Gewährt die öffentliche Hand Bürgschaften zu marktunüblichen Konditionen, so liegt darin eine Beihilfe nach Art. 107 Abs. 1 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Wird diese ohne vorhergehende Genehmigung oder Freistellung durch die Europäische Kommission gewährt, so verstößt das staatliche Handeln gegen das Durchführungsverbot des Art. 108 Abs. 3 S. 3 AEUV. Ungeklärt ist in diesem Zusammenhang, ob die Verletzung des Durchführungsverbots sich auch auf eine staatliche Bürgschaft auswirkt und zu deren gänzlicher oder teilweiser Nichtigkeit führt. Mit dieser Frage hat sich nun die Generalanwältin Kokott in ihren jüngst veröffentlichten Schlussanträgen in der Rechtssache C-275/10 auseinandergesetzt. Sie ist dabei zu dem Ergebnis gekommen, dass im Regelfall keine Nichtigkeit des Bürgschaftsvertrages anzunehmen ist.
Werden Beihilfen in der Form von Bürgschaften gewährt, so ergeben sich eine Reihe schwieriger Rechtsfragen. Dies rührt daher, dass nicht nur zwei, sondern drei Parteien beteiligt sind: Dies sind die öffentliche Hand als Bürge, zumeist ein Kreditinstitut als Gläubiger der Bürgschaft und Kreditgeber, sowie der Kreditnehmer. Geklärt ist seit geraumer Zeit, dass das Beihilfeelement üblicherweise im Bürgschaftsübernahmeversprechen zwischen öffentlicher Hand und Kreditnehmer zu lokalisieren ist. Wird die Bürgschaftsgewährung zu marktunüblichen Konditionen versprochen, so besteht die Beihilfe regelmäßig in der Differenz zwischen marktüblicher und tatsächlich verlangter Avalprovision.
Die Frage hingegen, ob und inwieweit sich eine vorzeitige Beihilfegewährung auf das Rechtsverhältnis zwischen öffentlicher Hand und dem Kreditgeber, das heißt, auf den Bürgschaftsvertrag auswirkt, war in den vergangenen Jahren Gegenstand intensiver Diskussionen. In einer vielbeachteten Entscheidung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 2003 urteilte dieser, dass eine vorzeitige Beihilfegewährung unter Verstoß gegen das Durchführungsverbot zu einer Nichtigkeit der gewährenden Verträge nach § 134 BGB führt. Schnell stellte sich die Frage, ob die Fehlerhaftigkeit des Bürgschaftsübernahmeversprechens auf den Bürgschaftsvertrag „durchschlagen″ und diesen nichtig machen könnte.
In dem nun zu entscheidenden Fall hatte das Unternehmen Residex Capital IV CV (Residex) im Jahre 2001 eine Beteiligung an einer Tochtergesellschaft von RDM Aerospace NV (Aerospace) erworben und 2003 wieder an Aerospace zurückveräußert. Etwas später stimmte Residex der Umwandlung des Kaufpreises in ein Darlehen zu, das die Hafenbehörde der Stadt Rotterdam durch eine Bürgschaft absicherte. Die Bürgschaft wurde nicht bei der Europäischen Kommission notifiziert. Als Residex die Hafenbehörde aus der Bürgschaft in Anspruch nehmen wollte, verweigerte diese die Zahlung. Die hiergegen gerichtete Klage blieb in den beiden Vorinstanzen erfolglos. Man argumentierte, dass die Bürgschaft Beihilfeelemente enthalte. Da die Bürgschaft nicht notifiziert worden sei, verstoße sie gegen das Durchführungsverbot und sei damit nichtig. Der niederländische Hoge Raad legte dann als weitere Rechtsmittelinstanz die Frage nach der Nichtigkeit des Bürgschaftsvertrags dem Europäischen Gerichtshof vor.
In dem Vorlageverfahren kommt Frau Kokott in ihren Schlussanträgen nun zu dem Ergebnis, dass sich eine unrechtmäßige vorzeitige Beihilfegewährung (in der Form nicht marktgerechter Avale) zugunsten des Kreditnehmers nicht auf den Bürgschaftsvertrag auswirkt. Dieser ist damit nicht nichtig. Sie trägt dazu vor, dass eine Nichtigkeitsfolge weder der älteren Gemeinschaftsrechtsprechung entnommen werden könne noch geboten sei. Es sei nämlich nicht sichergestellt, dass bei einer Nichtigkeit der Bürgschaft das gewährte Darlehen umgehend zurückgezahlt werde, um so die Wettbewerbsverfälschung zu beheben. Zudem sei eine Rückzahlung in den meisten Fällen europarechtlich nicht erforderlich. Da der Vorteil regelmäßig nur in dem Provisionsunterschied gegenüber einer marktüblichen Provision liege, würde man mit einer Darlehensrückzahlung über das Ziel hinausschießen. Darüber hinaus würde auch das wirtschaftliche Risiko des Zahlungsausfalls auf den Kreditgeber übergehen, was zu einem unangemessenen Anreiz für die öffentliche Hand führen könne, leichtfertig Bürgschaften zu vergeben. Gleichzeitig könnte sich die Risikoverlagerung auf den Kreditgeber negativ auf die Versorgung von Unternehmen mit Kapital auswirken.
Anders sei die Sache jedoch zu entscheiden, wenn die Bürgschaft ausnahmsweise eine unzulässige – weil wiederum vorzeitig gewährte – Beihilfe an den Kreditgeber darstelle. Dies könne etwa bei der nachträglichen Forderungsabsicherung der Fall sein (was vorliegend nicht auszuschließen sei). In diesem Fall sei eine Unwirksamkeit auch des Bürgschaftsvertrags europarechtlich erforderlich.
Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs steht noch aus. Mit dieser ist in den kommenden Monaten zu rechnen.