Ab morgen, den 1. November 2018, wird es in Deutschland eine neue kollektive Klagemöglichkeit geben: Die Musterfeststellungsklage tritt in Kraft.
Massenklage, Kollektivklage, Sammelklage: Viele assoziieren diese mit der Musterfeststellungsklage häufig in einem Atemzug genannten Begriffe mit der amerikanischen class action. Doch – wie bereits in unserem Beitrag aus März 2018 ausgeführt – unterscheidet sich das hiesige Modell der Musterfeststellungsklage erheblich von der amerikanischen Sammelklage. Dass es hierzulande massenhaft zu Massenklagen kommen wird – wie im „Wilden Westen″ der USA – ist nicht zu befürchten. Woran liegt das? Was wird sich durch die Musterfeststellungsklage ändern? Was können Verbraucher erreichen? Was haben Unternehmen zu befürchten?
Musterfeststellungsklage alias „Lex VW″: Der Anwendungsbereich
Die Musterfeststellungsklage tritt nicht zufällig noch 2018 in Kraft. Der Zeitpunkt ist bewusst so gewählt, dass potentiell geschädigte Dieselfahrer noch vor Jahresende die Möglichkeit erhalten, ihre Ansprüche zu einem Musterfeststellungsverfahren anzumelden. Dies soll eine zum Jahresende drohende Verjährung der Ansprüche verhindern. Der Verbraucherzentrale Bundesverband hat bereits angekündigt, zum 1. November 2018 eine Musterfeststellungsklage gegen VW einzureichen. Vielfach wird die Musterfeststellungsklage daher als „Lex VW″ bezeichnet. Aber auch andere Automobilhersteller könnten im Rahmen der aktuellen Diesel-Thematik ins Visier von Musterklägern geraten.
Ob es über die Diesel-Thematik hinaus massenhaft zu Massenklagen kommen wird, kann bezweifelt werden. In vielen Branchen, zum Beispiel in der Pharma- oder Reisebranche, sind Haftungsfälle einzelfallspezifisch, so dass die Haftungsfrage – oder selbst einzelne Aspekte davon – kaum einheitlich für eine Vielzahl von Ansprüchen geklärt werden kann.
In anderen Fällen, in denen dies prinzipiell möglich ist, ist typischerweise der im Einzelfall erlittene Schaden sehr gering. Damit erscheint es fraglich, ob sich überhaupt – wie vorausgesetzt – mindestens 50 Verbraucher finden werden, die ihre Ansprüche zu einer Musterfeststellungsklage anmelden würden. Beispiele hierfür seien die Erhebung unzulässiger Bearbeitungsgebühren für Verbraucherkredite, Preisaufschläge im späten Stadium von Online-Käufen oder die Erhebung von Forderungen aufgrund von unwirksamen AGB-Klauseln in Telefon-, Strom- und Gasverträgen. Zudem dürften solche Fälle keine vergleichbare mediale Aufmerksamkeit erfahren wie die der „Dieselgate″. Dies unterstellt, ist es für die klagebefugten Einrichtungen wenig attraktiv, ein langjähriges Musterfeststellungsverfahren zu führen. Zumal sie wegen der fehlenden Publizitätswirkung kein Druckmittel in der Hand hätten, um das betroffene Unternehmen zu einem Vergleichsabschluss zu bewegen. In diesen Fällen dürfte es daher weiterhin dabei bleiben: Wo kein (Massen-)Kläger, da kein Richter.
Die Klasse: Die Klagebefugnis qualifizierter Einrichtungen
Ein wesentlicher Unterschied zur amerikanischen class action ist, dass bei der Musterfeststellungsklage nicht eine Gruppe betroffener Verbraucher als „Klasse″ klagt, sondern eine sog. qualifizierte Einrichtung.
Dies ist ein rechtsfähiger Verein, der bestimmte Voraussetzungen erfüllen muss (vgl. § 606 Abs. 1 Nr. 1–5 ZPO). Insbesondere darf die Einrichtung keine kommerziellen Ziele verfolgen und nur maximal 5 % ihrer finanziellen Mittel durch Zuwendungen von Unternehmen beziehen. Dies dürfte dazu führen, dass zunächst nur die – wohlgemerkt staatlich finanzierten – Verbraucherzentralen und großen Verbrauchervereine als Kläger in Betracht kommen.
Bei anderen Einrichtungen erscheint zweifelhaft, ob sie über ausreichend finanzielle Mittel verfügen, um eine Musterfeststellungsklage zu initiieren und eine effektive Prozessführung zu gewährleisten. Denkbar ist aber, dass weitere Vereine mit dem Ziel gegründet werden, Musterfeststellungsklagen zu erheben. Bewahrheitet sich dies und erheben diese sodann Musterfeststellungsklagen, wird das jeweilige mit der Sache befasste Oberlandesgericht genau zu prüfen haben, ob diese die Anforderungen einer qualifizierten Einrichtung erfüllen.
