11. Februar 2022
virtuelle Hauptversammlung Aktiengesetz
Aktienrecht

Gekommen, um zu bleiben: Die virtuelle Hauptversammlung kann die Präsenzversammlung dauerhaft ablösen

Künftig kann die während der Pandemie erprobte virtuelle Hauptversammlung ohne physische Präsenz der Aktionäre zum Regelfall werden. Den Aktionären werden dabei umfangreiche Rechte (wieder-)gewährt.

Der am 10. Februar 2022 veröffentlichte Referentenentwurf (RefE) sieht umfassende Neuregelungen zur rechtssicheren Vorbereitung und Durchführung einer virtuellen Hauptversammlung im Aktiengesetz (AktG) vor. Im Gegensatz zur virtuellen Hauptversammlung nach der Pandemiegesetzgebung (GesRuaCOVBekG) sollen die Aktionäre* im Rahmen der künftig gesetzlich verankerten virtuellen Hauptversammlung ihre Aktionärsrechte vollumfänglich zurückerhalten.

Bisherige gesetzliche Regelung und Erfahrungen

Das AktG enthielt bislang lediglich Regelungen zur Präsenzhauptversammlung und zusätzlich die Möglichkeit einer elektronischen Briefwahl und der elektronischen Teilnahme der Aktionäre an einer hybriden Hauptversammlung (Online-Teilnahme). Von der Möglichkeit einer Online-Teilnahme machten in der Vergangenheit nur sehr wenige Gesellschaften Gebrauch.

Nach dem „unerwarteten Modernisierungsschub“ für die Hauptversammlung aufgrund der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 und der – vorübergehenden – Ermöglichung der virtuellen Hauptversammlung durch das GesRuaCOVBekG wurde eingehend und kontrovers diskutiert, wie die Hauptversammlung der Zukunft ausgestaltet sein könnte. Während weitgehend Einigkeit bestand, dass eine Rückkehr zur „Zeit vor COVID-19“ nicht möglich sein wird, war ebenso klar, dass sich das Modell der virtuellen Hauptversammlung nach dem GesRuaCOVBekG nicht als „Blaupause“ für die virtuelle Hauptversammlung der Zukunft eignet. Auch „Hybrid-Modelle“ aus Präsenz- und virtueller Hauptversammlung wurden nicht zuletzt aufgrund der damit verbundenen Zusatzkosten kritisch gesehen.

Nun hat der Gesetzgeber den ersten „Aufschlag“ für die Ausgestaltung der virtuellen Hauptversammlung der Zukunft gemacht.

Befristete Satzungsregelung erforderlich

Nach § 118a AktG-E haben börsennotierte und nichtbörsennotierte Aktiengesellschaften künftig die Möglichkeit, eine virtuelle Hauptversammlung ohne physische Präsenz der Aktionäre bzw. deren Bevollmächtigter abzuhalten. Im Gegensatz zur pandemiebedingten Regelung im GesRuaCOVBekG ist dafür zwingend eine Satzungsermächtigung erforderlich, die auf maximal fünf Jahre zu befristen ist. Die Satzungsregelung soll dadurch regelmäßig von der Hauptversammlung mit der entsprechenden Mehrheit erneuert werden. Möglich ist entweder, in der Satzung unmittelbar die Durchführung einer virtuellen Hauptversammlung vorzusehen, oder aber, den Vorstand dazu zu ermächtigen, eine virtuelle Hauptversammlung durchzuführen. Letzteres wird sicherlich in der Praxis die Regel werden.

