17. Oktober 2024
Corporate / M&A

Änderungen der KapMuG-Reform 2024 im Überblick

Die Reform des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG) bringt eine Vielzahl von Neuerungen – aber auch unbeabsichtigte Risiken und Nebenwirkungen.

Die Bereitstellung effizienter Verfahren zur Durchsetzung von subjektiven Rechten der Zivilrechtsakteure und die Verbesserung der bestehenden Verfahren steht seit Jahrzehnten im Fokus der rechtspolitischen Agenda. Überlastete Gerichte sollen entlastet, dem Rechtssuchenden die Durchsetzung seiner Rechte erleichtert und (vermeintlich) bestehende Rechtsdurchsetzungslücken geschlossen werden. Zu diesem Zweck hat der Gesetzgeber zuletzt verschiedene behördliche Durchsetzungskompetenzen geschaffen. Vor allem aber setzt er auf zivilprozessuale Instrumente des kollektiven Rechtsschutzes, mittels derer die Ansprüche und Interessen mehrerer Rechtsträger gebündelt geltend gemacht werden können.

Die kollektive Rechtsdurchsetzung erfolgt im Zivilprozess in erster Linie in Gestalt von Verbandsklagen. Im Lauterkeits- und AGB-Recht können bestimmte Verbände Unterlassungs-, Widerrufs-, Beseitigungs- und Gewinnabschöpfungsansprüche geltend machen. Speziell für Verbraucherverbände kennt die Zivilprozessordnung (ZPO) daneben die Möglichkeit der Einziehungsklage nach § 79 Absatz 2 Satz 2 Nr. 3 ZPO. Auch die Musterfeststellungs- und die Abhilfeklage sind als Verbandsklagen ausgestaltet (vgl. inzwischen § 1 Verbraucherrechtedurchsetzungsgesetz (VDuG)).

Das Kapitalanleger-Musterverfahren (KapMuG-Verfahren) sieht demgegenüber keine Verbandsklage vor. Insoweit kommt ihm seit der Einführung im Jahr 2005 eine gewisse Sonderrolle zu.

Hintergründe der Einführung des KapMuG

Anlass der Einführung des KapMuG war unter anderem der Börsengang der Deutschen Telekom AG, im Zuge dessen es zu zahlreichen Schadenersatzklagen von Aktionären wegen vermeintlich falscher Angaben im Verkaufsprospekt kam (circa 12.000 Klagen von etwa 17.000 Anlegern).

In diesem Zusammenhang stellte der Gesetzgeber fest, dass die seinerzeit bestehenden Klagemöglichkeiten zur Bewältigung und Abwicklung sogenannter Massenschadensereignisse, bei denen durch eine Handlung eine Vielzahl von Personen geschädigt wird, ungeeignet seien. Aufgrund der individuell geringen, insgesamt aber hohen Schadenssummen bestehe bei Kapitalanlegern in Anbetracht von aufwendigen Beweisaufnahmen und komplexen kapitalmarktrechtlichen Fragestellungen oft kein Interesse daran, einen an sich bestehenden Anspruch gerichtlich durchzusetzen (vgl. den Gesetzentwurf der Bundesregierung, Bundestagsdrucksache 15/5091, S. 1).

Um dieser „rationalen Apathie″ entgegenzuwirken, führte der Gesetzgeber das KapMuG-Verfahren ein, mithilfe dessen die zentralen, in verschiedenen Parallelverfahren gleichsam relevanten Fragestellungen mit Breitenwirkung für sämtliche Verfahren geklärt werden sollen. Der durch das KapMuG etablierte Mechanismus sieht dabei vor, dass aus verschiedenen gleich gelagerten anhängigen Individualklagen (Ausgangsverfahren) eine Klage als Musterklage ausgewählt werden kann, die anschließend das KapMuG-Verfahren durchläuft, während die weiteren Ausgangsverfahren ausgesetzt werden. In diesem wird sodann über die für alle anhängigen Ausgangsverfahren gleichsam entscheidungserheblichen Tatsachen- und Rechtsfragen entschieden, wobei der Entscheidung Bindungswirkung für alle ausgesetzten Ausgangsverfahren zukommt.

Anlass der Neufassung des KapMuG

In seiner ursprünglichen Fassung sollte das KapMuG am 1. November 2010 außer Kraft treten. Seither ist es mehrfach verlängert worden. Zuletzt war das Gesetz bis zum 31. August 2024 befristet. Ein ersatzloses Auslaufenlassen des KapMuG zu diesem Zeitpunkt hat der Gesetzgeber allerdings nicht ernsthaft in Betracht gezogen.

Der Gesetzgeber hat sich – gestützt auf die Ergebnisse einer Praxisbefragung des damaligen Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz aus dem Sommer 2019 – für eine vollständige Entfristung des KapMuG entschieden. Für eine solche hatte sich unter anderem der Deutsche Richterbund ausgesprochen. Das Musterverfahren, so die Analyse der Bundesregierung, habe sich in der Praxis grundsätzlich als Instrument zur Bewältigung gehäuft auftretender gleichlaufender Klagen mit kapitalmarktrechtlichem Bezug bewährt. Im Rahmen der Praxisbefragung wurde aber auch Reformbedarf im Hinblick auf eine effektivere Ausgestaltung des Verfahrens artikuliert, dem der Gesetzgeber mit der Neufassung des KapMuG Rechnung tragen will. Neben der Entfristung hat der Gesetzgeber das KapMuG in wesentlichen Punkten novelliert.