Die Verlagerung der Klagebefugnis auf qualifizierte Einrichtungen hat für den Verbraucher den Vorteil, dass er im Rahmen des Musterfeststellungsverfahrens keine Kosten fürchten und er selbst – abgesehen von der Anmeldung seiner Ansprüche (dazu sogleich) – nicht tätig werden muss. Er könnte es auch nicht, da er an dem Verfahren nicht beteiligt ist. Andererseits begeben sich Verbraucher mit der Anmeldung ihrer Ansprüche auch in die Abhängigkeit der qualifizierten Einrichtung, da sie keinen Einfluss auf die Art und Weise der Prozessführung nehmen können.
Verbraucher müssen sich aber nicht in die Abhängigkeit einer qualifizierten Einrichtung begeben. Es steht ihnen nach wie vor frei, ihre Ansprüche individuell geltend zu machen. Hierzu können Verbraucher zum einen selbst Individualklage erheben. Zum anderen können sie ihre Ansprüche an einen Rechtsdienstleister abtreten, der diese gebündelt in einer Sammelklage geltend macht. Geschädigte Verbraucher haben daher einerseits die Wahl, andererseits aber auch die Qual, sich zwischen einem der drei möglichen Wege zu entscheiden.
Die Masse: Die angemeldeten Verbraucheransprüche
Entscheidet sich ein Verbraucher für das Verfahren der Musterfeststellungsklage, muss er seinen Anspruch in ein beim Bundesamt für Justiz geführten Klageregister anmelden (vgl. § 606 Abs. 3 Nr. 3 ZPO). Diese Anmeldung ist für ihn kostenlos. Auch inhaltlich ist die Anmeldung der Ansprüche an sehr geringe Anforderungen geknüpft. Insbesondere muss der anzumeldende Anspruch über Gegenstand und Grund hinaus nicht näher bezeichnet werden. Eine inhaltliche Prüfung der gemachten Angaben findet nicht statt (vgl. § 608 Abs. 2 S. 3 ZPO).
Es ist jedoch falsch, wenn – wie vielfach im Zusammenhang mit der Diesel-Thematik – pauschal behauptet wird, die Anmeldung der Ansprüche führe zu deren Verjährungshemmung. Die bloße Anmeldung nicht näher bezeichneter Ansprüche stellt die Hemmung von deren Verjährung nicht sicher. Nach § 204 Abs. 1 Nr. 6a BGB tritt die Hemmung nur ein, soweit den Ansprüchen der gleiche Lebenssachverhalt zugrunde liegt wie den Feststellungszielen des Musterverfahrens. Ob dies der Fall ist, ist zum Zeitpunkt der Anspruchsanmeldung höchst ungewiss. Eine Prüfung findet insoweit nicht statt. Verbraucher, die sich dafür entschieden haben, ihre Ansprüche zu einem Musterfeststellungsverfahren anzumelden, laufen daher Gefahr, dass diese in einem etwaigen Folgeprozess bereits verjährt sind.
Zu kurz gesprungen: Die Klageziele
Am Ende eines Musterfeststellungsverfahrens kann maximal festgestellt werden, ob die „tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen für das Bestehen oder Nichtbestehen von Ansprüchen oder Rechtsverhältnissen“ erfüllt sind oder nicht („Feststellungsziele“, § 606 Abs. 1 S. 1 ZPO). Mit der Musterfeststellungsklage kann also kein Leistungstitel – zum Beispiel die Verurteilung eines Unternehmens zur Zahlung von Schadensersatz oder die Unterlassung einer bestimmten Handlung – erreicht werden, sondern nur ein nicht vollstreckungsfähiger Feststellungstitel. So zum Beispiel die Feststellung, ob das Unternehmen eine Pflichtverletzung begangen hat.
Ist die Musterfeststellung somit eine Sackgasse? Ja und Nein. Ja, weil betroffenen Verbrauchern mit einem positiven Feststellungsurteil allein noch nicht geholfen ist. Um einen Leistungstitel zu erhalten, der am Ende auch vollstreckbar ist, muss jeder Verbraucher individuell einen weiteren Prozess nach Eintritt der Rechtskraft des Musterfeststellungsurteils führen. Nein, weil Verbraucher in den Folgeprozessen von den Feststellungen des auf die Musterklage hin ergangenen Urteils profitieren können – sofern das Urteil positiv ist –, da diese grundsätzlich bindend sind.
Hoffen auf den Vergleich: Die anderweitige Verfahrensbeendigung
Ein Musterfeststellungsverfahren kann auch vorzeitig durch den Abschluss eines Vergleichs enden. Der Abschluss eines Vergleichs ist mit erheblichen Rechtsunsicherheiten für Unternehmen verbunden. Unternehmen werden sich daher kaum hierauf einlassen.
