6. Juli 2023
Kleinbeteiligtenprivileg insolvenzrechtliche Anfechtung
Restrukturierung und Insolvenz

Aktuelle Rspr. des BGH zur Anwendbarkeit des Kleinbeteiligtenprivilegs

Der BGH festigt und erweitert seine Rechtsprechung zum Kleinbeteiligtenprivileg im Kontext der insolvenzrechtlichen Anfechtung nach § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO.

Im Zusammenhang mit der insolvenzrechtlichen Anfechtung gem. § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO ist das so genannte Kleinbeteiligtenprivileg besonders wichtig. Denn das Kleinbeteiligtenprivileg, geregelt in § 39 Abs. 5 InsO, schließt letztlich eine Insolvenzanfechtung von Befriedigungen gegenüber Gesellschaftern nach § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO aus. Diese Privilegierung greift grundsätzlich zu Gunsten von nicht geschäftsführenden Gesellschaftern*, die nur mit 10 % oder weniger am Haftkapital einer (insolventen) Gesellschaft beteiligt sind.

Einschränkung des Kleinbeteiligtenprivilegs durch „überschießende unternehmerische Verantwortung“

Neben der Grenze einer Kapitalbeteiligung von maximal 10 % sind nach der Rechtsprechung des BGH weitere Maßgaben für die Anwendbarkeit des Kleinbeteiligtenprivilegs zu beachten. Ein Gesellschafter darf nicht nur mit maximal 10 % an der jeweiligen Gesellschaft beteiligt sein, sondern ihm darf auch keine, die nominelle Beteiligung „überschießende unternehmerische Verantwortung“ zukommen.

Diese Vorgabe hatte der BGH bereits zu Anfang des Jahres 2023 mit Urteil vom 26. Januar 2023 (IX ZR 85/21) bestätigt. Dadurch hat der BGH auch nach Einführung des Gesetzes zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG) an seine frühere Rechtsprechung zum § 32a Abs. 3 S. 2 GmbHG a.F. angeknüpft (vgl. BGH, Urteil v. 9. Mai 2005 – II ZR 66/03; BGH, Beschluss v. 19. Mai 2007 – II ZR 106/06; Beschluss v. 26. April 2010 – II ZR 60/09; jeweils zur Beteiligung an einer Aktiengesellschaft). In § 32a Abs. 3 S. 2 GmbHG a.F. war ebenfalls eine Privilegierung für Gesellschafter mit einer Beteiligung von 10 % oder weniger am Haftkapital normiert. Der BGH entschied bereits zur alten Rechtslage, dass eine im Einzelfall koordinierte Kreditvergabe in der Krise einer Anwendung der (Kleinbeteiligten-) Privilegierung entgegenstehen kann.

BGH urteilt erneut zum Kleinbeteiligtenprivileg

In seinem Urteil vom 20. April 2023 (IX ZR 44/22) hat sich der BGH erneut mit dem Kleinbeteiligtenprivileg befasst. Zunächst hat der BGH den Zeitraum konkretisiert, in welchem die Voraussetzungen der Privilegierung im Zusammenhang mit einer Anfechtung nach § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO vorliegen müssen. Außerdem hat der BGH die Anforderungen an das Vorliegen einer die nominelle Beteiligung „überschießenden unternehmerischen Verantwortung“ weiter präzisiert.

