Einschränkung des Einfriereffekts in der SE, Verschärfung der Konzernzurechnung nach dem DrittelbG und Mehr – was kommt auf die Unternehmen zu?
Die Verschärfung der Unternehmensmitbestimmung haben SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bereits in ihren Bundestagswahlprogrammen ausdrücklich als Ziel formuliert. So hatte die SPD in ihrem Wahlprogramm u.a. angekündigt, die deutsche Mitbestimmung auf Unternehmen ausländischer Rechtsformen zu erweitern, die Schwellenwerte für die Anwendung der Mitbestimmungsgesetze abzusenken sowie die Parität in mitbestimmten Aufsichtsräten zu stärken. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN formulierten ähnliche Ziele, nämlich ganz konkret die Absenkung des Schwellenwerts für das Eingreifen des Mitbestimmungsgesetzes (MitbestG) von derzeit 2.000 im Inland beschäftigten Arbeitnehmern* (AN) auf 1.000 AN sowie die Stärkung der paritätischen Mitbestimmung durch Einführung weiterer Schlichtungsverfahren.
Daher überrascht es einerseits nicht, dass die Verschärfung der Unternehmensmitbestimmung auch nach dem Koalitionsvertrag der Ampel auf der Agenda steht. Andererseits ist es doch verblüffend, welche Maßnahmen sich die neue Koalition nunmehr konkret vorgenommen hat, nämlich:
- Verhinderung missbräuchlicher Umgehungen des geltenden Mitbestimmungsrechts;
- Weiterentwicklung des Mitbestimmungsrechts, sodass der im SE-Recht geltende „Einfriereffekt“ eingeschränkt wird;
- Übertragung der Konzernzurechnung aus dem MitbestG auf das Drittelbeteiligungsgesetz (DrittelbG);
- Respektierung und Sicherung nationaler Beteiligungsrechte bei grenzüberschreitenden Umwandlungen, Verschmelzungen und Spaltungen von Gesellschaften.
Diese Maßnahmen decken sich kaum mit den erwähnten Vorhaben aus den Wahlprogrammen. Über die Hintergründe kann nur spekuliert werden. Fest steht jedoch, dass die im Koalitionsvertrag angekündigten Maßnahmen, sofern es zu ihrer Umsetzung kommt, erhebliche Auswirkungen auf viele Unternehmen in Deutschland haben werden. Der vorliegende Beitrag ordnet die angekündigten Maßnahmen in das geltende Regime der unternehmerischen Mitbestimmung ein und gibt eine Einschätzung zu den Auswirkungen auf Unternehmen in Deutschland.
Verhinderung missbräuchlicher Umgehungen von Mitbestimmungsrechten
Missbräuchliche Umgehung geltenden Mitbestimmungsrechts wollen wir verhindern
heißt es wörtlich im Koalitionsvertrag. Das könnte zum einen als ein allgemeiner und für sich alleinstehender Programmpunkt mit verschiedenen (nicht näher konkretisierten) Maßnahmen zu verstehen sein. So könnte sich dahinter etwa die von der SPD geforderte Erweiterung der deutschen Mitbestimmung auf ausländische Rechtsformen verbergen. Heute finden die deutschen Regelungen zur Unternehmensmitbestimmung auf ausländische Gesellschaftsformen mit Verwaltungssitz in Deutschland nämlich keine Anwendung. Sollte es insoweit zu einer Verschärfung kommen, würde dies in der Praxis vor allem Unternehmen mit über 500 bzw. 2.000 AN betreffen, die eine ausländische Rechtsform mit Verwaltungssitz in Deutschland haben oder die in der Rechtsform einer deutschen Kommanditgesellschaft mit einer ausländischen Komplementärin organisiert sind. Bei solchen Unternehmen geht heute die in § 4 Abs. 1 MitbestG vorgesehene Zurechnung der AN auf die Komplementärin ins Leere.
Ob die Ampel-Koalition aber mit „missbräuchlicher Umgehung geltenden Mitbestimmungsrechts“ gerade solche Konstellationen meint, ist unklar. Im Hinblick auf die EU-Niederlassungsfreiheit und das Territorialitätsprinzip dürfte die Erstreckung der deutschen Mitbestimmung auf ausländische Gesellschaftsformen schwierig werden. Man könnte diesen Satz vielmehr auch so verstehen, dass er sich „nur“ auf die nachfolgenden Ausführungen zur Einschränkung des „Einfriereffekts“ bei der Europäischen Aktiengesellschaft (SE) bezieht.
