16. Februar 2022
Digitalisierung EU e-Codex eu-Lisa
Dispute Resolution

Neue Entwicklungen bei Digitalisierung der Justiz auf EU-Ebene

Digitale Zusammenarbeit der Justiz, effiziente Verfahrensführung und ein erleichterter Zugang zum Recht auf EU-Ebene? Das verspricht das Projekt „e-CODEX“.

Bereits Ende 2020 gab die EU-Kommission ihre Pläne zur Digitalisierung der Justiz in der EU in einem umfangreichen Maßnahmenpaket bekannt. Neben der Digitalisierung der einzelnen Länder-Datenbanken ist dabei vor allem das Ende des Postwegs als Standardkommunikation der Justiz geplant. In Zukunft soll der Datenaustausch ausschließlich digital erfolgen. Ermöglichen soll dies das e-CODEX-System.

Am 8. Dezember 2021 haben sich der Ratsvorsitz und das Europäische Parlament vorläufig über die neue e-CODEX-Verordnung geeinigt. Grundlegendes Ziel dieser europäischen Verordnung sind die effiziente grenzüberschreitende und vor allem digitale Kommunikation zwischen den Gerichten und zuständigen Behörden sowie ein erleichterter Zugang zum Recht für Bürger* und Unternehmen innerhalb der EU durch eine technische Lösung. Da die vorläufige Einigung vom Rat und vom Europäischen Parlament voraussichtlich gebilligt wird, muss sie noch das formelle Annahmeverfahren durchlaufen.

e-CODEX und das e-justice Portal bieten eine Kommunikationsplattform, die u.a. eine rechtssichere Dokumentenübertragung ermöglicht

e-CODEX steht für „e-Justice Communication via Online Data Exchange“ und wurde von 21 Mitgliedstaaten unter Beteiligung von Drittstaaten und unterschiedlichen Organisationen zwischen 2010 und 2016 entwickelt. 

e-CODEX ist eine technische Lösung, die die gegenseitige Vernetzung nationaler E-Justiz-Systeme ermöglicht und somit den Austausch fallbezogener Daten in Zivil- und Strafsachen erleichtert. Idealerweise kann z.B. von Deutschland via Internet eine sichere Verbindung zu einem justiziellen IT-System in einem anderen EU-Staat aufgebaut werden und so der unkomplizierte zwischenstaatliche Austausch von Schriftstücken erfolgen. 

Das System soll dabei auch als „Connector“ für die jeweiligen nationalen Systeme fungieren und dadurch die Interoperabilität sicherstellen. Mit den von e-CODEX zur Verfügung gestellten standardisierten Formularen können Behörden, Anwälte und Bürger notwendige Informationen schnell und sicher sowie vor allem rechtswirksam versenden und empfangen.

Zudem sollen mit e-CODEX, über den digitalen Austausch der nationalen Behörden untereinander hinaus, E-Justiz-Optionen wie „Find a Bailiff“ oder „Find a Lawyer“ die internationale Suche nach geeigneter Rechtshilfe für Bürger und Unternehmen beschleunigen.

Für Unternehmen und Vertragspartner soll über IRI (Interconnection of Insolvency Registers) als EU-weite Suchmöglichkeit in allen Insolvenzregistern der jeweiligen Mitgliedstaaten die Überprüfung der Solvenz erleichtert werden. Diese Pläne wurden bereits in zehn Mitgliedstaaten als Pilotprojekte umgesetzt und im e-Justice Portal werden bereits erfolgreich Teile der e-CODEX-Software genutzt.

Das e-justice Portal bietet bereits jetzt das „Europäische Verfahren für geringfügige Forderungen“ an. Dabei wird es Bürgern mithilfe von e-CODEX ermöglicht, Anträge im Rahmen des Verfahrens für geringfügige Forderungen elektronisch zu unterzeichnen und an die zuständigen Gerichte in den Mitgliedstaaten zu senden.

Die e-CODEX-Verordnung soll die Etablierung der e-CODEX-Software in der Praxis ermöglichen

Mit der neuen, unmittelbar in allen Mitgliedstaaten geltenden Verordnung soll zum einen die Nutzung der e-CODEX-Software weiter ausgebaut werden, sodass aus den einzelnen Pilotprojekten, in denen sie bisher erprobt wurde, ein übergreifendes geschlossenes System mit einer stabilen Governance-Lösung entstehen kann. 

