Haftungsrechtlich macht diese Frage einen großen Unterschied, doch ein neues BGH-Urteil zur Produzentenhaftung zeigt, dass die Grenzen fließend sein können.
Der BGH hat mit Urteil v. 21. März 2023 – VI ZR 1369/20 zur Frage der Herstellereigenschaft und den Verkehrssicherungspflichten eines Händlers im Rahmen der deliktischen Produzentenhaftung entschieden. Besondere Relevanz hat das Urteil vor dem Hintergrund, dass der BGH darin deutlich macht, dass selbst Händler*, die Ware ohne jegliche physische Veränderung (nur) weiterverkaufen, unter bestimmten Umständen als Hersteller deliktisch nach den produzentenhaftungsrechtlichen Grundsätzen haften.
Düngemittel vernichtet Ernte
In dem vom BGH entschiedenen Fall ging es um einen Landwirt, der für rund EUR 4.000 eine phosphat- und kaliumhaltige Flüssigkeit als Düngemittel gekauft und diese auf seinem Rapsfeld verteilt hatte. Zehn Tage nach Ausbringen des Düngemittels auf seinen Feldern bemerkte der Landwirt, dass sich die Rapspflanzen violett verfärbt hatten und nicht mehr wuchsen. Es stellte sich heraus, dass das Düngemittel mit Herbiziden verunreinigt war und letztlich die gesamten Rapspflanzen zerstörte.
Der Landwirt erhob daraufhin nicht nur Klage gegen seinen direkten Kaufvertragspartner, den Verkäufer des Düngemittels, sondern auch gegen dessen Lieferantin. Die Lieferantin des Verkäufers, die einen Fachbetrieb für Abfallentsorgung unterhielt, hatte die phosphat- und kaliumhaltige Flüssigkeit, die damals allerdings noch als „Abfall“ bezeichnet und gehandelt wurde, direkt vom Hersteller bezogen. Erst die Lieferantin deklarierte die Flüssigkeit zu „EG-Düngemittel für Ackerbau“ um und erstellte – erstmalig – Produktinformationen, in denen sie den genauen Verwendungszweck des Düngemittels (Einsatz als Düngemittel im Ackerbau) angab und die genauen Nährstoffgehalte sowie Hinweise zur sachgerechten Anwendung aufführte.
Mit der Klage machte der Landwirt Schadensersatz in Höhe von rund EUR 76.000 geltend, der sich aus entgangenem Gewinn, Kosten der Schadensermittlung und -beseitigung sowie dem für das Düngemittel gezahlte Kaufpreis zusammensetzte.
OLG Koblenz sah keine Verkehrssicherungspflichtverletzung der Lieferantin
Das LG Mainz gab der Klage zunächst in vollem Umfang statt und verurteilte sowohl den Verkäufer als auch dessen Lieferantin als Gesamtschuldner zur Zahlung von Schadensersatz an den Landwirt.
Die daraufhin eingelegte Berufung vor dem OLG Koblenz war nur für die Lieferantin erfolgreich. Nach Auffassung des Berufungsgerichts war die Klage gegen die Lieferantin nicht begründet, weil sie als bloße Vertriebshändlerin nicht für die Sicherheit des Düngemittels einzustehen habe und die – für Händler nur sehr eingeschränkt bestehenden Verkehrssicherungspflichten – nicht verletzt habe.
Der Landwirt legte gegen das Berufungsurteil Revision ein und kämpfte nun auch vor dem BGH gegen die Lieferantin weiter – mit Erfolg: Während das Berufungsgericht die Klage des Landwirts mangels Pflichtverletzung der Lieferantin noch abwies, bejahte der BGH nunmehr die Haftung der Lieferantin.
BGH bejaht deliktische Produzentenhaftung auch für Weiterverkäuferin
Voraussetzung für die Inanspruchnahme einer im Zusammenhang mit der Herstellung oder Verteilung einer Ware tätig gewordenen Person auf Schadensersatz wegen Verletzung eines Rechtsguts (hier: die Rapspflanzen) ist, dass sie eine ihr obliegende Verkehrssicherungspflicht verletzt hat. Derjenige, der eine Gefahrenlage – gleich welcher Art – schafft, ist grundsätzlich verpflichtet, die notwendigen und zumutbaren Vorkehrungen zu treffen, um eine Schädigung anderer möglichst zu verhindern.