Wesentliche Änderungen durch die Neufassung

Die grundsätzliche Konzeption des KapMuG-Verfahrens ist durch die Neufassung des KapMuG nicht infrage gestellt worden. Insbesondere ist das Verfahren auch weiterhin nicht als Verbandsklage ausgestaltet.

Erweiterter Anwendungsbereich

Auch die Ausgestaltung als kapitalmarktrechtliches Sonderrecht ist erhalten geblieben. Anregungen aus der Literatur, das KapMuG-Verfahren für weitere Ansprüche zu öffnen, hat der Gesetzgeber nicht aufgegriffen. Dies war nach der ausgiebigen Debatte um die Einführung und Ausgestaltung der Musterfeststellungsklage auch kaum zu erwarten. Der Gesetzgeber hat sich stattdessen darauf beschränkt, den Anwendungsbereich an jüngere kapitalmarktrechtliche Entwicklungen anzupassen. So findet das Verfahren nach § 1 Absatz 4 KapMuG nunmehr auch auf bestimmte Schadensersatzansprüche gegen Anbieter von Kryptowerte-Dienstleistungen Anwendung. Der Begriff der Kapitalmarkinformation im Sinne des KapMuG wird durch die Neufassung erweitert und konkretisiert, sodass auch Angaben in Ratings und Bestätigungsvermerken von Abschlussprüfern zu offenzulegenden Jahres- und Konzernabschlüssen des Emittenten sowie Angaben in bestimmten Kryptowerte-Whitepapern und Anlagebasisinformationsblättern von Schwarmfinanzierungsdienstleistern erfasst sind (§ 1 Absatz 2 Nr. 4, 5 und 9 KapMuG neue Fassung).

Beschleunigung des KapMuG-Verfahrens und der Ausgangsverfahren

Im Übrigen dienen die Änderungen zuvorderst dazu, das KapMuG-Verfahren schneller und damit (vermeintlich) effizienter zu machen. So soll die Bekanntmachung des Musterverfahrensantrags durch das Prozessgericht des Ausgangsverfahrens nach drei statt zuvor sechs Monaten erfolgen (§ 4 Absatz 1 Satz 2 KapMuG neue Fassung). Über die Eröffnung des KapMuG-Verfahrens entscheidet nunmehr das Oberlandesgericht selbst. Es ist insoweit nicht mehr an den Vorlagebeschluss des Prozessgerichts gebunden (§ 9 Absatz 1 Satz 1 KapMuG neue Fassung). Im Sinne einer effizienten Ausgestaltung des KapMuG-Verfahrens kann das Oberlandesgericht den Streitstoff in diesem Zusammenhang abschichten und die Feststellungsziele neu fassen (§ 9 Absatz 1 Satz 2 KapMuG neue Fassung).

Die wohl einschneidendste Änderung stellt die Umstellung auf ein Opt-in-Verfahren dar. Nach der bisherigen Regelung waren sämtliche Ausgangsverfahren, die vor oder während des KapMuG-Verfahrens anhängig waren bzw. wurden, nach der Bekanntmachung des Vorlagebeschlusses im Klageregister von Amts wegen durch das Prozessgericht des Ausgangsverfahrens auszusetzen. Nach dem neuen KapMuG werden nur noch solche Ausgangsverfahren von Amts wegen ausgesetzt, in denen entweder der Kläger oder der Beklagte einen Antrag auf Einleitung eines KapMuG-Verfahrens gestellt hatte (§ 10 Absatz 1 KapMuG neue Fassung). In den Ausgangsverfahren, in denen kein Musterverfahrensantrag gestellt wurde, kann nach Bekanntmachung des Eröffnungsbeschlusses nur noch der Kläger einen Aussetzungsantrag stellen (§ 10 Absatz 1 KapMuG neue Fassung). Die Parteien müssen sich also nunmehr aktiv für die Teilnahme am Musterverfahren entscheiden (sog. Opt-in-Verfahren), wobei nach Bekanntmachung des Eröffnungsbeschlusses nur der Kläger für den Opt-in votieren kann. Dem Beklagten bleibt dann lediglich die Möglichkeit zur Stellungnahme. Hierdurch soll nach dem gesetzgeberischen Vorstellungsbild die Anzahl der Verfahrensbeteiligten im KapMuG-Verfahren – die Kläger der ausgesetzten Verfahren waren bzw. sind beizuladen, soweit diesen nicht ohnehin die Stellung als Musterkläger zukommt – begrenzt und damit Verzögerungen entgegengewirkt werden. Damit einher geht eine geringere Bündelungswirkung des KapMuG-Verfahrens. Im Gegenzug müssen Kläger in Ausgangsverfahrens unter Umständen nicht jahrelang auf eine Entscheidung im KapMuG-Verfahren warten.