In dem der aktuellen Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt entfielen auf den Beklagten als Gesellschafter der X-GmbH (Schuldnerin) Geschäftsanteile in Höhe von 10 %. Die übrigen 90 % des Stammkapitals wurden von einer Mehrheitsgesellschafterin gehalten. Im Vorfeld des Zeitraums von einem Jahr vor Stellung des Insolvenzantrags war der Beklagte zeitweise Geschäftsführer der Schuldnerin. Während dieser Zeit hatte die Gesellschafterversammlung (mit dem Beklagten) beschlossen, den Überschuss aus dem Vorjahr sowie Gewinne aus den weiteren Vorjahren auf neue Rechnung vorzutragen. Innerhalb des Zeitraums von einem Jahr vor dem Eröffnungsantrag – inzwischen war der Beklagte nicht mehr Geschäftsführer der Schuldnerin – beschloss die Gesellschafterversammlung schließlich die Ausschüttung des zunächst vorgetragenen Überschusses an die Gesellschafter entsprechend der Beteiligungsverhältnisse. Unmittelbar im Anschluss an diese Beschlussfassung wurde dementsprechend ein Betrag in Höhe von EUR 68.500,00 an den Beklagten ausgezahlt. Der Beklagte stimmte den Beschlussfassungen in beiden Gesellschafterversammlungen zusammen mit der Mehrheitsgesellschafterin zu. Zusätzliche Abreden hatten die Gesellschafter ausweislich des festgestellten Sachverhalts aber nicht getroffen bzw. waren nicht vorgetragen. Der später bestellte Insolvenzverwalter der Schuldnerin erklärte die Anfechtung gem. § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO und forderte die Erstattung des an den Beklagten ausgeschütteten Geldbetrages in Höhe von EUR 68.500,00.

Sowohl das OLG in der Berufungsinstanz als auch der BGH in der Revisionsinstanz haben einen Anfechtungsanspruch aus § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO abgelehnt. Der BGH lässt in seiner Begründung offen, ob in der Zahlung auf den Anspruch aus dem Gewinnverwendungsbeschluss unter Berücksichtigung des Gewinnvortrags eine nach § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO anfechtbare Rechtshandlung liegt. Jedenfalls sei die Anfechtung gemäß § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO wegen der Anwendbarkeit des Kleinbeteiligtenprivilegs zu Gunsten des Beklagten ausgeschlossen.

Ein-Jahres-Zeitraum vor der Antragstellung maßgeblich für die Prüfung der Voraussetzungen des Kleinbeteiligtenprivilegs

Der BGH stellt zunächst klar, dass die Voraussetzungen für die Anwendbarkeit des Kleinbeteiligtenprivilegs im Zusammenhang mit einer Anfechtung nach § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO lediglich während des Ein-Jahres-Zeitraums vor Antragstellung vorgelegen haben müssen. Der zeitlich vor dieser Frist liegende Zeitraum sei nicht zu berücksichtigen. 

Diese Frage war in der rechtswissenschaftlichen Literatur bisher umstritten. Der BGH verweist darauf, dass der Gesetzgeber durch die Einführung des § 39 Abs. 5 InsO (durch das MoMiG) Rechtsunsicherheiten im Zusammenhang mit der Prüfung der Tatbestandsmerkmale der Vorgängervorschrift, des § 32a Abs. 1 GmbHG a.F., beseitigen wollte. An die Stelle der Prüfung einer Finanzierungsleistung als „eigenkapitalersetzend“ sei der Zeitraum von einem Jahr vor Insolvenzantragstellung eingeführt worden. Folglich komme es für eine Anfechtbarkeit nach § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO ausschließlich auf den vom Gesetzgeber als kritisch angesehenen Zeitraum von einem Jahr vor Antragstellung an. Lediglich etwaige Rechtshandlungen wie (Darlehensrück-) Zahlungen in diesem konkreten Zeitraum können anfechtbar sein. Für eine Privilegierung wie das Kleinbeteiligtenprivileg, welche dieser Anfechtbarkeit nach § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO entgegensteht, soll dann ebenfalls ausschließlich diese (Jahres-) Frist relevant sein.

Keine koordinierte Finanzierung bei bloßem Einverständnis der Gesellschafter im Rahmen der Finanzierungsentscheidung 

Die bereits erwähnte Präzisierung der Anforderungen an das Vorliegen einer „überschießenden unternehmerischen Verantwortung“ im Urteil vom 20. April 2023, sozusagen in Ergänzung zur Entscheidung vom 26. Januar 2023, ist unter Berücksichtigung der lediglich zwei Gesellschafter im vorliegenden Fall zumindest im Ausgangspunkt bemerkenswert. 