Zum anderen regelt die Verordnung die dauerhafte Verwaltung und Verantwortung für das System, das nach Ablauf eines Übergangszeitraums auf eu-LISA übertragen werden soll.

eu-LISA: Bisher Verwaltung von Fahndungs- und Migrationsbewegungsdaten im Schengenraum – zukünftig Verantwortung für e-CODEX

eu-LISA steht für „Europäische Agentur für das Betriebsmanagement von IT-Großsystemen im Bereich Sicherheit, Freiheit und Recht“. Sie hat ihren Sitz in Estland und als Einrichtung der Europäischen Union besitzt sie eigene Rechtsfähigkeit.

Seit Dezember 2012 führt und verwaltet sie das Betriebsmanagement der Schengener Informationssysteme der zweiten Generation (SIS II). Diese dienen der Einspeisung und dem Auffinden von Fahndungsdaten. Gleichzeitig verwaltet sie das Biometric Matching System (BMS), das Visa-Informationssystem (VIS) und EURODAC, die Datenbank für die Erfassung von Flüchtlingen und Migranten.

Die Datenbanken waren jedoch bis zur im Jahr 2019 verabschiedeten und von Datenschützern kritisierten EU-Verordnung über die Interoperabilität nicht miteinander verbunden, sodass eine strenge Trennung zwischen Strafverfolgung und Migrationskontrolle gewährleistet war. Mit der Verordnung wurde diese Trennung aufgehoben und die Systeme wurden zusammengeführt.

So liegt der bisherige Aufgabenbereich von eu-LISA in der Verwaltung von Fahndungs- und Migrationsbewegungsdaten im Schengenraum. Damit verfügt die Agentur zwar über wertvolle Erfahrung mit länderübergreifenden IT-Lösungen, allerdings erhält sie durch die Übergabe von e-CODEX die Verantwortung über die Ausgestaltung des IT-Systems in der Europäischen Justiz, die deutlich höhere und je nach Mitgliedstaat unterschiedliche Ansprüche an die Datenweiterleitung stellt als die bloße Sammlung von Informationen.

Wie die Unabhängigkeit der Justiz unter eu-LISA erhalten bleiben soll, wurde im Vorfeld ausführlich unter deutscher Ratspräsidentschaft von der Ratsarbeitsgruppe „e-justice“ diskutiert. Insbesondere müssen die Grundrechte aller am elektronischen Datenverkehr beteiligten Personen gewahrt werden, wie das Recht auf ein faires Verfahren, effektiver Zugang zur Justiz, Datenschutz und Diskriminierungsfreiheit.

Die Ergebnisse dieser Beratungen sind als Schutzmaßnahmen in die Verordnung eingeflossen. Dabei soll die Unabhängigkeit durch Beteiligung von Vertretern der Rechtsberufe und anderen Interessengruppen im eigens dafür eingesetzten Programmverwaltungsrat erfolgen.

Die Kommission fungiert weiterhin als Überwacher von eu-LISA, die in länger werdenden Abständen Berichte zu Funktionsweise und Nutzung des e-CODEX-Systems vorlegen muss.

Zur Wahrung des benötigten Sicherheitsniveaus bei eu-LISA sollen die Programmier-Grundsätze von e-CODEX „Security by Design“, „Data Protection by Design“ und „Data Protection by Default“ den unautorisierten Zugriff auf Daten verhindern.

Spätestens bis zum 31. Dezember 2023, frühestens aber zum 1. Juli 2023, soll die Agentur die volle Verantwortung für e-CODEX übernehmen. Diese Übergangszeit ist nötig, um die notwendigen personellen und technischen Strukturen in der Agentur zu schaffen und einen reibungslosen Übergang zu gewährleisten. Wie klar die Trennung zwischen Daten und Diensten der Justiz und der Verwaltung im Sinne der bisherigen Aufgaben von eu-LISA tatsächlich ausgestaltet wird, wird sich zeigen. 

Vergleich zum nationalen Digitalisierungsplan der Ampelkoalition

Auch in Deutschland sollen die Pläne zur Digitalisierung der Justiz möglichst schnell und großflächig umgesetzt werden. Die neue Ampelregierung hat dies zumindest in dem noch frischen Koalitionsvertrag angekündigt

In den letzten Jahren sollten die Arbeitsmittel in der Justiz durch Ausstattung der Gerichte mit Computern, das besondere elektronische Anwaltspostfach (seit diesem Jahr auch mit aktiver Nutzungspflicht) und die Einführung der E-Akte deutlich digitaler werden. Der digitale Wandel scheint jedoch bei den Gerichten noch nicht ganz angekommen zu sein. Denn in der Realität wird meist neben der E-Akte eine wortgleiche Papierakte geführt.

Im neuen Koalitionsvertrag heißt es dazu:

Gerichtsverfahren sollen schneller und effizienter werden: Verhandlungen sollen online durchführbar sein, Beweisaufnahmen audiovisuell dokumentiert und mehr spezialisierte Spruchkörper eingesetzt werden. Kleinforderungen sollen in bürgerfreundlichen digitalen Verfahren einfacher gerichtlich durchgesetzt werden können.

