Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bestätigt die Haftung des Forenbetreibers für das Zu-Eigen-Machen von Beiträgen anderer Nutzer.
Der Legende nach sind „fliegende Gerichtsstände″ ebenso wie die – dem Anschein nach – ungerechtfertigt strenge Haftung von Plattformbetreibern für beleidigende Kommentare „typisch deutsch″. Ein heute verkündetes Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) (Delfi AS v. Estonia, application no. 64569/09) zeigt einmal mehr, dass es sich dabei um einen Irrtum handelt.
Kommentare erst nach sechs Wochen entfernt
Das professionell gemanagte Nachrichtenportal Delfi.ee aus Estland hatte im Januar 2006 ein Artikel über eine estnische Fährgesellschaft gebracht, die ihre Routen geändert und somit den Bau so genannter „Eisstraßen″ vereitelt hatte. In dem Nachrichtenforum von Delfi hagelte es nicht nur höchst beleidigende Kommentare sondern auch Aufrufe zur Gewalt, weil Verkehrswege betroffener Inselbewohner blockiert wurden. Erst nach sechs Wochen (!) entfernte Delfi die diffamierenden Kommentare.
Der namentlich genannte und im Kreuzfeuer der Kritik stehende Besitzer des Fährunternehmens verklagte das Nachrichtenportal Delfi vor einem Zivilgericht und forderte eine Entschädigung, die ihm in Höhe von 320 Euro zugesprochen wurde. Der Forenbetreiber haftet zu Recht, wie der EGMR nun urteilte. Unter anderem habe Delfi habe die anstößigen Kommentare nicht schnell genug entfernt. Damit sei die Meinungsfreiheit (Art. 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention EMRK) auch nicht verletzt, befand der Straßburger Gerichtshof.
Forenbetreiber haftet bei Zu-Eigen-Machen von Beiträgen
Schon heißt es etwa bei Spiegel Online „Forenbetreiber haftet für Beleidigungen der Nutzer″. Das ist aber so nichts Neues. Vielmehr liegt der EGMR mit dem Urteil – wenn auch mit anderen Nuancen – im Ergebnis auf einer Linie mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung in Deutschland. Der EGMR hatte nämlich ausdrücklich festgestellt, dass ausschlaggebend für die Haftung des Portalbetreibers auch der Umstand gewesen sei, dass er das Forum aktiv managte und daher erkennen musste, dass die Nutzer dort über die Stränge schlugen.
Unterlassung und Schadensersatz wären demnach auch jetzt bereits bei uns denkbar. Denn jedenfalls dann, wenn ein Plattformbetreiber nach außen sichtbar die inhaltliche Verantwortung für die auf ihrer Internetseite veröffentlichten Beiträge übernommen und sich dies damit „zu Eigen gemacht″ hat, haftet er (BGH, MMR 2010, 556 – Marion’s Kochbuch.de). Das gilt auch, wenn wie hier mit besonders „heftigen″ Kommentaren der Nutzer gerechnet werden muss.
Sehr geehrter Herr Kollege Ziegelmayer,
vielen Dank für die kompetente und punktgenaue Zusammenfassung der Urteils, dass ich mir soeben in Gänze ansehen wollte. Als ich gestern von der Entscheidung erste Berichte, die die große Revolution vermuten ließen, und dann kurz das Urteil anlas, war es genau auch die „Marions Kochbuch“-Entscheidung, die die mir einfiel.
Es ist also auch hier der leider häufiger zu beobachtende Effekt: Es wird recht isoliert ein Aspekt einer Entscheidung hervorgehoben und dies als neue Rechtslage oder Kehrtwendung dargestellt. So ist das mit der Berichterstattung.
Mit freundlichen kollegialen Grüßen
Tobias Herrmann, Rechtsanwalt
Hallo Herr Ziegelmayer,
das sehe ich etwas anders!
Im „Kochbuch“-Urteil wurde ausdrücklich darauf verwiesen, dass eine Haftung für den Betreiber vorliege, wenn er Nutzer-Beiträge „vor ihrer Freischaltung auf Vollständigkeit und Richtigkeit überprüft und sie sich damit zu eigen macht.“
Eine Vorabprüfung ist im Fall von Delfi gerade nicht festzustellen gewesen.
Das EGMR hat das „aktive Management“ an ganz anderen Punkten festgemacht (siehe Urteil, 145.), nämlich:
1. Der Betreiber könne Beiträge löschen und Nutzer sperren.
2. Die Nutzer könnten ihre Beiträge nicht selbst löschen oder bearbeiten.
Diese in den meisten Foren durchaus üblichen technischen Gegebenheiten sind m.E. keinesfalls mit einer inhaltlich-redaktionellen Vorabprüfung aller Beiträge gleichzusetzen. Insofern schlägt das Urteil durchaus völlig neue Pflöcke ein.
Denn während es im ersten Fall nicht auf der Hand liegt, warum die Möglichkeit von Beitrags- und Nutzersperren die flächendeckende Erkennung von Regelverstößen zur Folge haben sollte, ist dies im zweiten Fall anders – hier ist eine flächendeckende Prüfung festzustellen, die eine flächendeckende Erkennung erst ermöglich.
Hallo Herr Kamann,
stimme gerne zu, dass der Hinweis auf „Marions Kochbuch“ nicht bedeutet, dass dies der deutsche Präzedenfall ist.
Ich meine aber, dass aus dem Sachverhalt deutlich wird, dass das Portal stets die „Zügel in der Hand“ hatte und bei derart krassen Äußerungen die Möglichkeit und Pflicht hatte, einzuschreiten: „…that the applicant company must be considered to have exercised a substantial degree of control over the comments published on its portal“.
Vor diesem Hintergrund passen m.E. auch die Erwägungen vieler Instanzgerichte, wonach eine Überprüfungspflicht bzgl. eines konkreten Forums, bei dem das Auftreten erheblicher Rechtsverletzungen zu erwarten ist, auch zumutbar ist.
Nach meiner Erfahrung kann es also schon jetzt – im Einzelfall – ausreichen, wenn Rechtsverletzungen von einigem Gewicht greifbar sind und der Betreiber nicht interveniert (vgl. auch OLG Hamburg MMR 2006, 744 – heise.de).