8. November 2022
Sitzgarantie Umwandlung SE Gewerkschaft Bestandsschutz
Arbeitsrecht

EuGH zur Sitzgarantie von Gewerkschaften bei SE-Umwandlung

Dem EuGH zufolge ist die Sitzgarantie der Gewerkschaften bei Umwandlung in eine SE zu beachten. Dies hat praktische Auswirkungen bei der Planung eines Gründungsvorhabens.

Für die Mitbestimmung der Arbeitnehmer* in einer SE (Societas Europaea = Europäische Aktiengesellschaft) gilt, dass sie im Rahmen der Gründung zwischen der Leitung des beteiligten Unternehmens und Arbeitnehmervertretern (dem sog. besonderen Verhandlungsgremium) vereinbart und ausgestaltet werden soll. Die diesbezüglichen Regelungen sind in einer sog. Beteiligungsvereinbarung (vgl. § 21 Abs. 1 Gesetz über die Beteiligung der Arbeitnehmer in einer Europäischen Gesellschaft [SE-Beteiligungsgesetz – SEBG]) niederzulegen. 

Nur wenn zwischen dem Arbeitgeber und den Arbeitnehmervertretern keine Einigung erzielt wird, gelten gesetzliche Auffangregelungen für die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in der SE (vgl. §§ 22 ff. SEBG). 

Gestaltungsspielraum im Rahmen einer Beteiligungsvereinbarung ist nicht grenzenlos

Dieser Vorrang der Verhandlungsautonomie eröffnet den Parteien zunächst einen nicht unerheblichen Spielraum bei der Ausgestaltung der Mitbestimmung der Arbeitnehmer. So können die Parteien bspw. Wahlverfahren gegenüber den gesetzlichen (Auffang-)Regelungen vereinfachen und dadurch sowohl den tatsächlichen Aufwand als auch die damit verbundenen Kosten senken. Insbesondere wenn eine SE durch eine (formwechselnde) Umwandlung einer Aktiengesellschaft gegründet wird, ist dieser Gestaltungsspielraum aber eingeschränkt.

Wird zwischen den Parteien des im Rahmen der SE-Gründung grds. durchzuführenden Arbeitnehmerbeteiligungsverfahrens eine Beteiligungsvereinbarung geschlossen, muss für diese in Bezug auf alle Komponenten der Arbeitnehmerbeteiligung zumindest das gleiche Ausmaß gewährleistet werden, das in der Gesellschaft besteht, die in eine SE umgewandelt werden soll (vgl. § 21 Abs. 6 SEBG).

Reichweite des Bestandsschutzes für Vorgaben für die Mitbestimmung der Arbeitnehmer

Gerade bei einer durch Umwandlung gegründeten SE sieht das Gesetz somit einen Bestandsschutz für Vorgaben vor, die das nationale Recht des Mitgliedstaates, in dem die in eine SE umzuwandelnde Gesellschaft ihren Sitz hat, für die Mitbestimmung der Arbeitnehmer macht. Durch die Rechtsprechung war bislang nicht abschließend geklärt, wie weit dieser Bestandsschutz reicht.

In seinem Urteil vom 18. Oktober 2022 (Az. C-677/20) gibt der Europäische Gerichtshof (EuGH) eine erste Richtung vor. Gegenstand des Urteils ist eine Vorlage durch das Bundesarbeitsgericht (BAG) zur Auslegung einer Vorschrift des deutschen Mitbestimmungsgesetzes (MitbestG). 

Bei Aktiengesellschaften mit i.d.R. mehr als 2.000 Beschäftigten richtet sich die Mitbestimmung der Arbeitnehmer nach dem MitbestG. Neben einer paritätischen Besetzung des Aufsichtsrats sieht das Gesetz auch vor, dass sich unter den Aufsichtsratsmitgliedern der Arbeitnehmer auch eine bestimmte Anzahl von Gewerkschaftsvertretern befinden muss (§ 7 Abs. 2 MitbestG). Diese Gewerkschaftsvertreter werden in einem gesonderten Wahlgang – also unabhängig von den weiteren Arbeitnehmervertretern – gewählt (vgl. § 16 Abs. 2 S. 1 MitbestG). 

Versuch einer Beteiligungsvereinbarung ohne gesonderten Wahlgang für Gewerkschaftsvertreter

Im Jahr 2014 wurde die gegenständliche SE im Wege der formwechselnden Umwandlung gegründet. Vor der Umwandlung bestand der Aufsichtsrat der Aktiengesellschaft aus 16 Mitgliedern, davon 8 Arbeitnehmervertreter; Letztere setzten sich zusammen aus 6 unternehmensangehörigen Arbeitnehmern und 2 Gewerkschaftsvertretern (vgl. § 7 Abs. 2 MitbestG).

