15. Januar 2025
Interne Untersuchungen

EGMR: kein Anwaltsprivileg bei internen Untersuchungen

Der EGMR hat das Urteil des BVerfG im Fall Jones Day bestätigt und insoweit eine wichtige Entscheidung für die deutsche Compliance-Praxis getroffen. 

Der Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat am 21. November 2024 sein Urteil in der Sache KOCK and OTHERS v. GERMANY and JONES DAY v. Germany gesprochen und überprüft, wann Unterlagen aus internen Untersuchungen, die sich bei der beratenden Kanzlei befinden, (k)einem Beschlagnahmeverbot unterliegen. Die Klagen, eingereicht nach erfolgloser Anrufung des Bundesverfassungsgerichts und unter Geltendmachung einer Verletzung von Art. 8 EMRK, wurden als offensichtlich unbegründet und damit unzulässig verworfen. Die Entscheidung gibt Aufschluss über den Umfang des (im anglo-amerikanischen Rechtsraum als Legal Privilege bekannten) Anwaltsprivileg, das die Kommunikation zwischen Anwalt und Mandanten schützt. 

Die Antragsteller, die Kanzlei Jones Day und drei ihrer Rechtsanwälte, hatten für die Volkswagen AG (VW) eine interne Untersuchung im Zusammenhang mit dem „Diesel-Skandal“ unter anderem bei der Tochtergesellschaft AUDI AG (Audi) durchgeführt. Um an Informationen zu gelangen, die Personen bei Audi betrafen, ließ die Staatsanwaltschaft München II die Kanzleiräume von Jones Day durchsuchen und Unterlagen beschlagnahmen. Beschwerden hiergegen blieben erfolglos. Letztlich wandten sich die Antragsteller an den EGMR. 

Argumente vor den nationalen Gerichten

In vorangegangenen Verfahren (BVerfG, Beschluss v. 27. Juni 2018 – 2 BvR 1405/17, 2 BvR 1780/17) hatten die Antragsteller versucht, einen Verstoß gegen § 160a Abs. 5 in Verbindung mit § 97 StPO beziehungsweise Art. 12 GG (Beschlagnahmeverbot, Schutz des Anwalts-Mandanten-Verhältnisses und der Berufsausübung) zu begründen. Dieser Versuch scheiterte aber nach Ansicht der nationalen Gerichte in Deutschland daran, dass der Beschlagnahmeschutz der Prozessnormen nur in Strafverfahren gegen den von der Kanzlei beratenen Mandanten gilt, hier aber schon gar kein Mandatsverhältnis mit der Tochtergesellschaft bestand und die Kanzlei auch nicht die Rolle eines Strafverteidigers wahrnahm.

Vor dem EGMR: StPO-Normen hinreichend klar und vorhersehbar

Vor dem EGMR stützen die Antragssteller die Klage auf eine Verletzung von Art. 8 EMRK, welcher das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, der Wohnung und der Korrespondenz normiert. Zudem argumentierten sie, die nationale Rechtsgrundlage aus der StPO sei nicht hinreichend klar und vorhersehbar gewesen. 

Soweit die Antragsteller argumentieren, dass die Rechtsgrundlage für den Eingriff mangels Klar- und Vorhersehbarkeit nicht rechtskonform sei, stellt der EGMR fest, dass es genüge, wenn die innerstaatlichen Gerichte Normen im Einklang mit der vorherrschenden Rechtsprechung und Rechtslehre auslegten. 

Der EGMR stellt zwar einen Eingriff in Art. 8 EMRK fest, der aber gerechtfertigt gewesen sei. Der Eingriff in Grundrechte folgte dem legitimen Ziel, Straftaten zu verhindern (Art. 8 Abs. 2 EMRK). 

Verhältnismäßigkeit des Grundrechtseingriffs

Ferner war der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig (Art. 8 Abs. 2 EMRK). 

Die Durchsuchung richtete sich gegen (unbekannte) Personen, die bei der Tochtergesellschaft von VW beschäftigt waren und fand zu einer Zeit statt, wo ein Verfahren gegen VW noch für unwahrscheinlich gehalten wurden. Zudem hatte das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass keine der beschlagnahmten Unterlagen im Verfahren gegen VW verwendet werden durften. Das Recht auf Selbstbelastungsfreiheit wurde also nicht beeinträchtigt. Dies ist mit Blick auf die Antragsteller relevant, die sich auf das Berufsgeheimnis (Legal Privilege) stützten, da ein solches Privileg nur logische Folge des Rechts des Mandanten sein kann, sich nicht selbst belasten zu müssen und daher mangels Verletzung dieses Rechts schon gar nicht greifen konnte.

Es bestand kein geschütztes Verhältnis in Form eines sog. Anwaltsprivilegs, da das Tochterunternehmen als getrennte juristischen Person nicht in die Mandatsbeziehung miteinbezogen worden war (kein Anwalts-Mandanten-Verhältnis).  

Zudem wurde die Muttergesellschaft nur in den USA und nur in einem Verfahren, das vor der Durchsuchung abgeschlossen war, von den Antragstellern vertreten. 

Im Fall bringt der EGMR weiter auf den Punkt, dass es bei der Durchsuchung also nicht um Dokumente und Daten ging, die vom Zeugnisverweigerungsrecht von Berufsgeheimnisträgern geschützt waren, sondern lediglich um Unterlagen über einen Dritten, die die Antragsteller in Ausübung ihrer Anwaltstätigkeit im Auftrag eines Mandanten erlangt hatten, welcher nicht im Augenmerk der strafrechtlichen Ermittlungen stand und der in einigen Fällen ohnehin die Weitergabe von Informationen aus den internen Ermittlungen an die Behörden gestattet hatte. Aus diesen Gründen hatten die nationalen Behörden bei der Beurteilung der Notwendigkeit der Maßnahmen einen (weiten) Ermessensspielraum. Hinzu kam bei der Abwägung der Interessen, dass schwerwiegende Straftaten im Raum standen, deren Verdacht durch die Unterzeichnung eines Plea Agreements (Verständigungserklärung) in den USA noch erhärtet wurde. 

Auch im Übrigen konnte der EGMR keine Fehler bei der Beurteilung durch die nationalen Gerichte feststellen. Fragen zum Anwaltsprivileg wurden seiner Ansicht nach ausreichend erörtert und berücksichtigt.

Der Rechtsweg zur Großen Kammer des EGMR ist nicht eröffnet, da die Klagen als unzulässig verworfen worden sind. 

Konsequenzen für die Praxis 

Die Entscheidung des EGMR ist vor dem Hintergrund des begrenzten Prüfungsmaßstabs (Verletzung von Menschenrechten) wenig überraschend. 

Deutlich geworden ist, dass der Legal Privilege sich jedenfalls nicht auf aus internen Untersuchungen gewonnenen Unterlagen erstreckt, die andere (Tochter-/Konzern-)Unternehmen als den Mandanten betreffen, und keine nachteiligen Auswirkungen auf ein Strafverfahren des Mandanten zu befürchten sind. Ob in anders gelagerten Fällen ein Beschlagnahmeverbot nicht doch greifen kann, bleibt aber weiterhin offen. In der Praxis sollte daher besonders darauf geachtet werden, welche Erkenntnisse interner Untersuchungen Schutz genießen könnten und welche womöglich nicht.

* Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.

Tags: Anwaltsprivileg Corporate / M&A interne Durchsuchung