Nach der ständigen Rechtsprechung des BGH kommt es für die Frage, welche Verkehrssicherungspflichten den im Zusammenhang mit der Herstellung oder Verteilung einer Ware in Anspruch Genommene treffen, entscheidend darauf an, in welcher Funktion die jeweils handelnde Person tätig wird. Art und Umfang der Verkehrssicherungspflichten hängen von der Rolle und Stellung des jeweils agierenden Wirtschaftsakteurs ab:
- Den Hersteller eines Produkts trifft grundsätzlich die weitestgehende (umfassende) Verantwortung für einen in seinem Tätigkeits- und Wissensbereich entstandenen Produktfehler. Zur Gewährleistung der erforderlichen Produktsicherheit hat der Hersteller unter anderem bereits im Rahmen der Konzeption und Planung des Produkts diejenigen Maßnahmen zu treffen, die zur Vermeidung einer Gefahr objektiv erforderlich und nach objektiven Maßstäben zumutbar sind.
- Demgegenüber sind Vertriebshändler für die Sicherheit der von ihnen vertriebenen Produkte nur sehr eingeschränkt verantwortlich. Eine Auferlegung der grundsätzlich nur den Hersteller treffenden Gefahrabwendungspflichten findet nur in ganz bestimmten Konstellationen und nur in engen Grenzen statt. Insbesondere eine Haftung des Händlers für Konstruktions- und Fabrikationsfehler scheidet mangels Einflusses und unter Berücksichtigung des Risikosphärengedankens in aller Regel aus.
Untersuchungspflichten für reine Händler nur bei besonderem Anlass
Vertriebshändler sollen grundsätzlich nur dann verpflichtet sein, die von ihnen vertriebene Ware auf gefahrenfreie Beschaffenheit zu untersuchen, wenn aus besonderen Gründen Anlass dazu besteht. Das kann z.B. dann der Fall sein, wenn ihnen bereits Schadensfälle bei der Produktverwendung bekannt geworden sind oder wenn die Umstände des Falles eine Überprüfung nahe legen.
Der bloße Umstand, dass der Vertriebshändler die vom Hersteller erworbenen und anschließend vertriebenen Produkte mit einem eigenen Markenzeichen versieht und in Verkehr bringt, reicht nach dem BGH im Rahmen der deliktischen Produzentenhaftung allerdings noch nicht aus, um „wie ein Hersteller“ zu haften (anders sieht es im Anwendungsbereich des Produkthaftungsgesetzes aus, nach dem in diesem Fall eine Haftung als „Quasi-Hersteller“ möglich ist).
Bei Schaffung eines neuen Produkts Haftung wie ein Hersteller
Im Gegensatz zum Berufungsgericht, das eine Verkehrssicherungspflicht der Lieferantin aufgrund ihrer bloßen „Händlereigenschaft“ verneinte, hat der BGH unter Heranziehung der obigen Maßstäbe eine Verkehrssicherungspflicht vielmehr bejaht und einen deliktischen Anspruch gegen die Lieferantin des verunreinigten Düngemittels grundsätzlich für möglich erachtet.
Die Annahme des Berufungsgerichts, dass an die Lieferantin lediglich der Maßstab einer Vertriebshändlerin anzulegen sei, weil sie die Merkmale des Düngemittels nicht verändert habe, sondern dieses lediglich unverändert an den Landwirt weiterverkauft habe, sei – so der BGH –fehlerhaft.