Die im Rahmen des Gründungsverfahrens für die SE abgeschlossene Beteiligungsvereinbarung regelte u.a. die Möglichkeit, in der SE die bisherige Größe des Aufsichtsrats zu verkleinern, der aber weiterhin paritätisch besetzt werden sollte. Allerdings sah das in der Beteiligungsvereinbarung geregelte Wahlverfahren – abweichend von den Regelungen des MitbestG – keinen gesonderten Wahlgang für Gewerkschaftsvertreter vor. Zwar konnten die Gewerkschaften Wahlvorschläge für einen Teil der auf die deutschen Arbeitnehmervertreter entfallenden Sitze machen. Die vorgeschlagenen Personen sollten jedoch in einem gemeinsamen Wahlgang mit den weiteren Arbeitnehmervertretern gewählt werden. Dadurch war also gerade nicht gewährleistet, dass die von den Gewerkschaften vorgeschlagenen Vertreter auch tatsächlich ihren Weg in den Aufsichtsrat finden.

Hiergegen wendeten sich die in der Gesellschaft vertretenen Gewerkschaften mit der Begründung, auch die im Mitbestimmungsgesetz gewährleistete Sitzgarantie sei eine „Komponente“ der Arbeitnehmerbeteiligung i.S.d. § 21 Abs. 6 SEBG und müsse daher in der Beteiligungsvereinbarung zumindest in dem Ausmaß gewährleistet werden, das vor der Umwandlung bestanden habe.

Die Instanzengerichte lehnten die Anträge der Gewerkschaften ab und legten die Regelung des § 21 Abs. 6 SEBG dahingehend aus, dass diese nicht die gesetzlich vorgesehene Sitzgarantie der Gewerkschaften erfasse.

BAG: Bestandsschutz umfasst auch einen gesonderten Wahlgang für die von der Gewerkschaft vorgeschlagenen Kandidaten

Der Rechtsstreit landete daher vor dem ersten Senat des BAG, der das Verfahren im Jahr 2020 dem EuGH zur Entscheidung vorlegte. In dem Vorlagebeschluss vom 18. August 2020 (Az. 1 ABR 43/18 [A]) führte das BAG aus, dass § 21 Abs. 6 SEBG so zu verstehen sei, dass das für die Aktiengesellschaft nach dem deutschen Recht geltende Mitbestimmungsregime zwar nicht vollständig aufrechterhalten werden müsse. Allerdings müssten die „prägenden Elemente des Verfahrens“ zur Beteiligung der Arbeitnehmer in Form der Einflussnahme durch die Vertreter der Arbeitnehmer auf die Beschlussfassung in der Gesellschaft erhalten bleiben.

Hierzu gehörte nach Auffassung des BAG auch das gesonderte Wahlverfahren für die Gewerkschaftsvertreter gem. § 16 Abs. 2 S. 1 MitbestG. Denn hierdurch werde sichergestellt, dass der Arbeitnehmerbank im Aufsichtsrat Personen angehören, die in einem hohen Maß mit den Gegebenheiten und Bedürfnissen des Unternehmens vertraut seien und über externen Sachverstand verfügen. Gleichzeitig sei die Unabhängigkeit der externen Gewerkschaftsvertreter ein wichtiges Element der Mitbestimmung. 

Gleichwohl legte das BAG den Rechtsstreit dem EuGH vor und fragte diesen, ob diese Auslegung mit den Vorgaben der SE-Beteiligungsrichtlinie (vgl. Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2001/86/ EG) vereinbar sei. Denn sollte die Richtlinie ein einheitliches, geringeres Schutzniveau vorsehen, müsste auch die nationale Norm (§ 21 Abs. 6 SEBG) entsprechend unionsrechtskonform ausgelegt werden.

EuGH: Maßgeblich ist das nationale Recht

Der EuGH (Urteil v. 18. Oktober 2022 – C-677/20) entschied, dass Art. 4 Abs. 4 der SE-Richtlinie dahingehend auszulegen sei, dass eine Beteiligungsvereinbarung im Falle der Gründung einer SE durch Umwandlung einen gesonderten Wahlgang für Gewerkschaftsvertreter umfassen müsse, sofern dies nach nationalem Recht vorgesehen sei. Der Richtlinie zufolge müsse eine Beteiligungsvereinbarung in diesem Fall die Arbeitnehmerbeteiligung bezüglich aller Komponenten im zumindest gleichen Ausmaß gewährleisten, wie es in der Gesellschaft bestehe, die in eine SE umgewandelt werden solle. 