Denn zum einen soll ein Vergleich auch Regelungen zu den auf die angemeldeten Verbraucher entfallenden Leistungen enthalten. Es steht jedoch nicht mit Sicherheit fest, wie viele der angemeldeten Verbraucheransprüche auf dem der Musterfeststellungsklage zugrundeliegenden Lebenssachverhalt beruhen. Zudem kann die Höhe der zu zahlenden Leistungen kaum ermittelt und bewertet werden. Ein Vergleichsschluss wäre nur „ins Blaue hinein″ möglich. Kein Vorstand würde einen solchen Vergleich abschließen. Er würde sich zivil- und strafrechtlich haftbar machen.
Zum anderen haben angemeldete Verbraucher die Möglichkeit, innerhalb einer Frist von einem Monat nach Zustellung des gerichtlichen Vergleichs gegenüber dem Gericht ihren Austritt zu erklären. Treten mehr als 30 % der angemeldeten Verbraucher aus, wird der Vergleich nicht wirksam (vgl. § 611 Abs. 5 S. 1 ZPO). Das Musterfeststellungsverfahren wird fortgesetzt. Die Möglichkeit der Verbraucher, den Vergleich nachträglich zu Fall zu bringen, bedeutet eine erhebliche Rechtsunsicherheit für betroffene Unternehmen. Zudem kann dadurch eine Gruppe von 30 % der Verbraucher den Inhalt eines Vergleichs halb „mitdiktieren″. Auch deswegen dürften sich Unternehmen im Regelfall nicht auf einen Vergleich einlassen.
Anders könnte es sein, wenn ein erhebliches öffentliches und mediales Interesse an der Angelegenheit besteht. Dann könnte mit der Publizitätswirkung auf die betroffenen Unternehmen Druck ausgeübt werden, sodass diese zu einem Vergleichsschluss gezwungen werden, um Reputationsschäden zu vermeiden.
Weniger Klasse, mehr Masse
Im Ergebnis ist festzuhalten, dass dem Gesetzgeber die neue Klage weniger „klasse″ gelungen ist. Abgesehen von den „Dieselgate″-Fällen wird sie ein Mauerblümchen-Dasein führen. Unternehmen können einer Musterfeststellungsklage relativ gelassen entgegen sehen. Die Musterfeststellungsklage erlaubt zwar, anders als dies bislang möglich war, dass „mehr Masse″ – gemeint ist: eine Vielzahl von Verbrauchern – hinter der Klage zur Verfügung steht. Die Musterfeststellungsklage ist jedoch so konzipiert, dass die Masse an Verbrauchern kaum Druck gegen das beklagte Unternehmen aufbauen kann. Dies liegt vor allem daran, dass am Ende des Verfahrens nur ein nicht vollstreckungsfähiges Feststellungsurteil steht. Angemeldete Verbraucher müssen ihre Ansprüche weiterhin individuell verfolgen, wollen sie konkrete Leistungen erhalten. Aufgrund dieser Einschränkungen ist die Musterfeststellungsklage in ihren Wirkungen keineswegs mit der amerikanischen class action vergleichbar.
Die Musterfeststellungsklage dürfte allein dann ein effektives Druckmittel gegen beklagte Unternehmen sein, wenn sie durch aufwendige Medien- und Pressekampagnen begleitet und dadurch ein erhöhtes öffentliches Interesse an der Angelegenheit hervorgerufen wird. Doch auch dann ist es für Unternehmen nicht zuletzt aus Haftungsgründen schwierig, einen Vergleich zu schließen.
So muss es in Zukunft nicht bleiben. Denn bereits heute ist unklar, wie lange die Musterfeststellungsklage in ihrer derzeitigen Ausgestaltung Bestand haben wird. Die EU-Kommission hat am 11. April 2018 einen Vorschlag für eine EU-Richtlinie veröffentlicht, die in Zukunft europaweit Verbandsklagen gegen Unternehmen ermöglichen soll. Der Richtlinienvorschlag geht erheblich weiter als die deutsche Musterfeststellungsklage. Sollte die Richtlinie so oder in ähnlicher Form erlassen werden, müsste der deutsche Gesetzgeber innerhalb der noch zu bestimmenden Umsetzungsfrist die Musterfeststellungsklage mindestens an die Regelungen des Richtlinienvorschlags anpassen.
Darüber hinaus bleibt abzuwarten, ob und inwieweit der Gesetzgeber von sich aus die Musterfeststellungsklage nachbessern wird. Die derzeitige gesetzliche Ausgestaltung ist in vielerlei Hinsicht noch nicht ausgereift. Kein Wunder, denn das Gesetz wurde angesichts der Diesel-Thematik im Schnelldurchlauf verabschiedet.