Vorgaben und Ablauf der künftigen virtuellen Hauptversammlung

In Erweiterung der Grundanforderungen des GesRuaCOVBekG an die virtuelle Hauptversammlung (Bild- und Tonübertragung der gesamten Versammlung, Stimmrechtsausübung über elektronische Kommunikation und Vollmachtserteilung, Fragerecht und Widerspruchsrecht) enthält § 118a AktG-E die folgenden Vorgaben:

  • Bild- und Tonübertragung der gesamten Versammlung
  • Ermöglichung der Stimmrechtsausübung im Wege der elektronischen Kommunikation (elektronische Briefwahl oder elektronische Teilnahme) sowie Vollmachtserteilung
  • Vollumfängliche Antragsrechte der Aktionäre in der Versammlung (außer Gegenanträge) 
  • Auskunftsrecht der Aktionäre im Wege der elektronischen Kommunikation, wobei vorgegeben werden kann, dass Fragen bis spätestens vier Tage vor der Versammlung einzureichen sind
  • Veröffentlichung des Berichts des Vorstands spätestens sechs Tage vor der Versammlung
  • Recht der Aktionäre zur Einreichung von Stellungnahmen im Wege elektronischer Kommunikation
  • Redemöglichkeit der Aktionäre während der Versammlung im Wege der Videokommunikation
  • Widerspruchsrecht der Aktionäre im Wege der elektronischen Kommunikation

Zudem ist vorgesehen, dass alle Mitglieder des Vorstands und grundsätzlich alle Mitglieder des Aufsichtsrats am Ort der Hauptversammlung physisch anwesend sein müssen. Einzelne Aufsichtsratsmitglieder können im Wege der Bild- und Tonübertragung zugeschaltet werden, sofern dies in der Satzung vorgesehen ist. Daneben haben der Versammlungsleiter, der Abschlussprüfer (nur im Ausnahmefall, dass die Hauptversammlung den Jahresabschluss feststellt), der Notar und optional Stimmrechtsvertreter der Gesellschaft in Präsenz teilzunehmen.

Wiederherstellung der vollumfänglichen Antragsrechte der Aktionäre

Den Aktionären stehen in der künftigen virtuellen Hauptversammlung sämtliche Antragsrechte zur Verfügung. Anträge zur Geschäftsordnung oder Anträge auf Abwahl des Versammlungsleiters können daher – anders als im Rahmen der pandemiebedingten Sonderregelungen – in der Versammlung selbst gestellt werden.

Eine abweichende Regelung ist für Gegenanträge nach § 126 AktG und Wahlvorschläge sind nach § 127 AktG vorgesehen. Solche Anträge konnten nach der ursprünglichen Konzeption der Präsenzhauptversammlung noch in der Hauptversammlung (spontan) gestellt werden. Falls sie der Gesellschaft fristgerecht innerhalb der 14-Tages-Frist des § 126 Abs. 1 AktG zugingen, hatte die Gesellschaft die Anträge außerdem unverzüglich zugänglich zu machen. Auch bei der vorherigen Übersendung waren die Gegenanträge und Wahlvorschläge allerdings stets noch in der Hauptversammlung selbst zu stellen. Künftig entfällt dieses „zweistufige Verfahren“: Gegenanträge zu den Beschlussvorschlägen der Verwaltung oder Wahlvorschläge sollen künftig grundsätzlich nur noch vor der virtuellen Hauptversammlung gestellt werden können. Bei rechtzeitiger Übermittlung innerhalb der 14-Tages-Frist vor der Versammlung sind die Anträge zum einen von der Gesellschaft zugänglich zu machen. Zum anderen gelten die Anträge als im Zeitpunkt der Zugänglichmachung gestellt. In der virtuellen Hauptversammlung selbst können Gegenanträge und Wahlvorschläge dagegen künftig nicht mehr (spontan) gestellt werden, es sei denn, die Gesellschaft sieht explizit eine abweichende Regelung in der Einberufung vor. Falls eine solche Gestattung in der Einberufung nicht erfolgt, bedeutet dies also, dass Gegenanträge und Wahlvorschläge künftig zwingend 14 Tage vor der Hauptversammlung bei der Gesellschaft eingehen müssen, wenn sie in der Hauptversammlung Berücksichtigung finden sollen. 

