7. Dezember 2021
Koalitionsvertrag Digitalisierung Zivilprozess
Ampel 21 – Auswirkungen des Koalitionsvertrages

Koalitionsvertrag: Was bedeutet Digitalisierung des Zivilprozesses?

Die Ampelkoalition möchte den Zivilprozess modernisieren und digitalisieren. Wir schauen uns an, was dies konkret bedeutet.

Digitalisierung ist en vogue, auch bei den Parteien der Ampelkoalition. Die zukünftige Regierung hat es sich auf die Fahne geschrieben, das Potenzial der Digitalisierung in Staat und Gesellschaft besser zu nutzen. Der Staat soll moderner und digitaler werden. 

Die Digitalisierung verändert die Art unserer Zusammenarbeit und Kommunikation grundlegend und wirkt sich daher auf die unterschiedlichsten Bereiche aus. Die Pläne zur Modernisierung und Digitalisierung im Bereich des Zivilprozesses kommen recht unscheinbar daher und gehen in dem 177 Seiten langen Koalitionsvertrag fast unter. Dort heißt es: 

Gerichtsverfahren sollen schneller und effizienter werden: Verhandlungen sollen online durchführbar sein, Beweisaufnahmen audiovisuell dokumentiert und mehr spezialisierte Spruchkörper eingesetzt werden. Kleinforderungen sollen in bürgerfreundlichen digitalen Verfahren einfacher gerichtlich durchgesetzt werden können.

Wir wollen beleuchten, was genau hinter diesen drei Sätzen steckt. 

Vorarbeiten aus der Richterschaft dienen als Anhaltspunkte

Die Forderungen nach der Modernisierung und Digitalisierung von Gerichtsverfahren im Allgemeinen und Zivilverfahren im Besonderen sind nicht neu. Richter und Anwaltschaft beschäftigen sich schon seit vielen Jahren mit der Frage, wie der Zivilprozess ins digitale Zeitalter befördert werden kann. 

Die Notwendigkeit hierzu ist allen bewusst. Denn obwohl die Arbeitsmittel der Zivilgerichte in den letzten Jahren zunehmend moderner wurden (es gibt Computer, E-Mail, das besondere elektronische Anwaltspostfach beA und E-Akten), sind die Methoden und die Ausgestaltung des Zivilprozesses selbst weit von Modernität entfernt. Der Zivilprozess läuft im Wesentlichen nach wie vor nach den Vorgaben der Civilprozeßordnung aus dem Jahr 1877 ab. Die E-Akte bildet bestenfalls den Inhalt der Papierakten auf dem Bildschirm ab; in den meisten Fällen werden Schriftsätze dennoch zusätzlich per Post und/oder Fax ausgetauscht bzw. ausgedruckt und abgeheftet (vgl. Dickert, AnwBl 2021, 282). 

Vor diesem Hintergrund nahm bereits im September 2019 eine von den Präsidentinnen und Präsidenten der Oberlandesgerichte eingesetzte Arbeitsgruppe mit dem Titel „Modernisierung des Zivilprozesses“ unter Vorsitz des Präsidenten des OLG Nürnberg, Dr. Thomas Dickert, ihre Arbeit auf. Die Arbeitsgruppe legte Anfang Februar 2021 ein umfangreiches Diskussionspapier mit einer Reihe von konkreten Vorschlägen zur Ausgestaltung eines modernen, digitalen Zivilprozesses vor. Einige dieser Vorschläge sind nun in die Koalitionsvereinbarung eingeflossen. Ein Blick in das Diskussionspapier gibt Aufschluss darüber, wie die Ampelkoalition ihre Pläne umsetzen dürfte. 