Einschränkung des „Einfriereffekts“ in der SE
Die Bundesregierung wird sich dafür einsetzen, dass die Unternehmensmitbestimmung weiterentwickelt wird, sodass es nicht mehr zur vollständigen Mitbestimmungsvermeidung beim Zuwachs von SE-Gesellschaften kommen kann („Einfriereffekt“).
Die Formulierung dieses Programmpunkts der Ampel-Koalition ist missglückt und daher aus sich heraus schwer verständlich.
Für die SE gilt ein eigenes, europäisches Mitbestimmungsregime aufgrund der Richtlinie 2001/86/EG des Rates vom 8. Oktober 2001 und des SE-Beteiligungsgesetzes (SEBG). Im Rahmen der SE-Gründung wird demnach der Mitbestimmungsstatus mit den AN verhandelt. Vorbehaltlich des Vorher-nachher-Prinzips, nach dem vor Gründung einer SE bestehende Rechte der Arbeitnehmer nicht gemindert werden können, kann die SE ohne Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat bzw. Verwaltungsrat errichtet werden, wenn dies mit den AN vereinbart wird oder keine Einigung zustande kommt. Dieser Status bleibt der SE vorbehaltlich bestimmter struktureller Änderungen grundsätzlich dauerhaft erhalten, und zwar insbesondere auch dann, wenn die SE organisch wächst und dadurch immer mehr Arbeitnehmer beschäftigt – der sogenannte „Einfriereffekt“. Die Überschreitung von Schwellenwerten nach dem DrittelbG oder dem MitbestG hat keine Auswirkungen.
Vor diesem Hintergrund ist wohl gemeint, dass sich die Bundesregierung dafür einsetzen will, dass in einer SE der im Rahmen des Arbeitnehmerbeteiligungsverfahrens erzielte mitbestimmungsfreie Status nicht dauerhaft erhalten bleiben kann, wenn es zu einem Zuwachs von AN in der SE kommt.
Zu beachten ist hierbei, dass das SE-Recht auf der oben erwähnten SE-Richtlinie sowie der SE-Verordnung fußt, sodass der deutsche Gesetzgeber ohne einen Konsens auf EU-Ebene wenig im Alleingang bewirken kann. Das erklärt auch die zurückhaltende Formulierung
Die Bundesregierung wird sich dafür einsetzen, dass …
Letztlich möchte also die Bundesregierung erreichen, dass die einst sehr mühsam gefundene Kompromisslösung der Mitgliedstaaten zur Ausgestaltung der Mitbestimmung in der SE verschärft wird. Dabei muss man wissen, dass die deutsche Unternehmensmitbestimmung im europäischen Vergleich sehr weitreichend ist. Insbesondere die paritätische Besetzung des Aufsichtsrats nach dem MitbestG ist eine deutsche Besonderheit und in dieser Art europaweit einmalig. Dies führte seinerzeit bei den Verhandlungen der Mitgliedstaaten über die Mitbestimmung in der SE bereits zu erheblichen Konflikten und hätte fast das Scheitern der Bemühungen um die Einführung der SE bedeutet. Daher ist damit zu rechnen, dass die Bundesregierung mit ihrem Anliegen auch heute auf erheblichen Widerstand stoßen würde. Die Verschärfung der SE-Richtlinie ist unwahrscheinlich.
Auf nationaler Ebene hätte die Bundesregierung allenfalls die Möglichkeit, durch nähere Konkretisierung des SEBG für gewisse Einschränkungen zu sorgen. Sind strukturelle Änderungen der SE geplant, die geeignet sind, Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer zu mindern, finden auf Veranlassung der Leitung der SE oder des SE-Betriebsrats Verhandlungen über die Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer der SE statt (§ 18 Abs. 3 Satz 1 SEBG). Unter diesen Voraussetzungen kann also der eingefrorene Mitbestimmungsstatus wieder aufgetaut werden. Was strukturelle Änderungen mit Eignung zur Minderung von Beteiligungsrechten sind, ist im SEBG nicht weiter konkretisiert. In der juristischen Literatur ist insoweit vieles umstritten. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie die Gewerkschaften verlangen seit längerem eine Konkretisierung und verweisen auf entsprechende Regelungen in anderen Mitgliedstaaten, beispielsweise in Österreich. Fraglich ist aber, inwiefern eine Konkretisierung des SEBG ohne Anpassung der zugrunde liegenden EU-Rechtsakte zulässig wäre.
