3. Dezember 2024
Barrierefreiheitsstärkungsgesetz
Commercial

Barrierefreiheitsstärkungsgesetz: Barrierefreie Produkte in der EU

Ab dem 28. Juni 2025 dürfen viele Produkte im Bereich Consumer Electronics in Europa nur noch in Verkehr gebracht werden, wenn sie barrierefrei gestaltet sind. 

Nicht immer wird sich die Barrierefreiheit von Produkten mittels reiner Softwarelösungen umsetzen lassen. Es ist daher höchste Zeit zu prüfen, ob das eigene Produktportfolio barrierefrei gestaltet werden muss und, wenn ja, welche konkreten Produktanpassungen notwendig sind, um die Verkehrsfähigkeit über den Stichtag hinaus zu gewährleisten. Dies gilt im Übrigen nicht nur für den Hersteller, sondern auch für den Importeur, der Produkte in die EU einführen und vermarkten möchte.

Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) und die zugehörige Verordnung zum Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSGV) setzen die Richtlinie (EU) 2019/882 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen, bekannt als European Acessibility Act (kurz: EAA), um (siehe dazu bereits unseren Beitrag 
Barrierefreiheitsstärkungsgesetz: Der Countdown läuft ).

Der EAA sorgt dafür, dass die Barrierefreiheitsanforderungen an Produkte gemäß dem Grundsatz des freien Warenverkehrs in der EU zukünftig einheitlich gestaltet sind. Mithin ist es ausreichend, sich an den Regelungen des EAA zu orientieren, ohne sich diesbezüglich mit den nationalen Umsetzungsakten befassen zu müssen.

Geltungsbereich für Produkte 

Der EAA schreibt vor, dass neben Dienstleistungen auch bestimmte Produkte zukünftig barrierefrei zugänglich und nutzbar zu machen sind. Dabei geht es um besonders wichtige, alltäglich von Verbrauchern verwendete Produkte, die Menschen mit Behinderung oft schlichtweg deshalb nicht nutzen können, weil sie nicht barrierefrei sind. 

Unter Berücksichtigung von Stellungnahmen seitens Interessengruppen und Experten zum Thema Barrierefreiheit sowie der Vorgaben der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, hat man die folgende Produktgruppen in den Geltungsbereich des EAA aufgenommen: 

  • Hardwaresysteme für Universalrechner, einschließlich Betriebssystem, z.B. Computer, Notebooks, Smartphones oder Tablets.
  • Zahlungsterminals und folgende Selbstbedienungsterminals, einschließlich zugehöriger Software: Geldautomaten, Fahrausweis- und Check-in-Automaten, sowie interaktive Selbstbedienungsterminals. 
  • Verbraucherendgeräte mit interaktivem Leistungsumfang, die für Telekommunikationsdienste verwendet werden, z.B. Smartphones und Mobiltelefone oder Router und Modems.
  • Verbraucherendgeräte mit interaktivem Leistungsumfang, die für den Zugang zu audiovisuellen Mediendiensten verwendet werden, z.B. Fernsehgeräte mit Internetzugang, Spielekonsolen oder Streaming Sticks.
  • E-Book-Lesegeräte.

Die Feststellung, ob ein Produkt im Geltungsbereich liegt, ist nicht immer einfach. Abgrenzungsfragen stellen sich unter anderem bei Wearables, wie etwa Smartwatches oder bei Selbstbedienungsterminals, wie etwa Abholstationen. Zudem ist nicht eindeutig geregelt, wie mit in andere Produkte (z.B. Fahrzeuge) eingebauten Geräten umzugehen ist.

Die Begrenzung auf Verbraucherprodukte führt dazu, dass Produkte für Geschäftskunden (B2B-Bereich) grundsätzlich nicht erfasst sind. Rein praktisch kann auch diese Unterscheidung mit Schwierigkeiten verbunden sein, da Hersteller häufig einheitliche Hardware konzipieren und dabei nicht zwischen Verbraucher- und B2B-Geräten differenzieren. Obschon Zahlungs- und Selbstbedienungsterminals dem B2B-Produktbereich zuzuordnen sind, fallen sie aufgrund ihrer expliziten Nennung klar in den Geltungsbereich des EAA.

Pflichten der Wirtschaftsakteure

Beim EAA handelt es sich um eine Vorschrift, die nach dem neuen Rechtsrahmen erlassen wurde. So entspricht der EAA von Aufbau und Systematik her den „üblichen“ EU-Produktvorschriften, wie z.B. der Niederspannungs- oder Funkanlagenrichtlinie. Dies gilt auch für die betroffenen Wirtschaftsaktteure und ihre Pflichten.

Umfassende Pflichten treffen den Hersteller, der für die Einhaltung der Barrierefreiheit einzustehen hat. Zur Sicherstellung der Konformität sind eine Dokumentation der ergriffenen technischen Maßnahmen und der Abschuss eines Konformitätsbewertungsverfahrens notwendig. Die im Falle der Nichtkonformität mit den Barrierefreiheitsvorgaben zu ergreifenden Maßnahmen können bis zum Rückruf der betroffenen Produkte reichen. Weniger relevant dürften die Kennzeichnungsvorgaben sein, da die allermeisten Produkte bereits von anderen die Kennzeichnung vorscheibenden Produktvorschriften, wie etwa der Funkanlagen-Richtlinie bzw. dem Funkanlagengesetz, erfasst sein dürften.