Die Neuregelung trägt dem Umstand Rechnung, dass viele Aktionäre bereits vor der Versammlung ihr Stimmrecht ausüben und in der Versammlung selbst viele Aktionäre nicht mehr an einer Abstimmung über einen Gegenantrag bzw. Wahlvorschlag teilnehmen können. Sobald Gegenanträge oder Wahlvorschläge veröffentlicht werden, muss künftig eine Möglichkeit zur Abstimmung darüber im Aktionärsportal bestehen. 

Die „neuen“ Aktionärsrechte: Vorabstellungnahmen und Live-Rederecht

Der künftige § 130a AktG-E sieht vor, dass Aktionäre das Recht haben, bis spätestens vier Tage vor der virtuellen Hauptversammlung Stellungnahmen im Wege der elektronischen Kommunikation einzureichen. Die Gesellschaften können bestimmen, ob diese in Textform und/oder im Videoformat erfolgen, wobei eine Beschränkung des Umfangs zulässig ist. Eingereichte Stellungnahmen sind zwingend vor der Versammlung zu veröffentlichen. 

In künftigen virtuellen Hauptversammlungen soll der Dialog zwischen der Gesellschaft und den Aktionären analog zur Präsenzhauptversammlung etabliert werden, indem Aktionäre das Recht haben, im Wege der Videokommunikation live in der Versammlung einen Redebeitrag zu leisten. Es handelt sich jedoch um reine Redebeiträge; Fragen, Nachfragen und Anträge können im Rahmen eines Redebeitrags nicht gestellt werden. Aktionäre müssen Redebeiträge spätestens vier Tage vor der Versammlung anmelden. Die Gesellschaft kann die Gesamtanzahl der Redebeiträge begrenzen, nach § 130a Abs. 6 AktG-E ist bei einer Vielzahl von angemeldeten Redebeiträgen die zeitliche Reihenfolge des Eingangs der Anmeldungen maßgebend. Ferner kann die Dauer der Redebeiträge in der Einberufung begrenzt werden. Unabhängig davon kann der Versammlungsleiter in der Versammlung weitere Maßnahmen ergreifen, bspw. den festgelegten Gesamtzeitraum für Redebeiträge verkürzen oder die Redezeit eines Aktionärs beschränken. Die konkrete technische Ausgestaltung der Form der Videokommunikation obliegt den Gesellschaften. 

Das modifizierte Fragerecht

§ 131 AktG-E gewährt den Aktionären (wieder) ein umfassendes Auskunftsrecht, das in verschiedener Hinsicht modifiziert werden kann. Zunächst kann den Aktionären analog zur Präsenzversammlung ein Fragerecht im Wege der elektronischen Kommunikation während der virtuellen Hauptversammlung gewährt werden. 

In Anknüpfung an die Regelungen des GesRuaCOVBekG – und wohl deutlich praxisrelevanter – sieht § 131 Abs. 1a AktG-E daneben die Möglichkeit vor, dass die Gesellschaft die Einreichung von Fragen im Wege der elektronischen Kommunikation bis spätestens vier Tage vor der Versammlung beschränken kann. Auch hier wird das Ziel des RefE deutlich, zentrale Informations- und Entscheidungsprozesse in das Vorfeld der Hauptversammlung zu verlagern. Die Gesellschaft kann weitere Beschränkungen in der Einberufung wie z.B. eine Höchstzahl von Fragen je Aktionär oder eine Zeichenbegrenzung festgelegen. Fristgerecht vorab eingereichte Fragen müssen künftig allen Aktionären zugänglich gemacht werden. Im Fall dieser möglichen Vorverlagerung des Auskunftsrechts der Aktionäre können in der Versammlung selbst grundsätzlich keine Fragen mehr gestellt werden. Als „Ausgleich“ ist den Aktionären aber zwingend ein Nachfragerecht zu den in der Versammlung gegebenen Antworten des Vorstands zu gewähren. Das Nachfragerecht kann im Ermessen der Gesellschaft entweder in Textform (z.B. Chatfunktion im Aktionärsportal oder per E-Mail) oder im Wege einer Videozuschaltung des Aktionärs live in der Versammlung gewährt werden. Stets muss die Nachfrage schließlich von dem Aktionär gestellt werden, der auch die ursprüngliche Frage (fristgerecht) gestellt hat, sodass neue Fragen oder Nachfragen zu von anderen Aktionären gestellten Fragen nicht gestellt werden können.