Insofern hat sich die neue Bundesregierung also ein sehr ambitioniertes Ziel gesetzt. Man darf gespannt sein, ob es bei den angekündigten Bemühungen bleibt oder es tatsächlich zu Änderungen kommt.
Verschärfung der Konzernzurechnung nach dem DrittelbG
Viel leichter dürfte es die Bundesregierung hingegen mit einer Verschärfung der Unternehmensmitbestimmung nach dem DrittelbG haben, das seinen Ursprung nicht im EU-Recht hat. Die Konzernzurechnungsregelungen aus dem MitbestG sollen dabei auf das DrittelbG übertragen werden. Zur Unternehmensmitbestimmung im Konzern und den verschiedenen Zurechnungsregelungen haben wir bereits kürzlich gebloggt.
Nach dem DrittelbG ist in einer AG, KGaA, GmbH, Genossenschaft und einem VVaG grundsätzlich ein mitbestimmter Aufsichtsrat, der zu einem Drittel aus AN-Vertretern besteht, einzurichten, wenn das Unternehmen in der Regel mehr als 500 AN beschäftigt. Eine (Kapitalgesellschaft & Co.) KG ist vom DrittelbG nicht erfasst. Die AN eines Konzernunternehmens werden dabei nach dem geltenden § 2 Abs. 2 DrittelbG dem herrschenden Unternehmen nur zugerechnet, wenn zwischen den Unternehmen ein Beherrschungsvertrag besteht oder das abhängige Unternehmen in das herrschende Unternehmen eingegliedert ist. Die angekündigte Übertragung der Konzernzurechnung aus dem MitbestG würde bedeuten, dass insbesondere folgende Zurechnungstatbestände neben dem Bestehen eines Beherrschungsvertrags hinzukommen würden:
- Zurechnung zur Konzernspitze: Zurechnung der AN aller Konzernunternehmen zu dem herrschenden Unternehmen eines Konzerns im Sinne des § 18 Abs. 1 AktG, sodass insbesondere bereits die mehrheitliche Beteiligung an einem Unternehmen die Zurechnung grundsätzlich auslöst (gilt heute nur gemäß § 5 Abs. 1 MitbestG für Unternehmen mit insgesamt mehr als 2.000 AN);
- Zurechnung zur Teilkonzernspitze: Zurechnung der AN aller Konzernunternehmen zu dem Unternehmen, das dem herrschenden Unternehmen am nächsten steht, wenn das herrschende Unternehmen selbst nicht der deutschen Mitbestimmung unterliegt, z.B. eine ausländische Gesellschaft (gilt heute nur gemäß § 5 Abs. 3 MitbestG für Unternehmen mit insgesamt mehr als 2.000 AN).
Konsequenterweise würden dann für Unternehmen mit mehr als 500 und weniger als 2.000 AN auch die gesetzlich nicht geregelten Konzernzurechnungstatbestände gelten, die heute nur bei Gesellschaften in Frage kommen, die dem MitbestG unterliegen. Damit ist vor allem die Rechtsfigur des Konzerns im Konzern, die (wechselseitige) AN-Zurechnung in Gemeinschaftsbetrieben sowie die Zurechnung in Gemeinschaftsunternehmen gemeint (näher dazu Unternehmensmitbestimmung im Konzern).