Neben dem Hersteller sind Einführer und Händler verpflichtet. Einführer haben die Einhaltung der Barrierefreiheitsanforderungen von Produkten vor deren Vermarktung in der EU zu prüfen. Nicht-konforme Produkte dürfen nicht in Verkehr gebracht werden. Im Unterschied zu den „altbekannten“ Produktvorschriften, wie etwa zur Niederspannung, zu RoHS oder zum Funk, dürften gerade den Herstellern aus dem Nicht-EU-Ausland die Barrierefreiheitsanforderungen nicht immer geläufig sein. Die Einführer von Produkten solcher Hersteller können dann ab dem nächsten Jahr vor Problemen stehen, wenn die importierten Produkte nicht EAA-konform sind. Ein Hinweis auf eine solche Nichtkonformität kann sich z.B. daraus ergeben, dass der Hersteller den EAA in der EU-Konformitätserklärung nicht erwähnt hat. 

Im Gegensatz zum Einführer treffen die Händler von betroffenen Produkten vornehmlich Pflichten zur Prüfung der formellen Konformität. Da diese Pflichten meist schon durch existierende Produktvorschriften vorgeschrieben sind, dürfte sich der praktische Mehraufwand für Händler in Grenzen halten. 

Anforderungen an die Produkte

Die Anforderungen an die Produkte sind nicht im BFSG selbst, sondern in der Verordnung zum Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSGV) enthalten. Im Gegensatz zum EAA sind diese etwas übersichtlicher angeordnet. Inhaltlich bestehen aber keine Unterschiede. Wichtig ist, dass neben den Anforderungen an Gestaltung von Benutzerschnittstelle und Funktionalität von Produkten auch die Produktverpackungen und Anleitungen und die Informationen für die Produkte barrierefrei gestaltet werden müssen. 

Für alle Produkte im Anwendungsbereich gelten Anforderungen an Gestaltung von Benutzerschnittstellen und anderen Funktionalitäten. So müssen Produkte unter anderem

  • Kommunikation über mehr als einen sensorischen Kanal ermöglichen. Hier ließe sich etwa Real-Time Text (RTT) als Alternative zur Sprachkommunikation und Text-to-Speech (TTS) als Alternative zur visuellen Kommunikation bereitstellen;
  • Alternative zur Spracheingabe und Stimme bieten, z.B. Tasteneingabe;
  • Bei Verwendung visueller Elemente sind Optionen für die Bildschirmvergrößerung sowie Anpassung von Kontrast und Helligkeit anzubieten.
  • Falls Informationen mittels Farbe vermittelt werden, sind Alternativen wie z.B. akustische Signale erforderlich.
  • Alternative Mittel zur biometrischen Benutzeridentifikation und Steuerung sind anzubieten, wie z.B. Fingerabdruck-, Gesichts- und Stimmerkennung.
  • Weitere Anforderungen betreffen die Signal-Ausgabe, Audio-Elemente, manuelle Bedienung und Interaktion, Maßnahmen zum Schutz der Privatsphäre sowie Schnittstellen für assistive Technologien.

Zu den allgemeinen Anforderungen kommen so genannte branchenspezifische Anforderungen für bestimme Produktgruppen hinzu. Spezialvorgaben bestehen für Selbstbedienungsterminals, E-Book-Lesegeräte, Verbraucherendgeräte mit interaktivem Leistungsumfang für Kommunikation und den Zugang zu audiovisuellen Medien.

Schließlich sind auch für die Produkte angebotene Unterstützungsdienste wie Help-Desk, Call-Center oder technische Unterstützung barrierefrei zur Verfügung zu stellen. Fraglich ist, ob dies in gleichem Umfang (z.B. 24/7) wie bei „herkömmlicher“ Unterstützung zu erfolgen hat.

Produktbezogene Normen und andere Regelwerke 

Die noch recht allgemein gehaltenen Regelungen im BFSGV werden durch technische Normen und andere Regelwerke konkretisiert. Dies findet in der BFSGV selbst Anklang, die auf den Stand der Technik und eine seitens der Bundesfachstelle für Barrierefreiheit zu veröffentlichende Auflistung relevanter Standards und Konformitätstabellen verweist. Abgesehen von den auf den entsprechenden Webseiten veröffentlichten dreizehnseitigen Leitlinien für die Anwendung des Barrierefreiheitsstärkungsgesetzes ist das Angebot der Bundesfachstelle allerdings noch überschaubar. Zudem gibt die Fachstelle an, Anfragen zum BFSG aufgrund fehlender personeller Ausstattung erst ab 2025 zeitnah beantworten zu können. 