Beweismittelvorlage

Als weitere, für die Praxis relevante Neuerung sieht das KapMuG nunmehr unter bestimmten Umständen die Möglichkeit vor, dass das Oberlandesgericht auf Antrag des Musterklägers oder eines Musterbeklagten die Vorlage von im Besitz eines Verfahrensgegners oder Dritter befindlichen Beweismitteln anordnet (§ 17 KapMuG neue Fassung). Hiermit sollen wechselseitige Informationsasymmetrien zwischen den Verfahrensbeteiligten ausgeglichen werden. Die verwendete Terminologie legt nahe, dass der Gesetzgeber hier insbesondere Verbraucher bzw. Kleinanleger in den Blick genommen hat.

Elektronische Aktenführung

Ab dem 1. Januar 2025 werden zudem zur Vereinfachung der Akteneinsicht durch Verfahrensbeteiligte die Akten des erstinstanzlichen KapMuG-Verfahrens elektronisch geführt (§ 15 KapMuG neue Fassung).

Verjährung

Daneben hat der Gesetzgeber auch die Verjährungsregelungen angepasst. Nach § 204 Absatz 1 Nr. 6a. BGB neue Fassung tritt Verjährungshemmung nunmehr mit der öffentlichen Bekanntmachung des Vorlagebeschlusses in einem Musterverfahren für sämtliche Ansprüche ein, denen derselbe Lebenssachverhalt zugrunde liegt wie den Feststellungszielen des Musterverfahrens, wenn die Ansprüche zum Musterverfahren angemeldet werden. Eine Klageerhebung ist danach für die Hemmung nicht mehr erforderlich.

Auswirkungen der KapMuG-Reform 2024 auf die Praxis

Die Änderungen gelten für KapMuG-Verfahren, die aus einem nach dem 19. Juli 2024 gestellten Musterverfahrensantrag herrühren. Für solche Verfahren steht damit erstmals die neu geschaffene Anordnungsmöglichkeit zur Vorlage von Beweismitteln offen. Hier bleibt abzuwarten, inwieweit von den hierdurch eröffneten Möglichkeiten Gebrauch gemacht werden wird.

Anders als die begrüßenswerten erweiterten Möglichkeiten der Oberlandesgerichte bei der Fassung der Feststellungsziele bringt das neue Opt-in Modell als Instrument der Verfahrensbeschleunigung mehr Nach- als Vorteile mit sich. Die ursprüngliche Idee des KapMuG, eine Entlastung der Justiz und die Einheitlichkeit der Rechtsauslegung durch eine zentrale Entscheidung über materielle Rechtsfragen mit Breitenwirkung zu erreichen, wird durch das Opt-in Modell unterlaufen. Seit der Novelle des KapMuG ist es möglich, dass trotz eines anhängigen KapMuG-Verfahrens – je nach Verhalten der Kläger in den Ausgangsverfahren – dieselben Rechtsfragen gleichzeitig auch weiterhin in den individuellen Ausgangsverfahren geführt werden. Die Novelle dürfte daher tendenziell eine zusätzliche Belastung der erstinstanzlichen Gerichte bedeuten und ein Risiko divergierender Entscheidungen zu derselben Rechtsfrage mit sich bringen. Dies gilt umso mehr, als neben einem KapMuG-Verfahren und den Ausgangsverfahren wie § 1 Absatz 3 KapMuG neue Fassung und § 1 Absatz 3 VDuG nunmehr explizit klarstellen, parallel auch Verbandsklagen zu den maßgeblichen Rechtsfragen geführt werden können. Für die Rechtssicherheit und Einheitlichkeit der Rechtsauslegung stellt dieses Nebeneinander eine Herausforderung dar.

Die Klägerseite erhält durch die KapMuG-Novelle zusätzlichen Handlungsspielraum. Sie hat künftig genau abzuwägen, ob sich ein Opt-in in das KapMuG-Verfahren auszahlt. Unter Umständen können die eigenen Interessen in einem Individualverfahren oder durch den Anschluss an eine Verbandsklage im Sinne des VDuG schneller und einfacher durchgesetzt werden.

Die Beklagtenseite hat dagegen kaum Einfluss auf ein potenzielles Nebeneinander von KapMuG-Verfahren, Ausgangsverfahren und etwaigen VDuG-Verfahren. Beklagte Unternehmen treffen erhöhte und kaum planbare Kostenrisiken, denn je nach Verhalten der Kläger wird unter Umständen eine vielfache und inhaltlich identische Verteidigung in verschiedenen Verfahren zusätzlich zur Führung des das KapMuG-Verfahren erforderlich werden – ein Umstand, den der Gesetzgeber mit dem KapMuG ursprünglich gerade beheben wollte. Aus Beklagtensicht wird es deshalb regelmäßig ratsam sein, in allen Ausgangsverfahren auf eine Aussetzung hinzuwirken, wenngleich sie in den Fällen des § 10 Absatz 2 KapMuG neue Fassung nicht erzwungen werden kann.

Tags: 2024 Corporate KapMuG-Reform