Nach Ansicht des BGH habe das bloße Einvernehmen des 10%-(Minderheits-)Gesellschafters mit dem 90%-(Mehrheits-)Gesellschafter bezüglich des Gewinnvortrags noch keine koordinierte Finanzierungsentscheidung von Gesellschaftern dargestellt, aus der die Übernahme einer „überschießenden unternehmerischen Verantwortung“ durch einen Minderheitsgesellschafter gefolgert werden könne. Denn diese Beschlussfassung der Gesellschafter „alleine“ habe den üblichen Rahmen einer Beschlussfassung von Gesellschaftern noch nicht verlassen, so dass es an einer Koordinierung der Finanzierungsentscheidung der Gesellschafter gefehlt hat.

Kein Wegfall des Kleinbeteiligtenprivilegs durch die gesellschaftsrechtliche Treuepflicht

Auch die nach Aufgabe seiner Geschäftsführertätigkeit fortbestehende gesellschaftsrechtliche Treuepflicht des Beklagten hat nach der Bewertung des BGH im vorliegenden Fall einer Anwendbarkeit des Kleinbeteiligtenprivilegs nicht entgegengestanden. 

Die Treuepflicht sei als Verbandsprinzip zwar anerkannt und gelte auch zwischen den Gesellschaftern untereinander. Aus dieser Treuepflicht sollen aber keine Rückschlüsse auf die Anwendbarkeit des Kleinbeteiligtenprivilegs im Rahmen einer Insolvenzanfechtung i.S.d. § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO möglich sein. Denn der BGH ist der Auffassung, dass die Treuepflicht den anfechtungsrechtlich verfolgten Erhalt einer Insolvenzmasse oder den Schutz der Gläubigergesamtheit nicht erfasst. Folglich soll also auch kein Zusammenhang zum Insolvenzanfechtungsrecht bestehen, aus dem etwaige Schlussfolgerungen gezogen werden könnten.

Praxishinweis

Die Entscheidung des BGH vom 20. April 2023 ist insbesondere hinsichtlich der für das Kleinbeteiligtenprivileg relevanten Frist systematisch nachvollziehbar. Die Klarstellung dazu, dass die Voraussetzungen des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO unter Berücksichtigung der in § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO genannten Frist ein Jahr vor Antragstellung vorliegen müssen, erhöht für betroffene Gesellschafter und deren Berater zudem die Rechtssicherheit.

Aus der Tatsache, dass der BGH eine die nominelle Beteiligung „überschießende unternehmerische Verantwortung“ im konkreten Fall mit Verweis auf das Fehlen einer koordinierten Finanzierungsentscheidung von Minderheits- und Mehrheitsgesellschafter abgelehnt hat, sollten wohl keine zu weitreichenden Schlussfolgerungen für ähnlich gelagerte Fälle gezogen werden. Offensichtlich hatte der klagende Insolvenzverwalter hier tatsächlich gar nichts zu einer Diskussion der Gesellschafter über die Finanzierungsentscheidung vorgetragen oder vortragen können. Sollte sich bspw. aus Protokollen zu einer Gesellschafterversammlung, vorbereitender bzw. nachbereitender (E-Mail-) Korrespondenz von Beteiligten oder aus sonstigen Anhaltspunkten ergeben, dass sich ein Minderheitsgesellschafter eben nicht nur auf die bloße Zustimmung zur Finanzierungsentscheidung beschränkt hat, sondern eine Diskussion der Gesellschafter stattgefunden hat, ist auch nach dem aktuellen Urteil des BGH tendenziell von einer koordinierten Finanzierungsentscheidung auszugehen. Diese führt dann weiterhin zur Übernahme einer über den nominellen Gesellschaftsanteil hinausgehenden „unternehmerischen Verantwortung“ mit der Folge, dass das Kleinbeteiligtenprivileg nicht anwendbar ist.

* Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen, wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet. 

Tags: Insolvenzrechtliche Anfechtung Kleinbeteiligtenprivileg