Die folgenden produktbezogenen Standards und Regelwerke sind für die Beurteilung der Barrierefreiheit relevant: 

  • EN 301 549 „Accessibility requirements for ICT products and services”. Auf Basis des Normungsauftrags M/587 wird die Norm aktuell im Hinblick auf die Anforderungen des EAA überarbeitet. Der aktuelle Entwurfsstand ist allerdings nicht öffentlich verfügbar. Die Norm wird das zentrale Regelwerk zur Beurteilung von Produkten werden.
  • EN 17161:2019 Barrierefreiheit von Produkten, Waren und Dienstleistungen.
  • Web Content Accessibility Guidelines (WCAG). Für Produkte dürften die dortigen Regelungen nur eingeschränkt, z.B. im Hinblick auf Produktinformationen oder die Steuerung der Produkte (z.B. über eine App) relevant sein.

Sobald die Fundstellen der überarbeiteten Normen im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht sind, greift die Konformitätsvermutung, soweit die Normen die Anforderungen der Barrierefreiheit abdecken. Besonders die Veröffentlichung der geänderten Norm EN 301 549, die eine Vielzahl der neuen Produktanforderungen abdeckt, wird Erleichterungen für die Hersteller bringen.

Ausnahmeregelungen

Anders als andere EU-Produktregelungen sieht das BFSG zwei besondere Ausnahmevorschriften vor, nach denen die Produktanforderungen nicht eingehalten werden müssen: 

  • Zum einen ist dies der Fall, wenn die Einhaltung das betreffende Produkt in seinem Wesenskern verändern würde, was laut Gesetzesbegründung dann der Fall sein soll, wenn durch den Einsatz einer neuen Technologie oder Software, die Leistungsfähigkeit des Produktes in einem solchem Ausmaß beeinflusst würde, dass das Produkt nicht mehr wie vorgesehen genutzt werden könnte. 
  • Zum anderen gilt, dass Barrierefreiheitsanforderungen nur insoweit einzuhalten sind, als sie für die Wirtschaftsakteure (hier dürften vornehmlich die Hersteller gemeint sein) keine unverhältnismäßige Belastung darstellen. In der Begründung zum BFSG wird ausgeführt, dass eine unverhältnismäßige Belastung dann vorliegen kann, wenn die Einhaltung der Barrierefreiheitsanforderungen eine übermäßige Belastung darstellt und nach vernünftigem Ermessen nicht möglich wäre. Mangelnde Priorität, Zeit oder Kenntnis sollen nicht als berechtigte Gründe gelten.

Die Beurteilung und Begründung, dass einer der Ausnahmetatbestände einschlägig ist, ist Bestandteil des Konformitätsbewertungsverfahrens und muss vom Hersteller selbst vorgenommen und dokumentiert werden. Zudem besteht die Pflicht, die zuständigen Marktaufsichtsbehörden über die Inanspruchnahme der Ausnahmeregelungen zu informieren. 

Das BFSG weicht in diesem Punkt vom EAA ab und ist weniger streng ausgestaltet, da die genannten Ausnahmetatbestände unabhängig voneinander gelten und nicht wie im EAA, kumulativ vorliegen müssen.

Konformitätsbewertung und -erklärung sowie CE-Kennzeichnung

Der Hersteller der betroffenen Produkte hat ein Konformitätsbewertungsverfahren in Hinblick auf die Barrierefreiheit durchzuführen. Dabei lässt der Gesetzgeber das Verfahren der internen Fertigungskontrolle ausreichen, so dass externe Stellen bei der Bewertung nicht zwingend hinzuzuziehen sind.

Die technische Dokumentation des Produkts muss sich neben Aspekten wie elektrische Sicherheit oder elektromagnetischer Verträglichkeit konkret mit der Barrierefreiheit befassen.  Soweit eine Ausnahmeregelung in Anspruch genommen wird, ist deren Anwendbarkeit hier nachzuweisen.

Als Abschluss des Konformitätsbewertungsverfahrens ist eine EU-Konformitätserklärung für das betreffende Produkt vom Hersteller auszustellen. Es wird in der Erklärung allerdings nicht das BFSG, sondern vielmehr der EAA anzugeben sein. Soweit Ausnahmen in Anspruch genommen werden, sind diese in der EU-Konformitätserklärung zu vermerken.

Zudem unterliegen die dem Anwendungsbereich des BFSG unterfallenden Produkte der CE-Kennzeichnung

Fazit

Das Ziel, wichtige Produkte des alltäglichen Lebens auch für Menschen mit Behinderung nutzbar zu machen und so die Teilhabe an der digitalen Welt zu ermöglichen, ist ohne Einschränkung zu befürworten. 

Angesichts aktuell noch fehlender technischer Standards, offizieller EU-einheitlicher Leitfäden und vieler auslegungsbedürftiger Begrifflichkeiten birgt dies Risiken für Unternehmen.

Im Vergleich zu Dienstleistungen nimmt die Änderung von Produkten üblicherweise mehr Zeit in Anspruch, so dass – falls sich ein Hersteller von betroffenen Produkten noch nicht mit dem EAA beschäftigt hat – dringender Handlungsbedarf besteht.

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