Im Zuge der „Entstaatlichung“ der Gerichtsbarkeit und des immer größeren Zulaufs, den internationale Schiedsgerichte verzeichnen, gewinnen Schiedssprüche stark an Bedeutung. Die wachsende Anzahl veröffentlichter Schiedssprüche ermöglicht Schieds-gerichten eine rege Bezugnahme auf Entscheidungen anderer Schiedsgerichte. Ohne im Sinne einer stare decisis-Doktrin an sie gebunden zu sein, führen sie diese in ihren Entscheidungsbegründungen an. Den zitierten Entscheidungen kommt faktische Präzedenzwirkung zu.
Die Frage nach einer Bindung an frühere Entscheidungen kann im Ergebnis noch eindeutig bejaht (s. etwa das angloamerikanische Rechtssystem) oder verneint werden (s. das deutsche und französische Rechtssystem sowie die internationale Schiedsgerichtsbarkeit). Demgegenüber gibt es nicht eine Präzedenzwirkung von Entscheidungen, sondern unterschiedliche Grade an Präzedenzwirkung.
Die häufig vertretene Ansicht, Schiedssprüche könnten keine Präzedenzwirkung entfalten, wird theoretisch und empirisch widerlegt. Bereits die dogmatischen Ausführungen zeigen, dass Schiedssprüche grundsätzlich durchaus Präzedenzwirkung entfalten können – sofern drei Voraussetzungen gegeben sind: eine Entscheidungsbegründung, deren Veröffentlichung und die Bezugnahme auf diese durch eine spätere Entscheidung. Das konkrete Ausmaß an Präzedenzwirkung wird dabei durch qualifizierende Faktoren vorgegeben, zu denen etwa die persuasive authority der früheren Entscheidung zählt.
Die in unterschiedlicher Ausprägung vorliegenden Faktoren bestimmen die gewählte Art der Bezugnahme, so dass sich die konkrete Gestalt der Präzedenzwirkung mit ebendieser nachvollziehen lässt. Anhand der im Rahmen dieser Arbeit entwickelten Methodik lassen sich die verschiedenen Zitationstypen kategorisieren und dadurch jeweils ein bestimmter Grad an Präzedenzwirkung feststellen.
Insgesamt zeigen Schiedssprüche von Schiedsgerichten des Internationalen Zentrums zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten (ICSID) ein weit höheres Maß an Präzedenzwirkung auf als Entscheidungen von Schiedsgerichten der Internationalen Handelskammer (ICC). Zwar gibt es in beiden Systemen Entscheidungen, denen im Einzelfall eine sehr hohe Präzedenzwirkung zukommt. Doch selbst die berühmte Dow Chemical-Entscheidung (ICC) weist in der Gesamtschau der sie zitierenden Schiedssprüche über solche einzelnen Zitationen hinaus kein sonderlich hohes Maß an Präzedenzwirkung auf.
Anderes gilt beispielsweise für die Salini-Entscheidung (ICSID). Sie ist für ICSID-Schiedsgerichte, die das Vorliegen einer Investition im Sinne des Art. 25 Abs. 1 ICSID-Konvention zu prüfen haben, nach wie vor von sehr hoher Bedeutung, was sich in den entsprechend gewählten Zitationsarten niederschlägt. Um den Stellenwert internationaler Schiedssprüche zu bestimmen, genügt es daher nicht, darauf zu verweisen, dass sie jeweils nur die Verfahrensparteien binden, oder sie entsprechend Art. 38 Abs. 1 (d) IGH-Statut als „Hilfsmittel“ zu qualifizieren.