Unklar ist, ob die neue Koalition in diesem Zuge auch plant, den Zurechnungstatbestand des § 4 Abs. 1 MitbestG auf drittelbeteiligte Unternehmen zu übertragen. Das würde bedeuten, dass Kommanditgesellschaften mit bereits mehr als 500 AN in ihrer Komplementärin einen drittelbeteiligten Aufsichtsrat einrichten müssten, wenn die Komplementärin eine AG, KGaA, GmbH, Genossenschaft oder ein VVaG wäre und die Mehrheit der Kommanditisten auch in der Komplementärgesellschaft die Mehrheit hätte oder es sich um eine Einheits-KG handelt. Diese Zurechnungsregel des MitbestG zählt jedoch systematisch nicht zur Konzernzurechnung, jedenfalls nicht im engeren Sinne. Unabhängig davon könnte eine Zurechnung der AN einer KG zu ihrer Komplementärgesellschaft aber auch über den allgemeinen Konzernzurechnungstatbestand der einheitlichen Leitung erfolgen. Bei Gesellschaften, die dem MitbestG unterliegen, ist dies heute nach herrschender Meinung auch unabhängig vom § 4 Abs. 1 MitbestG unter bestimmten Voraussetzungen möglich. Dies würde künftig konsequenterweise auch für drittelbeteiligte Gesellschaften gelten.
Die geplanten Änderungen werden damit ganz erhebliche Auswirkungen auf Unternehmensgruppen haben, die heute in der Regel weniger als 2.000 AN und mehr als 500 AN im Inland beschäftigen.
Sicherung nationaler Beteiligungsrechte bei grenzüberschreitenden Umwandlungen
Wir wollen demokratische Mitbestimmung auf europäischer Ebene und europäische Betriebsräte fördern und wirkungsvoll weiterentwickeln. Auch bei grenzüberschreitenden Umwandlungen, Verschmelzungen und Spaltungen von Gesellschaften müssen nationale Beteiligungsrechte respektiert und gesichert werden.
Auch im Zusammenhang mit grenzüberschreitenden Umwandlungen verweist die Ampel-Koalition auf die Sicherung nationaler Beteiligungsrechte. Insoweit ist jedoch unklar, ob mit „nationalen Beteiligungsrechten“ überhaupt die Unternehmensmitbestimmung gemeint ist. Grenzüberschreitende Verschmelzungen sind heute auf Basis der Verschmelzungsrichtlinie (RL 2017/1132/EU) möglich. Die Mobilitätsrichtlinie (RL 2019/2121/EU) ermöglicht künftig neben der grenzüberschreitenden Verschmelzung auch grenzüberschreitende Umwandlungen und Spaltungen. Die Umsetzung auf nationaler Ebene erfolgt bis 2023. Die unternehmerische Mitbestimmung wird im Zuge solcher Umwandlungen (ähnlich wie bei der SE) im Rahmen von Verhandlungen mit den AN festgelegt. Die Mobilitätsrichtlinie sieht auch die Wahrung nationaler Mitbestimmungsrechte vor. Es bleibt abzuwarten, wie der deutsche Gesetzgeber dies im Einzelnen konkret ausgestalten wird.
Drohende Verschärfung betrifft viele Unternehmen und Unternehmensgruppen
Die neue Ampel-Koalition plant, die Unternehmensmitbestimmung in verschiedenen Bereichen deutlich zu verschärfen. Am einfachsten und schnellsten dürfte ihr dies bei der Übertragung der Konzernzurechnungsregeln aus dem MitbestG auf das DrittelbG gelingen. Von allen geplanten Maßnahmen wäre dies zugleich diejenige, die in der Praxis die meisten Auswirkungen hätte, weil viele Unternehmen betroffen wären. Solche Unternehmen müssen sich jetzt dringend Gedanken machen, wie sie sich bei dem Thema Unternehmensmitbestimmung aufstellen.
Da eine nachhaltige Einschränkung des „Einfriereffekts“ in der SE ungleich schwieriger durchzusetzen sein dürfte, könnten die Pläne der Ampel-Koalition, die deutsche Mitbestimmung zu erhalten und weiterzuentwickeln, genau den gegenteiligen Effekt auslösen und die „Flucht“ deutscher Unternehmen in die SE bzw. SE & Co. KG weiter befördern.
In unserer Blog-Serie „Ampel 21 – Auswirkungen des Koalitionsvertrages“ halten wir Sie zu den Auswirkungen des Koalitionsvertrages für in den verschiedenen Sektoren tätige Unternehmen auf dem Laufenden.
*Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Lediglich der leichteren Lesbarkeit halber wird künftig bei allen Bezeichnungen nur noch die grammatikalisch männliche Form verwendet.