Die Lieferantin habe in konkreten Fall vielmehr ein neues Erzeugnis – das Produkt Düngemittel – geschaffen, indem sie die zuvor als Abfall qualifizierte Flüssigkeit als „EG-Düngemittel für Ackerbau“ bezeichnete, hierfür Produktinformationen erstellte und dieses Erzeugnis mit Weiterverkauf an den späteren Kaufvertragspartner des Landwirts erstmalig in Verkehr brachte. In dieser Konstellation könne die Lieferantin nicht als bloße Vertriebshändlerin eingestuft werden, sondern hafte für die Sicherheit der von ihr als Düngemittel für den Ackerbau in Verkehr gebrachte Flüssigkeit wie ein Hersteller.
Für die Annahme der erweiterten Verkehrssicherungspflichten der Lieferantin war aus Sicht des BGH zudem relevant, dass der Hersteller der Lieferantin das Produkt nicht als Düngemittel, sondern Abfall überlassen hatte und sich dessen „ordnungsgemäße Entsorgung“ durch die Lieferantin als „Abfallentsorger“ im Übernahmeschein versichern ließ. An das Produkt „Abfall“ habe der Verkehr andere Gebrauchs- und Sicherheitserwartungen als an Düngemittel.
Ohne dies weiter zu begründen, führt der BGH zudem aus, dass die Lieferantin – entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts – ohne nähere Anhaltspunkte auch nicht darauf vertrauen durfte, dass der direkte Abnehmer des Düngemittels (der spätere Verkäufer des Landwirts) die Flüssigkeit vor der Lieferung an den Landwirt auf Herbizide untersuchen würde.
OLG muss erneut entscheiden
Der Rechtsstreit wird nunmehr erneut vor dem OLG Koblenz verhandelt werden, um zu klären, mit welchen konkreten Maßnahmen die Verunreinigung hätte festgestellt werden können und welche Verkehrssicherungsmaßnahmen zur Vermeidung bzw. Beseitigung der Gefahr die Lieferantin hätte treffen müssen. Das Gericht hat also die schwierige Frage zu klären, welche objektiv erforderlichen und nach objektiven Maßstäben zumutbaren Maßnahmen hierfür in Betracht gekommen wären.
Auswirkungen des Urteils für die Praxis
Mit dem Urteil geht keine eklatante Neuerung oder ein Wandel der Rechtsprechung einher, die Entscheidung bringt allerdings (weitere) Klarheit bei der Frage, wann ein (Vertriebs-)Händler durch eigene Tätigkeiten haftungsrechtlich zum Hersteller mit entsprechend umfassenden Verkehrssicherungspflichten wird.
Zweckänderung kann für Schaffung eines neuen Produkts ausreichen
Der BGH verdeutlicht mit seiner Entscheidung, dass ein Händler nicht nur dann zum Hersteller wird, wenn er Änderungen an dem Produkt vornimmt, sondern es hierfür bereits ausreichen kann, dass er dem Produkt einen anderen Verwendungszweck zuschreibt und/oder es unter einer anderen Bezeichnung weiterveräußert (sog. Zweckänderung), sofern dies zur Schaffung eines neuen Erzeugnisses führt. Zwar war der hier gegebene Sachverhalt sicherlich insofern speziell, als dass ein bereits für die Abfallentsorgung vorgesehenes Produkt (Abfall) zu einem „neuen“ Produkt mit neuem/anderen Verwendungszweck umgewidmet wurde. Nichtsdestotrotz ist der Entscheidung zu entnehmen, dass der BGH die Hürden für die Annahme der Herstellereigenschaft insgesamt doch eher niedrig ansetzt.
Vor allem (Vertriebs-)Händler sollten sich daher der Möglichkeit bewusst sein, dass sie auch ohne tatsächliche Änderung an einer Sache unter bestimmten Umständen produkthaftungsrechtlich als Hersteller eingestuft werden können. Wenn für die Begründung der Herstellereigenschaft bereits die (Neu-)Bezeichnung und die Erstellung von Produktinformationen ausreichen kann, sollte besonderes Augenmerk auf die Aktivitäten bzw. Tätigkeiten vor Weitervertrieb eines Produkts gelegt werden. Die Entscheidung zeigt erneut auf, wie fließend die Grenzen zwischen Händler- und Herstellerverantwortung sind.
* Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.