Dies bezöge sich gerade auch auf das Wahlverfahren. Der Ausdruck „alle Komponenten“ sei so zu verstehen, dass die für die Mitbestimmung kennzeichnenden Komponenten zu berücksichtigen seien. Gleichzeitig verweise die Richtlinie auf das nationale Recht, indem sie das (nationale) Mitbestimmungsstatut der Ausgangsgesellschaft für maßgeblich erkläre. Maßgeblich seien daher die Wertungen des nationalen Gesetzgebers sowie die relevanten nationalen Gepflogenheiten. Ein einheitliches europäisches Schutzniveau sei im Falle der SE gerade nicht vorgesehen, da der europäische Gesetzgeber aufgrund der Vielfalt der in den Mitgliedstaaten bestehenden Regelungen und Gepflogenheiten von einer Vereinheitlichung abgesehen habe. 

Im Ergebnis müsse daher eine Beteiligungsvereinbarung ein gesondertes Wahlverfahren für Gewerkschaftsvertreter vorsehen, wenn das nationale Recht ein solches gesondertes Wahlverfahren vorschreibt.

Reichweite des Wahlverfahrens: Ausweitung auf sämtliche Arbeitnehmer der SE

Zuletzt stellte der EuGH klar, dass dieses durch das deutsche Recht geprägte Wahlverfahren für alle Arbeitnehmer in der SE gelte. Denn Ziel der Richtlinie sei es nicht nur, die bestehenden Rechte der Arbeitnehmer der Ausgangsgesellschaft zu sichern. Vielmehr solle auch eine Ausweitung dieser Rechte auf alle Arbeitnehmer in der SE erreicht werden.

Dies bedeute auch, dass im Zusammenhang mit diesem Wahlgang die Gleichheit der Gewerkschaften gewährleistet werden müsse: Das Vorschlagsrecht stehe daher nicht nur deutschen Gewerkschaften zu, sondern allen in der SE, ihren Tochtergesellschaften und Betrieben vertretenen Gewerkschaften (d.h. auch den ausländischen). 

Der EuGH hat sich im Ergebnis der Auffassung des BAG angeschlossen und auf europarechtlicher Ebene bestätigt, dass eine im Rahmen der SE-Gründung durch Umwandlung geschlossene Beteiligungsvereinbarung einen gesonderten Wahlgang für Gewerkschaftsvertreter vorsehen muss, wenn das nationale Recht dies vorschreibt. 

Rechtzeitige Planung einer SE-Gründung durch Umwandlung ratsam

Praktische Relevanz hat das Urteil daher in erster Linie für europäische Aktiengesellschaften (SE), die durch Umwandlung gegründet wurden und zuvor dem deutschen MitbestG unterlagen. Gewährleistet deren Beteiligungsvereinbarung die Sitzgarantie der Gewerkschaften nicht, leidet sie unter einem materiellen Mangel, der – nach bislang nicht höchstrichterlich bestätigter, aber überwiegender Auffassung – durch ergänzende Auslegung und typischerweise unter Rückgriff auf die gesetzlichen Auffangregelungen des SEBG zu schließen ist.

Eine Gesamtunwirksamkeit der Beteiligungsvereinbarung dürfte der Mangel hingegen nicht zur Folge haben. Auch für das Wahlverfahren der im europäischen Ausland gelegenen Tochtergesellschaften/Betriebe der SE hat das EuGH-Urteil Relevanz. Denn auch in Bezug auf diese Unternehmen dürfte in der Beteiligungsvereinbarung ein gesonderter Wahlgang für Gewerkschaftsvertreter vorzusehen sein. 

Offen bleibt aber nach wie vor, welche sonstigen nationalen Verfahrenselemente zwingend ihren Niederschlag in einer im Rahmen der Umwandlungsgründung geschlossenen Beteiligungsvereinbarung finden müssen. Insoweit ist – für die Praxis durchaus unbefriedigend – die weitere Auslegung des § 21 Abs. 6 SEBG durch die Rechtsprechung abzuwarten.

Sollten Unternehmen sich mit dem Gedanken tragen, die bestehende Rechtsform in eine SE umzuwandeln, kann es sich vor diesem Hintergrund anbieten, das Umwandlungsvorhaben frühzeitig anzugehen, bevor für die nationale Mitbestimmung das MitbestG gilt. Gilt (noch) das weniger strenge Drittelbeteiligungsgesetz, stellen sich die vom EuGH erörterten Fragen nicht. 

*Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.

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