drei Mitglieder an der Beschlussfassung teilnehmen. Ein wenig kurios am Sachverhalt ist, dass die beiden Aktionäre der AG, bei denen es sich um zwei jeweils zur Hälfte am Grundkapital der AG beteiligte Kommanditgesellschaften handelt, in einer mündlichen Verhandlung vor dem erstinstanzlichen Landgericht zu einer Hauptversammlung zusammentraten, um das später boykottierende Aufsichtsratsmitglied zum Mitglied des Aufsichtsrats zu wählen. 

Diese ad hoc Bestellung des Aufsichtsratsmitglieds war nur möglich, weil es sich um eine Vollversammlung aller Aktionäre handelte, § 121 Abs. 6 AktG. Anschließend verweigerte das neu bestellte Aufsichtsratsmitglied seine Mitwirkung im Aufsichtsrat und verursachte damit dessen Beschlussunfähigkeit. Hintergrund dieses Verhaltens dürfte gewesen sein, dass die Gesellschafter einer der beiden Aktionäre die Töchter des neuen Aufsichtsratsmitglieds sind und diese zusammen mit dem neuen Mitglied zu einer Erbengemeinschaft gehören, gegen die die AG Zahlungsansprüche geltend machen will.

Die Antragssteller, der Vorstand und die zwei übrigen Aufsichtsratsmitglieder, reagierten auf die Boykotthaltung des neuen Aufsichtsratsmitglieds, indem sie als Ergänzungsantrag nach § 104 Abs. 1 AktG beantragten, ein Ersatzaufsichtsratsmitglied für das boykottierende Mitglied zu bestellen. 

Diesen Antrag wies das Landgericht zurück. Das OLG Thüringen (OLG Thüringen, Beschluss v. 14. September 2022 – 2 W 268/22) und schließlich der BGH bestätigten die Entscheidung des Landgerichts. 

Boykott eines Aufsichtsratsmitglieds ist kein Fall von § 104 Abs. 1 AktG

Nach Auffassung des BGH lagen die Voraussetzungen für eine Ersatzbestellung nach § 104 Abs. 1 S. 1 AktG nicht vor. § 104 Abs. 1 S. 1 AktG setzt voraus, dass dem Aufsichtsrat weniger Mitglieder angehören, als er für seine Beschlussfähigkeit braucht, der Aufsichtsrat also weniger als drei Mitglieder hat. Der BGH führt unter Verweis auf verschiedenen Literaturstimmen aus, dem Fehlen eines Mitglieds werde die dauerhafte Amtsverhinderung des Aufsichtsratsmitglieds gleichsetzt und nennt als Beispiele für eine dauerhafte Amtsverhinderung Krankheit, Verhinderung oder einen dauerhaften Interessenkonflikt sowie wenn das Aufsichtsratsmitglied ein Vorstandsmitglied gemäß § 105 Abs. 2 S. 1 AktG vertritt. Der BGH führt aus, selbst wenn man von einem Interessenkonflikt aufgrund der Erbstreitigkeit ausgehe, begründe dies allenfalls einen punktuellen Interessenkonflikt, aber keine dauerhafte Amtsverhinderung. Der BGH betont insoweit die Unterscheidung zwischen einer dauerhaften und einer nur vorübergehenden Amtsverhinderung.

Anschließend prüft der BGH, ob eine entsprechende Anwendung von § 104 Abs. 1 S. 1 AktG geboten sei. In der Literatur wird gerade in Fällen von Aufsichtsräten mit drei Mitgliedern eine entsprechende Anwendung des § 104 Abs. 1 S. 1 AktG vertreten. Eine solche Analogie lehnt der BGH allerdings mangels vergleichbarer Interessenlage ab. Ein dauerhaftes Boykottverhalten sei nicht mit einer dauerhaften rechtlichen oder tatsächlichen Verhinderung gleichzusetzen. Der Unterschied bestehe darin, dass der Boykott zu jeder Zeit durch das Aufsichtsratsmitglied beendet werden könne. Zudem löse die gerichtliche Bestellung eines Ersatzmitglieds das Problem nicht nachhaltig. Das Amt des gerichtlich bestellten Aufsichtsratsmitglieds erlischt, sobald der Mangel behoben ist, d.h. sobald das verhinderte Mitglied wieder mitwirkt. Das boykottierende Aufsichtsratsmitglied könne daher das Amt des gerichtlich bestellten Ersatzmitglieds dadurch beenden, dass es kurzzeitig seine Amtstätigkeit wiederaufnimmt. Kehrt es dann wieder zu seinem obstruktiven Verhalten zurück, stehe die AG mit ihrem Problem wieder am Anfang.