Schnelle, formlose und effiziente Gerichtsverfahren geplant

Über allem schwebt die Maxime, dass Gerichtsverfahren schneller und effizienter werden müssen. Dies ist keineswegs ein Selbstzweck. Die deutsche Justiz konkurriert mit nationalen und internationalen Schiedsgerichten sowie staatlichen Gerichten anderer Rechtsordnungen und muss sicherstellen, hier nicht den Anschluss zu verlieren. Daneben bieten immer mehr private Legal-Tech-Unternehmen Streitschlichtungsmechanismen an, die für Verbraucher aufgrund ihrer einfachen Handhabung bequem sind. Beispiele sind Entschädigungen für Flugverspätungen, Widerspruch gegen Mieterhöhung oder Legal-Tech-Inkassodienstleistungen. Derartige Fälle sollen vor die Zivilgerichte zurückgeholt werden. 

Die Arbeitsgruppe der OLG-Präsidentinnen und -Präsidenten plädiert für eine bessere Strukturierung von Verfahren, um eine sinnvolle Beschleunigung zu erreichen. Eine Idee betrifft die Sammlung des Prozessstoffes in einem gemeinsamen elektronischen Basisdokument, in dem die jeweiligen Parteivorträge im Sinne einer Relationstabelle einander gegenübergestellt werden. Dieses Basisdokument sollte den Austausch von Schriftsätzen ersetzen und am Ende den Tatbestand des Urteils bilden. Der durchaus radikale Vorschlag wurde in der Richter- und Anwaltschaft heiß diskutiert und scheint als einziger auf den ersten Blick keinen Eingang in die Pläne der Ampelkoalition gefunden zu haben. Es bleibt dennoch zu hoffen, dass der Gesetzgeber andere Wege zur Straffung der Verfahrung findet. 

Des Weiteren soll nach Wunsch der Arbeitsgruppe mit einem elektronischen Nachrichtenraum eine Plattform für eine schnelle, formlose und zeitgemäße Kommunikation zwischen Gericht und Verfahrensbeteiligten geschaffen werden. Auf diese Weise könnten z.B. Terminabsprachen und -verlegungen oder ein Austausch von Vergleichsvorschlägen unkompliziert über eine Art Chatprogramm erfolgen. 

Online durchführbare Gerichtsverfahren soll für alle Beteiligten ermöglicht werden

Das nächste Schlagwort der Ampelkoalition betrifft virtuelle Gerichtsverhandlungen. Auch hierzu hat die Arbeitsgruppe der OLG-Präsidentinnen und -Präsidenten konkrete Vorschläge erarbeitet. So sollen Verhandlungen durch Einsatz von Videokonferenztechnik zukünftig vollständig online durchführbar sein. 

Bislang bietet § 128a ZPO schon die Möglichkeit, Verhandlungen „im Wege der Bild- und Tonübertragung“ vorzunehmen. Das Gericht kann Verfahrensbeteiligten gestatten, sich während der mündlichen Verhandlungen an einem anderen Ort als dem Gerichtssaal aufzuhalten. Die Verhandlung wird dann zeitgleich in Bild und Ton an diesen Ort und in das Sitzungszimmer übertragen. Das Gericht selbst muss bei Anwendung von § 128a ZPO also im Gerichtssaal sitzen. Da die Räumlichkeiten an Gerichten ohnehin knapp sind und zudem nicht jeder Saal mit ausreichender Technik ausgestattet ist, sind die Gerichte häufig unflexibel in der Terminplanung. Verfahren werden dadurch verzögert. 

Zukünftig soll es daher möglich sein, dass alle Verfahrensbeteiligten, auch die Richter, sich außerhalb des Gerichtssaals aufhalten. Die nach § 169 GVG notwendige Öffentlichkeit des Verfahrens soll durch eine Live-Übertragung in besonders ausgewiesene Räume im Gerichtsgebäude gewährleistet werden. 

In der Wirtschaft und bei Schiedsverfahren sind virtuelle Besprechungen und Verhandlungen längst Realität. Die Corona-Pandemie hat diesen Trend noch einmal beschleunigt. Es ist an der Zeit, dass die staatlichen Gerichte hier – neben der notwendigen technischen Ausstattung – auch die rechtlichen Rahmenbedingungen erhalten, um mit der Praxis und den Bedürfnissen der Wirtschaft Schritt halten zu können. 