Tatsächlich nehmen internationale Schiedssprüche eine Reihe von Funktionen wahr, die darüber hinausgehen: Dient ein Schiedsspruch primär der Entscheidung eines Einzelfalls, so übersteigt seine Wirkung spätestens mit der Veröffentlichung den Kreis der Beteiligten. Der Schiedsspruch wird für andere Parteien zum Maßstab ihrer Erwartungen, für andere Schiedsgerichte ein Instrument ihrer Argumentation. Der Schiedsspruch gibt eine Antwort auf eine Rechtsfrage, welche für die Allgemeinheit von Interesse ist. Indem der Schiedsspruch durch die Bezugnahme späterer Schiedsgerichte einem größeren Wirkungskreis zugeführt wird, können die in ihm enthaltenen Argumentationen und Lösungen weitergetragen werden und schließlich zu einer „schleichenden Kodifizierung″ beitragen.
So offenbart der Blick auf die Rechtswirklichkeit gerade in Bezug auf ICSID-Entscheidungen nicht nur eine Vielzahl an Zitationen, sondern auch solche Entscheidungszitate, in denen Schiedsgerichte ihren Willen kundgeben, mehr zu erbringen als die Dienstleistung einer Streitentscheidung. Schiedsgerichte können über die Streitentscheidung hinaus auch Recht fortentwickeln. Das transnationale Recht ist hierfür paradigmatisch.
Für die lex constructionis gilt allerdings die Besonderheit, dass die staatliche Rechtsprechung in baurechtlichen Streitigkeiten eine noch immer dominante Rolle einnimmt, was primär dem Ursprung der verwendeten Standardbedingungen (FIDIC) im nationalen Recht geschuldet ist. Ein weiterer Bereich starker schiedsgerichtlicher Prägung stellt das internationale Investitionsrecht dar, das einer solchen als relativ junge Rechtsmaterie besonders zugänglich ist.
Weit stärker als ICC-Spruchkörper sehen sich ICSID-Schiedsgerichte vor die Aufgabe gestellt, Pionierarbeit zu leisten. Sie zeigen ein Bewusstsein dafür, dass ihre Einzelfallentscheidungen in einen größeren Kontext einzubetten sind. In dem konstatierten Bemühen, an der Etablierung einer kohärenten und dadurch vorhersehbaren Rechtsprechung mitzuwirken, zeigt sich das Potential dieser Schiedsgerichte. Es besteht darin, mit der starken faktischen Präzedenzwirkung, die sie realisieren können, eine kohärente Rechtsprechung und schließlich auch ein kohärentes Investitionsrecht zu entwickeln.
Geradezu gegensätzlich verhält es sich bei den ICC-Schiedssprüchen zur Erstreckung der Schiedsklausel auf konzernzugehörige Unternehmen, in denen zitierte Entscheidungen aufgrund der erkennbaren Methodenvielfalt nur eine geringe Präzedenzwirkung entfalten.
Die durchgeführten Analysen erlauben schließlich Aussagen zum bisher erreichten Grad an Konsistenz der schiedsrichterlichen Spruchpraxis. Die oft unter Investitionsrechtlern evozierte Fragmentierung des Rechts kann jedenfalls für die untersuchten Bereiche nicht festgestellt werden – im Gegenteil: die weitgehende Konsistenz hat systembildende Wirkung. Denn obgleich die Investitionsschiedsgerichtsbarkeit kein Präjudizienrecht im Sinne von binding precedents kennt und obgleich sich das Investitionsrecht deshalb auch nicht als Case Law nach angloamerikanischem Vorbild gestaltet bzw. gestalten wird, kann mit Paulsson festgehalten werden,
„that a special jurisprudence is developing from the leading awards in the domain of investment arbitration can only be denied by those determined to close their eyes”.
Dieser Beitrag stellt die Dissertation „Präzedenzwirkung internationaler Schiedssprüche: Dogmatisch-empirische Analysen zur Handels- und Investitionsschiedsgerichtsbarkeit“ von Valériane König vor, die mit dem deutsch-französischen CMS-Preis ausgezeichnet wurde und in Kürze bei De Gruyter erscheint. Valériane König hat an der Humboldt-Universität zu Berlin promoviert.