13. September 2023
Zukunftsfinanzierungsgesetz

Mehrstimmrechtsaktien: mehrstimmig, aber heiser – Update #1

Dieser Beitrag beleuchtet, ob die Mehrstimmrechtsaktie für Gründerinnen und Gründer, Familienunternehmen und KMUs sinnvoll sein kann.

Mit dem Referentenentwurf zum „Zukunftsfinanzierungsgesetz“ hat das Bundesfinanzministerium die Mehrstimmrechtsaktie wieder aus der Versenkung geholt. Nun hat der Regierungsentwurf das Konzept gefestigt.

Die Mehrstimmrechtsaktie ist nach deutschem Aktienrecht bislang unzulässig

Es gilt der Grundsatz, dass Kapitaleinsatz und Stimmrechtsmacht in Aktiengesellschaften proportional zueinander sein sollen: mehr Einsatz, mehr Einfluss. Die Mehrstimmrechtsaktie ermöglicht den berechtigten Aktionären* je nach Zuschnitt die Durchbrechung dieses Prinzips, sodass auch mit vergleichsweise geringem Kapitalbeitrag ein hohes Maß an Kontrolle bei einzelnen Aktionären angesiedelt sein kann. Anders als bei der AG ist eine solche Gestaltung in der GmbH nach geltendem Recht zulässig und wird oft umgesetzt.

Die Unzulässigkeit der Mehrstimmrechtsaktien ist seit 1998 durch das sog. KonTraG (Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich) gesetzlich verankert. Bis zu dieser Wegmarke lässt sich die Diskussion um disproportionale Stimmrechte in Aktiengesellschaften in Schlangenlinien durch die Jahrzehnte – bis zurück ins 19. Jahrhundert – nachzeichnen. Wer sich in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung gegen das völlige Verbot der Mehrstimmrechtsaktie aussprach, stützte sich dabei vor allem auf zwei Argumente: Der Bruch mit dem Grundsatz der Proportionalität erleichtert die Bevorzugung von Aktionären, die eine besondere Funktion haben (etwa der Staat) und schützt vor der Schwächung des Einflusses der Bestandsaktionäre. Was damals unter dem Schlagwort der „Überfremdung“ diskutiert wurde, nennt die Europäische Kommission in ihrem Richtlinienvorschlag nun „Angst vor Kontrollverlust“, die Familienunternehmer, Gründer und Unternehmen mit langfristigem und hohem Bedarf an Anschubfinanzierung von einem Börsengang abhielte. Insbesondere KMUs seien zu diesem Schritt eher bereit, wenn die Gesellschafter trotz Börsengang die Entscheidungsmacht in der Gesellschaft für sich erhalten könnten. 

Andere Jurisdiktionen handhaben dies anders und lassen Mehrstimmrechtsaktien zu (siehe dazu die nachfolgenden Beispiele). Diese ungleichen Voraussetzungen für Unternehmen in der EU könnten mit einer Richtlinie über Mehrstimmrechtsstrukturen harmonisiert werden. Der Regierungsentwurf greift diesen Gedanken der erleichterten Eigenkapitalgewinnung durch Börsengang unter Aufrechterhaltung der gesellschaftsrechtlichen Einflussnahmemöglichkeiten der Bestandsgesellschafter auf (RegE, S. 1). Dass mit einer Annäherung an den Regelungsrahmen anderer europäischer Länder auch einem Rechtswahltourismus vorgebeugt werden soll, klingt in der Gesetzesbegründung ebenfalls an. Als Motiv ist aber ebenso denkbar, dass den Gesellschaften ein Instrument zum Schutz vor unerwünschten ausländischen Investoren an die Hand gegeben werden soll. 

Internationale Beispiele für disproportionale Stimmrechte

Die Verfasser des Entwurfs können dabei auch einen Blick auf die Praxis im Ausland werfen. In den USA bekommt das Konzept der Super-Voting Stock mit Aktionären wie Larry Page bei Google oder Mark Zuckerberg bei Meta prominente Gesichter. Dort kann insbesondere im Start-up und Technologiebereich eine steigende Zahl von IPOs mit Mehrstimmrechtsaktien verzeichnet werden. Im schwedischen Recht können Aktiengesellschaften zwei oder mehr Anteilsklassen ausgeben, die jeweils mit unterschiedlichen Stimmrechten ausgestattet sind. In Italien, den Niederlanden, Dänemark und einer gewachsenen Zahl weiterer europäischer Länder gibt es vergleichbare Möglichkeiten mit unterschiedlicher Regelungstiefe. Daneben gibt es auch Gestaltungen zur Stärkung von Langzeitaktionären (Loyalty Shares) oder, wie auch in Deutschland, die Möglichkeit zum vollständigen Stimmrechtsausschluss einzelner Aktionäre. 

Dass die Landschaft der Mehrstimmrechtsaktie so zerpflügt ist, liegt auch an unterschiedlichen wirtschaftlichen Lebenswirklichkeiten und dem sonstigen rechtlichen Rahmen. So verwundert die Regelung in Schweden insofern nicht, als dort die Rechtsform der GmbH ihr Abbild in einer „privaten“ Aktiengesellschaft wiederfindet. Das GmbH-Recht in Deutschland ermöglicht allerdings ebenfalls eine weitgehende Regelung unterschiedlicher Stimmrechte.