Audiovisuelle Dokumentation der Beweisaufnahme

Hand in Hand mit der Ermöglichung virtueller Gerichtsverfahren geht die Modernisierung der Protokollierung. Im Zivilprozess ist es aufgrund knapper Ressourcen die Regel, dass die Richter selbst mittels Diktiergerät die Beweisaufnahme in ihren eigenen Worten protokollieren. 

Dies ist schon lange nicht mehr zeitgemäß. Die Arbeitsgruppe hat daher vorgeschlagen, mit Unterstützung von Spracherkennungssoftware ein Wortlautprotokoll der Verhandlungen zu erstellen. Bei virtuellen Verhandlungen sollen zudem Videoaufzeichnungen erfolgen. 

Spezialisierte Spruchkörper in der Zivilgerichtsbarkeit mit erfahrenen Richtern

Ein weiterer Baustein auf dem Weg zu einer Modernisierung der Justiz sollen spezialisierte Spruchkörper sein. Zwar gibt es an den Zivilgerichten bereits eine Reihe von Kammern mit Spezialzuständigkeiten, etwa für Bausachen, bankrechtliche Streitigkeiten oder Arzneimittelhaftungsfälle. Doch bei der Besetzung dieser Kammern wird nicht unbedingt auf die Erfahrung der Richter im jeweiligen Gebiet geachtet. 

Gerade bei komplexen Wirtschaftsstreitigkeiten liegt hierin ein großer Nachteil der staatlichen Gerichte gegenüber den privaten Schiedsgerichten. Schiedsrichter sind häufig erfahrene Wirtschaftsanwälte mit einer besonderen Sachkunde für die jeweilige Branche. Es ist begrüßenswert, wenn die Zivilgerichte hier aufholen. 

Einfache und bürgerfreundliche Durchsetzung von Kleinforderungen

Schließlich plant die Ampelkoalition, dass Kleinforderungen in bürgerfreundlichen digitalen Verfahren einfacher gerichtlich durchgesetzt werden können. Die Arbeitsgruppe zur „Modernisierung des Zivilprozesses“ hatte verschiedene Vorschläge unterbreitet, um Bürgern und insbesondere Verbrauchern den Zugang zur Ziviljustiz zu erleichtern. Neben der Schaffung eines einheitlichen elektronischen Justizportals sollte ein beschleunigtes Online-Verfahren für Verbraucherstreitigkeiten bis zu einem Streitwert von EUR 5.000 eingeführt werden. Dabei soll es sich um ein Verfahren mit intelligenten Eingabe- und Abfragesystemen handeln, das in der Regel vollständig im Wege elektronischer Kommunikation geführt wird. Durch reduzierte und pauschalierte Verfahrenskosten sowie formlose Beweismöglichkeiten soll der staatliche Rechtsschutz bei niedrigen Streitwerten wieder attraktiv werden. 

Digitalisierung des Zivilprozesses: Es bleibt viel Arbeit im Detail 

Der Blick auf die einzelnen Vorschläge zeigt, dass hinter jedem Schlagwort aus dem Koalitionsvertrag eine Vielzahl weiterer Überlegungen steckt. Auch wenn durch die Arbeitsgruppe zur „Modernisierung des Zivilprozesses“ bereits viel Vorarbeit geleistet wurde, wird noch viel Arbeit im Detail erforderlich sein. 

Die Ampelkoalition scheint sich zunächst auf die Punkte konzentrieren zu wollen, bei denen in der Richter- und Anwaltschaft sowie bei anderen Stakeholdern im Grunde großes Einvernehmen bestand. Dennoch bleibt zu hoffen, dass die Koalitionsparteien mutig genug sind, um die notwendige Modernisierung und Digitalisierung umfassend anzugehen, und dass der staatliche Rechtsschutz am Ende wirklich effizienter und attraktiver sein wird. 

In unserer Blog-Serie „Ampel 21 – Auswirkungen des Koalitionsvertrages“ halten wir Sie zu den Auswirkungen des Koalitionsvertrages für in den verschiedenen Sektoren tätige Unternehmen auf dem Laufenden.

Tags: Digitalisierung Dispute Resolution Koalitionsvertrag Zivilprozess