Abhilfe durch (gerichtliche) Abberufung des boykottierenden Aufsichtsratsmitglieds

Schließlich führt der BGH aus, dass es einer entsprechenden Anwendung des § 104 Abs. 1 S. 1 AktG zur Lösung des Problems der Beschlussunfähigkeit nicht bedürfe. Ein vom Aktiengesetz eröffneter Weg zur Wiederherstellung der Beschlussfähigkeit des Aufsichtsrats sei die Abberufung des boykottierenden Aufsichtsratsmitglieds nach § 103 AktG und die Bestellung eines neuen Mitglieds durch die Hauptversammlung oder das Gericht nach § 104 Abs. 1 AktG (weil dem Aufsichtsrat nach der Abberufung dann tatsächlich ein Mitglied fehlt).

Diese Auffassung wird bei den Antragstellern wohl zunächst auf wenig Gegenliebe gestoßen sein, da eine Abberufung des boykottierenden Aufsichtsratsmitglieds durch die Hauptversammlung praktisch nicht möglich sein dürfte, da die Töchter des Aufsichtsratsmitglieds dies über ihre mittelbare hälftige Beteiligung an der AG wohl zu verhindern wissen. Der Beschluss über die Abberufung eines Aufsichtsratsmitglieds bedarf – vorbehaltlich einer abweichenden Satzungsregelung – einer Mehrheit von drei Vierteln der abgegebenen Stimmen. 

Das Gericht verweist jedoch auf § 103 Abs. 3 AktG. Nach § 103 Abs. 3 S. 1 AktG hat das Gericht auf Antrag des Aufsichtsrats ein Aufsichtsratsmitglied abzuberufen, wenn in dessen Person ein wichtiger Grund vorliegt. Nach Auffassung des BGH handelt es sich bei einem nachweisbaren Boykottverhalten um solch einen wichtigen Grund. 

Allerdings bedarf der Antrag auf gerichtliche Abberufung eines Aufsichtsratsmitglieds eines vorherigen Beschlusses des Aufsichtsrats. Für diesen Beschluss muss der Aufsichtsrat wiederum beschlussfähig sein, sodass sich erneut das Problem stellt, dass das abzuberufende Aufsichtsratsmitglied durch sein Boykottverhalten die Beschlussfassung verhindern könnte. In diesem Fall hält es der BGH jedoch entgegen § 108 Abs. 2 Satz 3 AktG ausnahmsweise für zulässig, dass der Beschluss nur von zwei und nicht von drei Aufsichtsratsmitgliedern gefasst wird.

Entscheidung des BGH löst das Problem des boykottierenden Aufsichtsratsmitglieds praxistauglich

Die Entscheidung löst das in der Praxis häufiger als erwartet auftretende Problem, dass der dreiköpfige Aufsichtsrat durch die Boykotthaltung eines einzelnen Aufsichtsratsmitglieds blockiert wird und eine Abberufung durch die Hauptversammlung wegen einer Pattsituation im Aktionärskreis nicht möglich ist. Es ist auch dogmatisch richtig, die Lösung nicht über eine analoge Anwendung des § 104 Abs. 1 AktG zu suchen, sondern über eine gerichtliche Abberufung des Aufsichtsratsmitglieds, die ausnahmsweise auch von nur zwei Mitgliedern beantragt werden kann. Hätte der Gesetzgeber, dem die Problematik durchaus bekannt sein dürfte, eine Anwendung des § 104 Abs. 1 AktG auf diesen Fall gewollt, so hätte er im Rahmen der vergangenen Novellen des Aktiengesetzes ausreichend Gelegenheit gehabt, die Norm anzupassen. 

