"Commercial Court" in Baden-Württemberg ermöglicht Unternehmen, Gerichtsverfahren auf Englisch vor spezialisierten Wirtschafts- und Handelskammern zu führen.
„Wir können alles außer Hochdeutsch“ – so lautet ein bekannter Slogan, mit dem das Land Baden-Württemberg lange in selbstbewusster und zugleich leicht selbstironischer Manier für das „Ländle“ geworben hat. „Wir können auch Englisch“ gilt seit Anfang November 2020 offiziell für die Landgerichte in Stuttgart und in Mannheim. Denn wie bereits in einer Pressemeldung im Juli angekündigt hat das Land Baden-Württemberg an beiden Standorten einen „Commercial Court“ eingerichtet.
Auf der eigenen zweisprachig auf Deutsch und Englisch verfügbaren und optisch sehr ansprechend gestalteten Homepage (www.commercial-court.de und www.commercialcourt.de) wird der Commercial Court als Top-Anlaufstelle für Unternehmen bei wirtschaftsrechtlichen Streitverfahren beworben. An zwei eigens eingerichteten Standorten in Stuttgart Fasanenhof und Mannheim Luisenpark sollen die Verhandlungen in angenehmer Konferenzraum-Atmosphäre mit moderner Präsentations- und Videokonferenztechnik stattfinden, wie man sie sonst nur von Schiedsverfahren kennt.
Bei dem süddeutschen Commercial Court handelt es sich allerdings nicht um die einzigen englischsprachigen Spezialgerichte in Deutschland. Bereits 2010 errichteten die Landgerichte in Köln, Bonn und Aachen englischsprachige Kammern. In Frankfurt am Main steht seit Januar 2018 eine englischsprachige Kammer für Handelssachen zur Verfügung. Der Trend englischsprachiger Spezialgerichte und -kammern ist auch in unseren Nachbarländern zu beobachten: Seit Februar 2018 verfügt das Pariser Handelsgericht über eine englischsprachige Kammer und im Januar 2019 öffnete in Amsterdam der „Netherlands Commercial Court“ seine Türen.
Was ist der Commercial Court?
Der Commercial Court in Baden-Württemberg hat zwei Standorte, Stuttgart und Mannheim. Anders als der Name vermuten lässt handelt es sich bei dem Commercial Court nicht um ein eigenständiges „Gericht“. Hinter der griffigen und sicherlich auch aus Gründen des Marketings gewählten Bezeichnung „Commercial Court“ verbergen sich je eine Zivil- und eine Handelskammer der Landgerichte Stuttgart (49. Zivilkammer und 31. Kammer für Handelssachen) und Mannheim (3. Zivilkammer und noch nicht festgelegte Kammer für Handelssachen).
Was sind die Besonderheiten des Commercial Courts?
Auch wenn es sich bei dem Commercial Court „nur“ um Kammern der Landgerichte Stuttgart und Mannheim handelt, wird sich das Verfahren von dem unterscheiden, was Unternehmen sonst von den staatlichen Gerichten kennen:
Vor dem Commercial Court kann das Gerichtsverfahren auf Englisch geführt werden. Zwar schreiben die auch für den Commercial Court unverändert geltenden gesetzlichen Vorgaben vor, dass sowohl die Schriftsätze als auch das Urteil und sonstige Entscheidungen weiterhin auf Deutsch ausgefertigt werden müssen. Sämtliche Anlagen, beispielsweise Vertragsunterlagen oder sonstige zu Beweiszwecken vorgelegte Unterlagen, werden vom Commercial Court jedoch auch auf Englisch akzeptiert. In Verfahren mit umfangreicher englischsprachiger Dokumentation können so Zeit und erhebliche Kosten für beglaubigte Übersetzungen eingespart werden. Es besteht die Möglichkeit, die mündliche Verhandlung auf Englisch durchzuführen, so dass beispielsweise für die Befragung englischsprachiger Zeugen keine Dolmetscher hinzugezogen werden müssen.
Mit dem Angebot, über die mündliche Verhandlung neben dem gesetzlich vorgeschriebenen Rahmenprotokoll bei Bedarf zusätzlich – wie in Schiedsverfahren üblich – ein Wortprotokoll anzufertigen, begegnet man einem weiteren Kritikpunkt an staatlichen Gerichtsverfahren. Gerade für Fälle, in denen die Entscheidung von der Würdigung umfangreicher Zeugenaussagen abhängt, dürfte diese Vorgehensweise die Entscheidungsqualität erhöhen, obgleich Details zur Verfahrensausgestaltung und möglichen Zusatzkosten noch unbekannt sind.
Neben den notwendigen Englischkenntnissen zeichnen sich die Richterinnen und Richter am Commercial Court durch besondere Expertise im Bereich des Wirtschaftsrechts aus. Wer sich selbst ein Bild machen möchte, findet ausführliche Lebensläufe der Richterschaft auf der Homepage.
Besonders ist auch die Besetzung. Während vor den Landgerichten der Einzelrichter die Regel und die volle Kammerbesetzung die Ausnahme ist, soll die Zivilkammer des Commercial Courts regelmäßig in Kammerbesetzung mit drei Berufsrichtern entscheiden. Durch die Dreierbesetzung mit erfahrenen Richtern soll eine hohe Qualität der Entscheidungen sichergestellt werden. Dank großzügiger personeller Ausstattung des Commercial Courts sollen die Verfahren zügig ablaufen. Die Besetzung der Kammer für Handelssachen bleibt beim Commercial Court mit einem Berufsrichter als Vorsitzenden und zwei ehrenamtlichen Handelsrichtern unverändert.
Wie gelangen Streitigkeiten vor den Commercial Court?
