19. Oktober 2010
Öffentliches Wirtschaftsrecht

Der Kommentarautor sitzt nicht am Richtertisch

Das Bundesverwaltungsgericht hat  jüngst  im Hinblick auf die richterliche Entscheidungsfindung das Zurückgreifen auf Kommentarliteratur für zulässig erachtet (Beschluss vom 22. September 2010, 9 B 67.10).

Der juristische Praktiker stutzt sofort. Zurückgreifen auf Kommentarliteratur? Greift man nicht bereits seit Studienzeiten stets als allererstes – teilweise sogar noch vor Lektüre des Gesetzes – zum einschlägigen Kommentar, wenn eine mehr oder weniger neue Rechtsfrage zu beurteilen ist? Das dürfen Richter doch selbstverständlich auch, oder? Warum musste das Bundesverwaltungsgericht also überhaupt eine Entscheidung mit diesem – wenig überraschenden – Ergebnis treffen?

Der Beschwerdeführer hatte in einer kommunalabgabenrechtlichen Streitigkeit ein Urteil des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts mit folgender Argumentation im Wege der Nichtzulassungsbeschwerde angegriffen: Ein revisibler Verfahrensmangel in Form eines Besetzungsmangels nach § 138 Nr. 1 VwGO sei darin zu sehen, dass das Oberverwaltungsgericht anstelle einer eigenen richterlichen Entscheidung die rechtliche Beurteilung des Rechtsstreits in einem Gesetzeskommentar ungeprüft übernommen habe.

Nach Auffassung des Beschwerdeführers sitzt also der Kommentarautor – immer dann, wenn  für die gerichtliche Entscheidung rechtliche Beurteilungen aus einem Kommentar entnommen werden – gewissermaßen als (zusätzlicher) Richter mit am Richtertisch bzw. „ersetzt″ gegebenenfalls sogar die zur Entscheidung berufenen Richter.

Das Bundesverwaltungsgericht hat dieser durchaus kreativen Auffassung allerdings eine Absage erteilt und die Nichtzulassungsbeschwerde zurückgewiesen:

§ 138 Nr. 1 VwGO i.V.m. Art. 101 Abs. 2 Satz 1 GG setzten voraus, dass der nach den maßgeblichen Besetzungsvorschriften zur Entscheidung berufene Richter die Entscheidung in eigener Person treffe. Das schließe aber nicht aus, zur richterlichen Entscheidungsfindung auf rechtliche Überlegungen von anderer Seite – namentlich in Gestalt bereits vorhandener Rechtsprechung und Kommentarliteratur – zurückzugreifen und sich diese zu eigen zu machen, so das Bundesverwaltungsgericht. Auch dass diese Überlegungen wie im vorliegenden Fall in Auseinandersetzung mit vorangegangenen Judikaten, die denselben Streitfall betrafen, entwickelt und exemplarisch erläutert worden seien, rechtfertige keine andere Beurteilung.

Der Beschwerdeführer hatte das Vorliegen einer eigenen Entscheidung des Berufungsgerichts daneben mit der Begründung angegriffen, das Gericht habe die in dem herangezogenen Kommentar erfolgte Beurteilung keiner kritischen Würdigung unterzogen und nicht einmal geprüft, ob deren Anwendungsvoraussetzungen vorliegen.

Auch dieser Argumentation wollte das Bundesverwaltungsgericht nicht folgen: Ob ein Gericht sich mit einer von anderer Seite vertretenen Rechtsauffassung kritisch auseinandersetze oder sich dieser ohne eingehendere Prüfung anschließe und zudem ihre Anwendungsvoraussetzungen verkenne, betreffe den inneren Vorgang der richterlichen Rechtsfindung; Defizite in dieser Hinsicht änderten jedoch nichts daran, dass das Urteil Ergebnis seiner eigenen Überzeugungsbildung sei.

Die Rüge nicht vorschriftsmäßiger Besetzung des Berufungsgerichts war daher im Ergebnis unbegründet. Richter können zur Unterstützung der richterlichen Entscheidungsfindung also weiterhin guten Gewissens zu den Gesetzeskommentaren greifen. Der Kommentarautor sitzt also nicht am Richtertisch.

Tags: Besetzungsmangel Kommentar Nichtzulassungsbeschwerde Prozessrecht Verwaltungsgerichte