Eine der Beschlussunfähigkeit vorbeugende Lösungsalternative besteht darin, in der Satzung eine höhere Zahl von Aufsichtsratsmitgliedern vorzusehen, die Zahl der für die Beschlussfähigkeit erforderlichen Mitglieder aber bei drei zu belassen. Seit der Aktienrechtsnovelle 2016 ist es gesetzlich nicht mehr vorgeschrieben, dass die Zahl der Aufsichtsratsmitglieder durch drei teilbar sein muss, es sei denn, dies ist zur Erfüllung mitbestimmungsrechtlicher Vorgaben (Drittelbeteiligungsgesetz) erforderlich. Eine Erhöhung der Anzahl der Aufsichtsratsmitglieder ist jedoch mit einem erhöhten Personalaufwand verbunden, der nur bei größeren Gesellschaften oder bei absehbarem Blockadeverhalten gerechtfertigt sein dürfte.

Auswirkungen der Entscheidung auf die Fallgruppe des dauerhaft verhinderten Aufsichtsratsmitglieds

Es bleibt abzuwarten, ob sich der BGH der Literaturmeinung anschließen wird, wonach die dauernde Amtsverhinderung dem Fehlen eines Aufsichtsratsmitglieds nach § 104 Abs. 1 AktG gleichgestellt wird. Im vorliegenden Fall war diese Frage nicht entscheidungserheblich, da der BGH nur einen punktuellen Interessenkonflikt angenommen hat. Sie konnte daher offenbleiben. 

Allerdings lässt der BGH in seiner Entscheidung erhebliche Sympathien für diese Auffassung erkennen, da er im Rahmen seiner Analogieprüfung mit der dauerhaften Amtsverhinderung argumentiert. Würde sich der BGH dieser Auffassung anschließen, wäre dies jedoch inkonsequent gegenüber seiner vorliegenden Entscheidung zum dauerhaft boykottierenden Aufsichtsratsmitglied. 

Maßgebliches Entscheidungskriterium scheint für den BGH die Dauerhaftigkeit der Verhinderung zu sein. Als Beispiele für eine tatsächlich dauerhafte Verhinderung nennt der BGH Krankheit, Unerreichbarkeit und dauerhafte Interessenkonflikte. Bei diesen Beispielen wird es jedoch nicht immer gelingen, die Dauerhaftigkeit festzustellen, da es sich bei allen Beispielen um Prognosen handelt. Ob ein Interessenkonflikt dauerhaft ist, hängt oft von der Entwicklung des Konflikts ab. Umstände können sich ändern, sodass sich ein Interessenkonflikt auch auflösen kann. Der Verlauf einer Krankheit ist auch für Ärzte häufig schwer vorhersehbar. Und die Gründe für die Unerreichbarkeit des Amtsträgers sind der AG manchmal nicht bekannt, sodass die Dauerhaftigkeit der Unerreichbarkeit nicht beurteilt werden kann. Ähnliches gilt für die Vertretung eines Vorstandsmitglieds durch ein Aufsichtsratsmitglied, die der BGH als Beispiel für eine dauerhafte rechtliche Verhinderung anführt. Die Amtszeit des vertretenden Aufsichtsratsmitglieds ist von vornherein auf ein Jahr begrenzt, § 105 Abs. 2 S. 2 AktG, sodass es sich nur um eine vorübergehende Verhinderung handelt. 

Die Dauerhaftigkeit ist daher kein geeignetes Kriterium, um die Amtsverhinderung dem Fehlen der erforderlichen Zahl von Aufsichtsratsmitgliedern nach § 104 Abs. 1 AktG gleichzustellen. Konsequenter wäre es daher, wenn der BGH die Antragsteller auch im Fall der Amtsverhinderung auf die (gerichtliche) Abberufung des Aufsichtsratsmitglieds verweisen und eine Ersatzbestellung nach § 104 Abs. 1 AktG ablehnen würde.

Der Beitrag wurde mit Hilfe von Bianca Marie Götte erstellt.

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