Damit eine Streitigkeit vom Commercial Court in Stuttgart oder Mannheim entschieden werden kann, muss zunächst das entsprechende Landgericht in Stuttgart oder Mannheim örtlich und sachlich zuständig sein. Im Regelfall wird sich zumindest bei vertraglichen Streitigkeiten zwischen anwaltlich beratenen Unternehmen die internationale und örtliche Zuständigkeit aus einer Gerichtsstandsvereinbarung ergeben.
Ob innerhalb der Landgerichte Stuttgart und Mannheim eine Streitigkeit dem Commercial Court oder einer „normalen“ Kammer zugeteilt wird, bestimmt sich ausschließlich nach dem Geschäftsverteilungsplan der Gerichte. Welche Streitigkeiten kraft Geschäftsverteilungsplan der Zivil- oder Handelskammer des Commercial Courts zugewiesen werden, ist für Stuttgart und Mannheim zwar ähnlich, aber nicht identisch geregelt:
An beiden Standorten fallen unter anderem Streitigkeiten im Zusammenhang mit Unternehmenskäufen, gesellschaftsrechtliche Streitigkeiten einschließlich Organhaftung, Streitigkeiten zwischen einer Gesellschaft und einem ihrer Organe aus einem Anstellungsverhältnis sowie Streitigkeiten aus beiderseitigen Handelsgeschäften in den Zuständigkeitsbereich des Commercial Courts.
Der Commercial Court Mannheim entscheidet zusätzlich auch über Streitigkeiten aus Bank- und Finanzgeschäften. Der Mannheimer Standort setzt für die Zuständigkeit des Commercial Courts voraus, dass der Streitwert bei Klageerhebung mindestens EUR 2 Mio. beträgt. Für den Commercial Court Stuttgart gilt dieser Mindeststreitwert lediglich für Klagen aus beiderseitigen Handelsgeschäften; ansonsten ist dort kein Mindeststreitwert vorgegeben.
Sofern die im Geschäftsverteilungsplan festgelegten Kriterien für eine Zuweisung an eine der Kammern des Commercial Court nicht gegeben sind, können die Parteien dessen Zuständigkeit auch nicht durch eine gesonderte Vereinbarung herbeiführen. Umgekehrt kann der Commercial Court auch nicht zugunsten einer anderen Kammer des Landgerichts abgewählt werden.
Hat der Commercial Court eine zweite Instanz?
Wer – wie in der Schiedsgerichtsbarkeit – eine „One-Stop-Decision“ vorzieht, kann durch Parteivereinbarung bereits im Vorhinein den Instanzenzug ausschließen. Diese Möglichkeit besteht grundsätzlich für jedes zivilgerichtliche Verfahren, wird aber selten genutzt. Vermutlich deswegen wird auf der Homepage des Commercial Court prominent auf die Möglichkeit des Rechtsmittelverzichts hingewiesen.
Sollte vom Instanzenzug Gebrauch gemacht werden, stehen spezialisierte Senate an den Oberlandesgerichten Stuttgart (20. Zivilsenat) und Karlsruhe (Senat wird noch festgelegt) zur Überprüfung der Entscheidung zur Verfügung.
Welche Vorteile bietet der Commercial Court für Unternehmen?
Aus Unternehmenssicht ist die Einrichtung des Commercial Courts in Stuttgart und Mannheim sehr zu begrüßen. Obwohl beide Landgerichte hinsichtlich der Verfahrensdauer im bundesweiten Vergleich gut dastanden, fördert der Commercial Court mit seiner besonderen personellen Ausstattung und Spezialisierung schnelle Entscheidungen von hoher Qualität und mag sich damit für Gerichtsstandsvereinbarungen als vorzugswürdig gegenüber anderen Landgerichten erweisen.
Es bleibt abzuwarten, inwieweit der Commercial Court sich gegenüber einem privaten Schiedsgericht „durchsetzen″ wird. In einigen Punkten bietet die Schiedsgerichtsbarkeit deutliche Vorteile gegenüber dem Commercial Court:
- Vollstreckbarkeit: Für Schiedssprüche gilt das New Yorker Übereinkommen, unter dem sich weltweit 166 Staaten zur gegenseitigen Vollstreckung von Schiedssprüchen verpflichtet haben. Für Gerichtsurteile fehlt bisher ein vergleichbares Übereinkommen. Gerichtsurteile aus Deutschland können deshalb zwar innerhalb Europas recht einfach vollstreckt werden. In anderen Ländern ist die Vollstreckung aber oft mit erheblichen Hindernissen verbunden oder gar unmöglich.
- Vertraulichkeit: Der Schutz sensibler Geschäftsgeheimnisse ist in nicht-öffentlichen Schiedsverfahren wesentlich besser gewahrt als in den grundsätzlich öffentlich geführten Gerichtsverfahren.
- Verfahrenssprache: Vollständig auf Englisch geführte Verfahren sind vor dem Commercial Court nach aktueller Gesetzeslage nicht möglich. Seit April 2018 liegt dem Bundestag (erneut) ein Gesetzesentwurf zur Einführung von Kammern für internationale Handelssachen vor, der vollständig auf Englisch geführte Verfahren ermöglichen würde. Angesichts der aktuellen politischen Agenda ist es aber unwahrscheinlich, dass der Entwurf in dieser Legislaturperiode noch verabschiedet wird.
Mit der Errichtung des Commercial Courts, inklusive eigenen modernen Verhandlungszentren und professionellem zweisprachigem Internetauftritt, ist man in Baden-Württemberg auf gutem Weg, zumindest in der deutschen Gerichtslandschaft die Top-Anlaufstelle für Unternehmen bei wirtschaftsrechtlichen Streitigkeiten zu werden. Dem Vernehmen nach ist beim Commercial Court in Mannheim bereits ein erstes Verfahren anhängig.