Mit Blick auf künftige pandemiebedingte Versammlungsbeschränkungen sollen Unternehmen auch in der kommenden HV-Saison 2022 virtuelle Hauptversammlungen abhalten können.
Der Deutsche Bundestag hat heute kurz vor dem Ende der Legislaturperiode in einer Sondersitzung beschlossen, die Geltungsdauer der Regelungen zur virtuellen Hauptversammlung bis einschließlich 31. August 2022 zu verlängern. Angesichts der ungewissen Fortentwicklung der COVID-19-Pandemie und daraus resultierender Versammlungsbeschränkungen sollen Unternehmen auch in der kommenden HV-Saison 2022 virtuelle Hauptversammlungen nach dem COVID-19-Notfallgesetz abhalten können. Das vom Bundestag beschlossene (Änderungs-)Gesetz bedarf noch der Zustimmung durch den Bundesrat, die als sicher gelten dürfte.
Physische Hauptversammlung dürfte in HV-Saison 2022 trotzdem die Regel sein
Ausweislich der vorliegenden Vorabfassung der Gesetzesbegründung sollten Unternehmen von der Möglichkeit der virtuellen Hauptversammlung „im Einzelfall nur dann Gebrauch [machen], wenn dies unter Berücksichtigung des konkreten Pandemiegeschehens und im Hinblick auf die Teilnehmerzahl der jeweiligen Versammlung erforderlich erscheint.“ Der Gesetzgeber betont damit das vom Vorstand auszuübende Ermessen bei seiner Entscheidung, eine virtuelle anstelle einer (herkömmlichen) physischen Hauptversammlung einzuberufen und durchzuführen.
Ob eine Entscheidung zugunsten einer virtuellen Hauptversammlung im Jahr 2022 überhaupt noch ermessensfehlerfrei und sorgfaltspflichtgemäß vom Vorstand (mit erforderlicher Zustimmung des Aufsichtsrats) getroffen werden kann, dürfte allerdings mit Blick auf die derzeitigen Fortschritte bei der Pandemiebewältigung eher fraglich sein. Dies gilt vor allem für Hauptversammlungen mit zu erwartendem kleinen Teilnehmerkreis von z.B. bis zu 100 Personen, die schon in der HV-Saison 2021 nach den Corona-Verordnungen mancher Bundesländer – teils sogar genehmigungsfrei – bei Umsetzung entsprechender Maßnahmen zur Minimierung des Infektionsrisikos und zur Kontaktnachverfolgung durchgeführt werden konnten. Auf Grundlage der nunmehr seit dem 23. August 2021 geltenden „3G-Regeln″ haben Unternehmen zudem insoweit Rechtssicherheit, als sie nur geimpften, genesenen oder getesteten Personen den Zutritt zur (Präsenz-)Hauptversammlung gestatten dürfen (vgl. dazu Noack, Keine Präsenz-HV 2022 für ungeimpfte Aktionäre? vom 12. August 2021).
Vor diesem Hintergrund ist Vorständen anzuraten, die ordentliche Hauptversammlung im Jahr 2022 grundsätzlich als Präsenz-Hauptversammlung zu planen und frühzeitig einen Versammlungsraum zu organisieren, der sich durch seine Größe und die dort vorhandenen Gestaltungsmöglichkeiten zur Reduzierung von Infektionsrisiken eignet. Sollte sich die Pandemiesituation hingegen wiederum derart verschärfen, dass es zu weitreichenden Kontakt- und Veranstaltungsverboten kommt, bliebe immer noch die Möglichkeit, sich kurzfristig für die Durchführung einer virtuellen Hauptversammlung zu entscheiden.
Bei den Präsenz-Hauptversammlungen ist insbesondere mit kritischen Debatten zur Vorstandsvergütung zu rechnen. So müssen die ordentlichen Hauptversammlungen börsennotierter Gesellschaften in der kommenden HV-Saison 2022 erstmals über die Billigung des Vergütungsberichts beschließen, der für das Geschäftsjahr 2021 erstmals nach den neuen aktienrechtlichen Vorgaben des ARUG II zu erstellen ist. Der Prozess hinsichtlich der Erstellung, Prüfung und Vorlage zur Billigung bzw. Erörterung des Vergütungsberichts durch die Hauptversammlung ist in dem Zeit- und Maßnahmenplan für die Hauptversammlungsvorbereitung entsprechend abzubilden. Digitale Tools wie der CMS HV-Manager können dabei zu einer einfachen Koordination und effizienten Abwicklung des gesamten HV-Prozesses beitragen.
Online-Teilnahmemöglichkeit an (Präsenz-)Hauptversammlung – optional als Serviceangebot der Gesellschaft an ihre Aktionäre
Angesichts der positiven Praxiserfahrungen mit den virtuellen Hauptversammlungen nach dem COVID-19-Notfallgesetz kann es sich für Gesellschaften anbieten, ihren Aktionären einen zugangsgeschützten, internetbasierten Online-Service mit integriertem Video-Webcast der Hauptversammlung zur Verfügung zu stellen, der ihnen die Ausübung von bestimmten Aktionärsrechten in Bezug auf die (Präsenz-)Hauptversammlung ermöglicht (z.B. beschränkt auf die Stimmrechtsausübung). In der bisherigen HV-Praxis wurde von der Möglichkeit, auf Grundlage von § 118 Abs. 1 S. 2 AktG und einer entsprechenden Satzungsregelung den Aktionären die Online-Teilnahme an (Präsenz-)Hauptversammlungen zu gestatten, nur sehr zurückhaltend Gebrauch gemacht.
Die (analogen und digitalen) Verfahren für die Ausübung der Aktionärsrechte vor und während der Hauptversammlung, wie insbesondere in Bezug auf die Bevollmächtigung von Intermediären, Aktionärsvereinigungen, Stimmrechtsberatern, geschäftsmäßig Handelnden und sonstigen Personen, die Erteilung von Vollmacht und Weisung an die Stimmrechtsvertreter der Gesellschaft sowie die Briefwahl, sollten von der Gesellschaft frühzeitig mit ihrem Rechtsberater und dem HV-Dienstleister abgestimmt werden.
Reform des Hauptversammlungsrechts in der nächsten Legislaturperiode
Verschiedene Initiativen, das Recht der Hauptversammlung noch in dieser Legislaturperiode insbesondere dahingehend zu reformieren, dass Aktionären die Ausübung ihrer Rechte mit elektronischen Kommunikationsmitteln – bei gleichzeitiger Rechts- bzw. Anfechtungssicherheit für die Gesellschaft – verbessert wird, sind gescheitert. Es bleibt deshalb abzuwarten, inwieweit der Gesetzgeber in der neuen Legislaturperiode sich erneut mit einer – aus Sicht der Praxis und Wissenschaft notwendigen – Reform des Hauptversammlungsrechts befasst. Hierzu werden derzeit zahlreiche Reformvorschläge diskutiert (z.B. VGR, Reform der Hauptversammlung börsennotierter Gesellschaften, 26. April 2021; Franzmann/Brouwer, AG 2020, 921; Klöhn, ZHR (185) 2021, 182; Noack/Zetzsche, AG 2020, 721; Redenius-Hövermann/Bannier, ZIP 2020, 1885; Seibt/Danwerth, NZG 2020, 1241; Teichmann/Wicke, ZGR 2021, 173).