Die Gesetzesbegründung zum GesRuaCOVBekG enthielt noch den Hinweis, dass die Beantwortung von Aktionärsfragen auch im Wege von FAQ vorab auf der Internetseite der Gesellschaft erfolgen kann, sodass sich insbesondere die Frage stellte, ob solche vorab beantworteten Fragen in der Hauptversammlung selbst nicht mehr beantwortet werden müssen. Eine solche Vorabbeantwortung – außerhalb der Frist des § 131 Abs. 3 S. 1 Nr. 7 AktG – sieht der RefE nicht vor. § 131 Abs. 1d AktG-E (Nachfragerecht zu den in der Versammlung gegebenen Antworten des Vorstands) und die Begründung des RefE (keine weitergehende Vorverlagerung des Auskunftsrechts) sprechen dafür, dass eine Vorabbeantwortung per FAQ mit der Folge, dass solche Fragen in der Hauptversammlung nicht mehr beantwortet werden müssen, nicht vorgesehen sein soll. 

Anfechtungsrecht der Aktionäre

Auch nach der vorgeschlagenen Neufassung des AktG steht den Aktionären grundsätzlich das Recht auf Erhebung von Nichtigkeits- und Anfechtungsklagen zu. Während das GesRuaCOVBekG – neben dem Anfechtungsausschluss für durch eine technische Störung verursachte Rechtsverletzungen – noch eine Beschränkung der Anfechtung auf vorsätzliche Verstöße gegen die gesetzlichen Vorgaben zur virtuellen Hauptversammlung vorsah, sieht der RefE einen so weitgehenden Anfechtungsausschluss nicht mehr vor. Vielmehr ist nur eine Einschränkung der Anfechtung für den Fall technischer Störungen vorgesehen, falls kein Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit vorliegt.

Übergangsregelung für virtuelle Hauptversammlungen bis August 2023 

Die Regelungen zur virtuellen Hauptversammlung unter dem GesRuaCOVBekG treten am 31. August 2022 außer Kraft. Das Einführungsgesetz zum Aktiengesetz (EGAktG-E) enthält eine Übergangsregelung, wonach ab dem Inkrafttreten des AktG-E bis zum 31. August 2023 der Vorstand mit Zustimmung des Aufsichtsrats nach eigenem Ermessen eine virtuelle Hauptversammlung auch ohne eine entsprechende Satzungsgrundlage einberufen darf.  

Die Gesellschaften können (und sollten) damit die Hauptversammlungssaison 2023 nutzen, um eine entsprechende Satzungsregelung zur Ermöglichung einer virtuellen Hauptversammlung in den Folgejahren zu schaffen.

Auswirkungen auf die laufende Hauptversammlungssaison

Es bleibt abzuwarten, ob und inwieweit der RefE eine Ausstrahlwirkung auf die laufende Hauptversammlungssaison haben wird. Allerdings haben viele Gesellschaften auch schon in den vergangenen beiden Hauptversammlungssaisons den Aktionären freiwillig weitergehende Rechte gewährt wie die Möglichkeit der Einreichung von Stellungnahmen, Audio- oder Videobotschaften oder die Ermöglichung von Live-Redebeiträgen und Nachfragen in der Hauptversammlung.  

Im Ergebnis könnten die Gesellschaften (auch) die jetzige Saison als Testlauf für die kommende Hauptversammlungssaison nutzen.

*Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Lediglich der leichteren Lesbarkeit halber wird künftig bei allen Bezeichnungen nur noch die grammatikalisch männliche Form verwendet.

 

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