Konkret werden einige Punkte genannt, wie:

  • Zunächst soll die „Online-Verhandlung“ weiter ausgebaut werden. Bereits jetzt bietet §128a ZPO die Möglichkeit, Verhandlungen „im Wege der Bild und Tonübertragung durchzuführen“, die insbesondere seit Pandemiebeginn regelmäßig genutzt wird. Die Koalition plant, durch die Ausweitung des virtuellen Prozesses das noch geltende Erfordernis, für das Gericht persönlich im Sitzungssaal anwesend zu sein, entfallen zu lassen. 
  • Die Online-Verhandlungen könnten aufgezeichnet werden und damit den Weg für die „audiovisuelle“ Dokumentation von Beweisaufnahmen freimachen. Auch die Wortprotokollierung der Verhandlung wäre in diesem Zusammenhang begrüßenswert. Denn die technisch überholte Mitschrift oder das Diktat auf dem Diktiergerät sind fehleranfällig und sollten im digitalen Zeitalter längst der Vergangenheit angehören. Wie weit die „Online-Verhandlung“ ausbaubar ist, wird sich an dem Unmittelbarkeitsgrundsatz orientieren müssen.
  • Mit der geplanten Einführung eines „bürgerfreundlichen digitalen Verfahrens für Kleinforderungen“ wird das Projekt eines Online-„Klagetools“ des Bundesjustizministeriums vielleicht in die Tat umgesetzt. Das Verfahren sieht eine vereinfachte digitale Klagemöglichkeit für Bürger vor, mit deren Hilfe diese Forderungen bis zu einem Streitwert von maximal EUR 5.000 über ein elektronisches Justizportal geltend machen können. Ein ähnliches Projekt gibt es bereits auf EU-Ebene über das e-justice Portal als „Europäisches Verfahren für geringfügige Forderungen“.

Ausblick: e-CODEX eine Verbindung zur digitalen EU der Zukunft?

In Deutschland soll entsprechend dem Koalitionsplan nicht nur der digitale Datenverkehr ausgebaut werden, sondern im Zuge der Veränderungen durch die Pandemie auch das Zivilverfahren selbst im Hinblick auf Öffentlichkeit und virtuelle Verhandlungsräume digitaler gestaltet werden. Wie im Einzelnen die nicht mehr zeitgemäßen, dafür aber zeitintensiven Vorgaben für die Verwaltung der Prozesse umstrukturiert werden sollen, wird sich zeigen. Diese Umstrukturierungen und Vereinheitlichungen wären auch auf EU-Ebene wünschenswert, um den Zugang zum Recht für alle EU-Bürger zu ermöglichen. Dies kann aber nur gelingen, wenn alle EU-Mitglieder über vergleichbare digitale Ressourcen verfügen.

Die Implementierung von e- CODEX kann dabei nur ein Verbindungsstück zwischen den Justizsystemen der Mitglieder sein und betrifft damit den Postweg und die Suche nach dem richtigen Ansprechpartner und den Austausch von Informationen in der EU. Einen großen Vorteil hat e-CODEX: Es kann auf die Unterstützung und Erfahrung der Mitgliedstaaten in der Nutzung des Systems in Verfahren aufbauen, sodass e-CODEX durchaus Potenzial hat, zur wichtigsten digitalen Lösung für eine sichere Übertragung von elektronischen Daten in grenzüberschreitenden Prozessen auf EU-Ebene zu werden. So ist es durchaus denkbar, dass durch diese digitale Lösung und die damit einhergehende Beschleunigung sowie Vereinfachung der grenzüberschreitenden Zustellung und Beweiserhebung im Zivilprozess Verfahren effizienter, schneller und kostengünstiger abgeschlossen werden können. 

Bei e-CODEX ist die zentrale Frage, ob eu-LISA es schaffen wird, ein unabhängiges, den Ansprüchen der Justiz gerecht werdendes, umfassendes System für den juristischen Datenverkehr innerhalb der EU zu bieten. Ob die Kontrolle durch den Programmrat sicherstellen kann, dass eu-LISA die Grundrechte wahrt oder ob hierzu nachträglich weitere Schutzmaßnahmen notwendig sein werden, wird sich erst zeigen müssen. 

*Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Lediglich der leichteren Lesbarkeit halber wird künftig bei allen Bezeichnungen nur noch die grammatikalisch männliche Form verwendet.

Tags: Digitale Transformation Digitalisierung Dispute Resolution e-CODEX e-justice Portal EU eu-LISA