17. August 2023
Hinweispflicht Warnpflicht Insolvenzgrund
Restrukturierung und Insolvenz

BGH zur Hinweis- und Warnpflicht bei möglichem Insolvenzgrund 

Aktuelle Rspr. des BGH zur Hinweis- und Warnpflicht eines Rechtsberaters bei möglichem Insolvenzgrund.

Der BGH ergänzt mit der Entscheidung vom 29. Juni 2023 (IX ZR 56/22) seine Rechtsprechung zu Hinweis- und Warnpflichten eines (anwaltlichen) Beraters* bei möglichem Insolvenzgrund zugunsten von (faktischen) Geschäftsleitern einer juristischen Person (oder einer Gesellschaft ohne Rechtspersönlichkeit). Dieser Entscheidung lag zusammengefasst folgender Sachverhalt zu Grunde:  

Wesentlicher Sachverhalt

Eine Gesellschaft (Schuldnerin) hatte einen Rechtsanwalt ab dem Jahr 2009 über mehrere Jahre wiederholt mit anwaltlicher Beratung beauftragt. Die Prüfung einer möglichen Insolvenzreife der Schuldnerin war offensichtlich nicht Gegenstand der Hauptleistungspflicht des von der Schuldnerin mandatierten Rechtsanwalts. Im August 2012 wurde allerdings das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Schuldnerin infolge eines Insolvenzantrags von Anfang Juni 2012 eröffnet. Im Anschluss an die Eröffnung des Insolvenzverfahrens wurden der Geschäftsführer der Schuldnerin und sein Vater als faktischer Geschäftsführer (gemeinsam: die Geschäftsleiter) von dem bestellten Insolvenzverwalter wegen verbotener Zahlungen nach Insolvenzreife in Anspruch genommen. Die Geschäftsleiter einigten sich im Wege eines Vergleichs mit dem Insolvenzverwalter auf die Zahlung eines Betrags von EUR 85.000,00. 

In Höhe des gezahlten Betrages von EUR 85.000,00 (zzgl. Anwaltskosten von EUR 11.766,66 EUR) verlangten die Geschäftsleiter (bzw. eine im Urteil nicht näher bezeichnete Klägerin als Abtretungsempfängerin) daraufhin Schadensersatz von der Haftpflichtversicherung des Rechtsanwalts. Schließlich habe der Rechtsanwalt seine Beratungspflichten aus dem Mandatsvertrag mit der Schuldnerin verletzt. Er hätte eine Hinweis- und Warnpflicht bezüglich einer bestehenden Insolvenzreife der Schuldnerin beachten müssen. Die Verletzung der drittschützenden Hinweis- und Warnpflicht begründe den geltend gemachten Schadensersatzanspruch.   

Voraussetzungen eines Vertrages mit Schutzwirkung zugunsten Dritter 

Der BGH erläutert einleitend die wesentlichen Merkmale der von der Rechtsprechung im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung entwickelten Rechtsfigur des Vertrages mit Schutzwirkung zu Gunsten Dritter. 

Bei einem Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter stehe die vertraglich geschuldete Hauptleitung allein dem tatsächlichen Vertragspartner als Gläubiger zu. Der Dritte sei jedoch in der Weise in die vertraglichen Pflichten einbezogen, dass er bei einer Verletzung dieser Pflichten vertragliche Schadensersatzansprüche geltend machen kann. Gleichzeitig weist der BGH darauf hin, dass an die Einbeziehung von Dritten in den vertraglichen Schutz strenge Anforderungen zu stellen sind. Ansonsten würde das Haftungsrisiko für den Hauptleistungsschuldner unkalkulierbar ausgedehnt. Zudem würde die Grenze zwischen einer vertraglichen und einer deliktischen Haftung „in unzuträglicher Weise verwischt“. Sodann werden die Voraussetzungen eines Vertrages mit Schutzwirkung zu Gunsten Dritter vom BGH im Detail benannt. 

„Qualität“ einer Pflichtverletzung für möglichen Drittschutz nicht relevant

Daraufhin erläutert der BGH, dass das Berufungsgericht sich im Rahmen seiner (ablehnenden) Prüfung eines Drittschutzes gerade nicht an den anerkannten Voraussetzungen für einen Vertrag zu Gunsten Dritter orientiert habe. Denn es habe die Qualität der dem Rechtsanwalt unterstellten Pflichtverletzung in die Bewertung eingeführt. Die Qualität der begangenen Pflichtverletzung soll nach Ansicht des BGH für die Frage der Einbeziehung eines Dritten in den vertraglichen Schutz nicht relevant sein. 

Vielmehr sei es „unzweifelhaft“, dass die Einbeziehung eines Dritten in den Schutzbereich eines Vertrags auch dann in Betracht kommt, wenn der Hauptleistungsschuldner (hier der Rechtsanwalt) nur eine Schutz- oder Fürsorgepflicht verletzt.       

Hinweis- und Warnpflicht bei möglichem Insolvenzgrund (ggf.) ausreichend

Im Zusammenhang mit möglichen Insolvenzgründen hat der BGH bisher aber lediglich zum Drittschutz Stellung genommen, wenn die Prüfung einer Insolvenzreife selbst Hauptleistungspflicht einer Mandatsvereinbarung war oder Steuerberater Kenntnisse zu Insolvenzgründen im Rahmen der Erstellung eines Jahresabschlusses erlangt haben. 

