Im Bereich virtueller Verhandlungen und digitalisiertem Verfahren übernehmen die Schiedsinstitutionen eine Vorreiterrolle.
Was im Zivilprozess noch ungewohnt ist, gehört im Schiedsverfahren bereits zur Tagesordnung. So ist es längst etablierte Praxis, einige Verfahrensabschnitte, etwa Besprechungen zum Verfahrensmanagement oder die Befragung von nicht erreichbaren Zeugen und Sachverständigen per Telefon- oder Videokonferenz durchzuführen. Neuartig ist hingegen das Konzept, eine gesamte Schiedsverhandlung per Videokonferenz abzuhalten.
Erstes Szenario: Parteien stimmen einer virtuellen Schiedsverhandlung zu
Der Zulässigkeit von virtuellen Schiedsverhandlungen steht – das Einverständnis der Parteien vorausgesetzt – im Regelfall nichts entgegen. Zwar enthält die überwiegende Anzahl der vor Ausbruch der Covid-19-Pandemie geschlossenen Schiedsvereinbarungen keine ausdrückliche Regelung zum Einsatz von Videokonferenzen oder anderen technischen Hilfsmitteln. Jedoch steht es den Parteien frei, nachträglich einer mündlichen Verhandlung per Videokonferenz zuzustimmen.
Es bleibt abzusehen, ob die nach Ausbruch der Pandemie geschlossenen Schiedsvereinbarungen nunmehr Regelungen zu virtuellen Schiedsverhandlungen enthalten werden. Jedenfalls haben kurz nach Ausbruch der Pandemie einige Schiedsinstitutionen wie die International Chamber of Commerce oder die Stockholm Chamber of Commerce Richtlinien zum Umgang mit den Auswirkungen der Covid-19 Pandemie herausgegeben (ICC Guidance Note, SCC Guidance) mit der Empfehlung, verstärkt von der Durchführung virtueller Verhandlungen Gebrauch zu machen. Weitere Institutionen, wie etwa das Korean Commercial Arbitration Board oder das Vienna International Arbitration Centre haben Checklisten mit Hinweisen für die Vorbereitung virtueller Schiedsverhandlungen (mit)veröffentlicht (The Seoul Protocol, The Vienna Protocol). Die Schiedsinstitution DELOS hält eine ganze Liste von Quellen zur Durchführung von virtuellen Schiedsverhandlungen parat.
Haben die Parteien ihr Einverständnis zu einer virtuellen Verhandlung erteilt, liegen die Schwierigkeiten vor allem bei der praktischen Durchführung. So kann etwa die schlechte Internetverbindung einer Partei ihre Teilnahme an der Verhandlung beeinträchtigen. Solch technisch bedingten Probleme können zur Aufhebung des Schiedsspruchs führen, sollte der Schiedsspruch später vor den staatlichen Gerichten angefochten werden.
Gemäß Artikel V Abs. 1 lit. b des für die Vollstreckung von internationalen Schiedssprüchen maßgeblichen New Yorker Übereinkommens (NYÜ) kann die Anerkennung oder Vollstreckung eines Schiedsspruchs versagt werden, wenn eine Partei ihre Angriffs- oder Verteidigungsmittel nicht in ausreichendem Maß geltend machen konnte oder das Schiedsgericht den Gleichbehandlungsgrundsatz aus einem anderen Grund nicht hinreichend beachtet hat. Ein potentieller Aufhebungsgrund könnte auch darin bestehen, dass das schiedsgerichtliche Verfahren dem Recht des Landes, in dem es stattfindet, nicht entspricht (Artikel V Abs. 1 lit. d NYÜ) oder die Anerkennung oder Vollstreckung des Schiedsspruchs der öffentlichen Ordnung dieses Landes widersprechen würde (Artikel V Abs. 2 lit. B NYÜ).
Zweites Szenario: Mindestens eine Partei widerspricht der virtuellen Schiedsverhandlung
Weitaus mehr Schwierigkeiten bereitet Schiedsgerichten der Fall, dass eine Partei einer mündlichen Verhandlung per Videokonferenz zustimmt, die andere hingegen nicht. In den seltensten Fällen bieten Schiedsgerichtsordnungen oder das anwendbare lex fori eine ausdrückliche Regelung für diesen Fall. Damit ist es dem Schiedsgericht überlassen, das Verfahren „nach freiem Ermessen″ (§ 1042 Abs. 4 S. 1 ZPO) oder Verfahrensmaßnahmen, „die es für geeignet hält″ (Art. 22 Abs. 2 ICC-Rules), zu bestimmen.
Einige Schiedsgerichtsordnungen lassen virtuelle Schiedsverhandlungen in den für beschleunigte Verfahren vorgesehenen Schiedsregeln ausdrücklich zu (z.B. Art. 4 Abs. 2 von Appendix V der ICC-Rules), schweigen jedoch im Hinblick auf das reguläre Verfahren. Es ist bereits absehbar, dass viele Institutionen bei der nächsten Neuauflage ihrer Schiedsregeln Regelungen für virtuelle Schiedsverhandlungen aufnehmen werden.
In ihrer „Guidance Note on Possible Measures Aimed at Mitigating the Effects of the COVID-19 Pandemic″ hat die ICC bereits klargestellt, dass der in Art. 25 Abs. 2 der ICC-Rules aufgestellte Grundsatz, dass das Schiedsgericht „mit den Parteien″ eine mündliche Verhandlung durchführt (die englische Fassung lautet: „shall hear the parties together in person„), einer virtuellen mündlichen Verhandlung nicht entgegensteht. Auch wird die Möglichkeit, dass ein Schiedsgericht eine virtuelle Verhandlung gegen den ausdrücklichen Willen einer der Partei anordnet, ausdrücklich bedacht.
Fehlt es an einer ausdrücklichen Regelung, muss das Schiedsgericht für den Fall, dass eine der Parteien der virtuellen Durchführung der Schiedsverhandlung widerspricht, das Recht der widersprechenden Partei auf die Durchführung einer mündlichen Präsenzverhandlung mit dem Gebot der effizienten Verfahrensführung abwägen und entscheiden, ob es für die mündliche Verhandlung die körperliche Anwesenheit aller Beteiligten als wesentlich erachtet.
“The new normal“?
Es bleibt abzuwarten, ob die während der Pandemie gesammelten Erfahrungen dazu beitragen werden, virtuelle Schiedsverhandlungen zunehmend als „the new normal″ zu etablieren. In jedem Fall sind Schiedsverfahrenspraktiker gut beraten, sich rechtzeitig auf diese Entwicklung einzustellen.
Unsere Reihe „Brave New Court″ geht auf die Digitalisierung in gerichtlichen und behördlichen Verfahren ein. Es erschienen bisher die Beiträge zur virtuellen Verhandlung im Zivil- und Arbeitsgerichtsverfahren sowie zu virtuellen Verhandlungen im Schiedsverfahren.