Inwiefern die Hinweis- und Warnpflicht eines Rechtsberaters bei möglichem Insolvenzgrund als vertragliche Nebenpflicht eine drittschützende Wirkung zugunsten von Geschäftsleitern haben kann, war nach den Ausführungen des BGH bislang nicht entschieden. Bei einer „bloßen“ Hinweis- und Warnpflicht vor einem Insolvenzgrund sei für einen Drittschutz zunächst entscheidend, dass der Dritte (hier die Geschäftsleiter), bestimmungsgemäß mit der Hauptleistung in Berührung kommt. Dafür seien Ausprägung und Inhalt der Mandatsvereinbarung entscheidend. Es reiche aus, wenn das geschützte Drittinteresse – hier die Beachtung der Insolvenzantragspflicht und die Vermeidung drohender Haftungsfolgen – bei Erbringung der Hauptleistung typischerweise beeinträchtigt werden kann. Die Beeinträchtigung des hier geschützten Drittinteresses im Zusammenhang mit der Erbringung der Hauptleistung scheide regelmäßig aus, wenn ein Rechtsanwalt nur mit der Durchsetzung eines konkreten Anspruchs beauftragt ist oder eine rechtliche Gestaltung unabhängig von einer Krise der Mandantin vornehmen soll.

Leider hat der BGH im Übrigen nicht näher zum konkreten Inhalt des streitgegenständlichen Mandatsvertrages und der daraus resultierenden Hauptleistungspflicht ausgeführt. Dem Senat hat als zurückverweisende Revisionsinstanz offenbar die negative Abgrenzung zu den Fällen ausgereicht, in denen regelmäßig keine Beeinträchtigung des Drittinteresses anzunehmen ist.  

Kein unbilliges Haftungsrisiko 

Ein unbilliges Haftungsrisiko für den Rechtsanwalt im konkreten Fall und Rechtsberater im Allgemeinen erkennt der BGH durch die Einbeziehung von Dritten in den vertraglichen Schutz nach den vorstehenden Maßgaben nicht. 

Immerhin greife die Hinweis- und Warnpflicht bei einem möglichem Insolvenzgrund nur unter engen Voraussetzungen ein. Denn dem jeweiligen Berater müsse der mögliche Insolvenzgrund bekannt werden, dieser müsse für ihn offenkundig sein oder der Insolvenzgrund müsse sich ihm bei ordnungsgemäßer Bearbeitung des Mandats aufdrängen. Eine bloße Erkennbarkeit reiche nicht aus. Ferner müsse der Berater Grund zu der Annahme haben, dass sich der Geschäftsleiter nicht über den möglichen Insolvenzgrund und daraus folgende Handlungspflichten bewusst ist. Hier verweist der BGH insbesondere auf seine Rechtsprechung zu den Hinweis- und Warnpflichten eines mit der Erstellung des Jahresabschlusses befassten Steuerberaters bei möglichem Insolvenzgrund (vgl. BGH, Urteil v. 26. Januar 2017 – IX ZR 285/14).  

Einbeziehung eines faktischen Geschäftsführers 

Abschließend stellt der BGH klar, dass ein Drittschutz nach den erwähnten Voraussetzungen auch für einen lediglich „faktischen Geschäftsführer“ nicht zwangsläufig ausscheidet. Dieser sei schließlich auch zur Stellung eines Insolvenzantrags verpflichtet und hafte für eine verspätete Antragstellung. Die Einbeziehung des faktischen Geschäftsführers in den vertraglichen Schutzbereich setze allerdings auch die Erkennbarkeit seiner Existenz für den Rechtsberater voraus. Ab wann von dieser Erkennbarkeit auszugehen ist, wird nicht näher erläutert.    

Praxishinweis

Die Entscheidung des BGH (ver-) schärft die Haftung von Beratern: Die Ausweitung des Drittschutzes einer Hinweis- und Warnpflicht bei möglichem Insolvenzgrund zu Gunsten von Geschäftsleitern vergrößert die Anzahl potentieller Anspruchsgegner bei anwaltlichen Pflichtverletzungen gegenüber einer Gesellschaft. Betroffen von der Ausweitung der Haftungsgefahr sind insbesondere die „Stammberater″ eines Unternehmens, welche insolvenzrechtlich häufig weniger erfahren sind. In der insolvenzrechtlichen Beraterpraxis dagegen ist die Hinweis- und Warnpflicht gegenüber Geschäftsleitern – auch bei Mandatierung durch die jeweilige Gesellschaft – bereits Standard.  

Der BGH stellt in seiner Entscheidung zudem klar, dass auch den „Stammberater“ eine Hinweis- und Warnpflicht bei möglichem Insolvenzgrund treffen kann, wenn er nicht nur mit der Durchsetzung eines Anspruchs beauftragt wird oder eine rechtliche Gestaltung unabhängig von einer Krise der Mandantin vornehmen soll. Die Abgrenzung, ab wann eine rechtliche Gestaltung als „unabhängig von einer Krise“ zu bewerten ist, dürfte in der Praxis nicht immer einfach sein.  

Im Übrigen verweist der BGH zwar darauf, dass die Hinweis- und Warnpflicht bei Vorliegen eines Insolvenzgrundes nur unter bestimmten Voraussetzungen greift. Diese Voraussetzungen als „eng“ zu bezeichnen, vermittelt aber eine lediglich trügerische Sicherheit für den anwaltlichen Berater. Zur Vermeidung einer Haftungsgefahr gegenüber Dritten und insbesondere auch zur Reduzierung von Haftungsgefahren gegenüber Mandanten wegen der Verletzung von Hinweis- und Warnpflichten bei möglichem Insolvenzgrund ist insolvenzrechtlich weniger erfahrenen „Stammberatern“ einer Gesellschaft dringend zu empfehlen, insolvenzrechtlich versierte Kolleginnen oder Kollegen bereits bei ersten Krisenanzeichen in die Bearbeitung eines (Dauer-) Mandats einzubinden.  

* Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen, wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet. 

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