Der Regierungsentwurf setzt die Idee der Mehrstimmrechtsaktie mit Augenmaß um

Wie auch schon nach dem Referentenentwurf, soll nach dem Regierungsentwurf die Satzung der Gesellschaft Namensaktien mit Mehrstimmrechten ausstatten können. Die Mehrstimmrechtsaktien dürfen höchstens das Zehnfache des Stimmrechts der sonstigen Aktien haben. Eine Höchstzahl solcher Aktien sowie eine Einschränkung hinsichtlich des Personenkreises der Inhaber von Mehrstimmrechtsaktien sind nicht vorgesehen. Solche Einschränkungen wurden nicht umgesetzt, um eine möglichst freie Gestaltung des Mehrheitsstimmrechts in der Satzung zu ermöglichen.

Die Mehrstimmrechtsaktie hat dabei nicht mehr Funktionen, als ihr Name ankündigt: Ist gesetzlich oder durch Satzung bei Hauptversammlungsbeschlüssen eine Kapitalmehrheit vorgesehen, stoßen die Fähigkeiten der Mehrstimmrechtsaktie an ihre Grenzen. Kapitalerhöhung oder -herabsetzung, Antrag auf Abberufung von Aufsichtsratsmitgliedern oder Einberufung der Hauptversammlung sind nur einige der Beispiele, bei denen die Mehrstimmrechtsaktie nur mit dem repräsentierten Kapital Einfluss nehmen kann. Wo hingegen gesetzlich eine reine Stimmrechtsmehrheit vorgesehen ist, etwa bei der Gewinnverwendung, kann die Mehrstimmrechtsaktie Wirkung entfalten. In den Ausnahmefällen des § 135a Abs. 4 AktG-E besitzt die Mehrheitsaktie lediglich ein einfaches Stimmgewicht. Dies betrifft zum einen die Bestellung des Abschlussprüfers durch die Hauptversammlung nach § 119 Abs. 1 Nr. 5 AktG sowie die Bestellung von Sonderprüfern nach § 142 Abs. 1 AktG.

Dem Minderheitenschutz wird dadurch Rechnung getragen, dass alle betroffenen Aktionäre zustimmen müssen, wenn Mehrstimmrechtsaktien neu eingeführt werden. Der Entwurf stellt fest, dass die Einführung der Mehrstimmrechtsaktie damit faktisch nur bis zum Börsengang stattfinden kann, weil später die Zustimmung aller betroffenen Aktionäre letztlich unmöglich ist. 

Mit dem Beschluss ist das Mehrstimmrecht außerdem nicht in Stein gemeißelt, sondern erlischt bei Übertragung der betreffenden Aktien, jedenfalls aber zehn Jahre nach Börsengang der Gesellschaft bzw. Einbeziehung in den Freiverkehr (in der Satzung um bis zu zehn Jahre verlängerbar). Diese „Sunset“-Regelung dürfte verhindern, dass einst für die Weiterentwicklung des Unternehmens wichtige Entscheidungen durch die fortbestehende überproportionale Stimmmacht der Gründer ausgebremst werden. 

Gestaltungsalternativen zur Mehrstimmrechtsaktie

Wenn man sich für die Rechtsform der Aktiengesellschaft entscheidet, kann es effektiver sein, über die Schaffung unterschiedlicher Aktiengattungen, die nach deutschem Recht auch aktuell zulässig ist, ein mit der Mehrstimmrechtsaktie vergleichbares und in vielen Gestaltungen mittlerweile bewährtes Ergebnis zu erzielen. 

Wer die regulatorischen Anforderungen des Kapitalmarkts scheut, kann zudem auch die Rechtsform der GmbH nutzen, die in der Praxis nicht erst seit 1998 unterschiedlich ausgestaltet wird und insgesamt stärkere Schutzmöglichkeiten der Bestandsgesellschafter bietet.

Vorteile und Risiken der Mehrstimmrechtsaktie

Die beiden großen Vorteile sind bereits genannt: Funktions- und Einflusswahrung der Bestandsaktionäre. Dadurch kann die Hemmschwelle vor dem Börsengang gesenkt werden. 

Wer sich für eine Mehrstimmrechtsstruktur entscheidet, dem sollte allerdings auch bewusst sein, dass damit der Kreis der potenziellen Investoren schrumpfen kann. Institutionelle Anleger schrecken oftmals vor Mehrstimmrechtsstrukturen zurück, weil sie dadurch der Verantwortung, die sie gegenüber ihren eigenen Investoren übernommen haben, bei ihren Beteiligungsgesellschaften nicht gerecht werden könnten. Gibt es in ausländischen Gesellschaften solche Mehrstimmrechtsgestaltungen, werden diese daher oft bei den ersten Finanzierungsrunden mit Wagniskapital wieder beseitigt. Für institutionelle Investoren als Berechtigte wiederum besteht die Gefahr, in die Kontrollfalle zu tappen und durch ihre Mehrstimmrechtsaktien steuerliche Nachteile zu erleiden. 

Bei dem Wunsch des Gesetzgebers nach Erleichterung der Eigenkapitalfinanzierung über einen Börsengang gibt es zudem einen Zielkonflikt mit den Anforderungen des Kapitalmarktes an die Transparenz: Natürlich ist es gut für Unternehmen, wenn sie den Hebel eines Börsengangs nutzen können. Der Anleger muss aber auch wissen, worauf er sich einlässt. 

Der Vorschlag des Regierungsentwurfs ist insofern ausgewogen, weil er die Stimmmachtsdisproportionalität auf ein moderates Maß beschränkt, die Einführung der Mehrstimmrechtsaktie unter einen Zustimmungsvorbehalt der betroffenen Aktionäre stellt und gesetzlich vorgeschriebene Kapitalmehrheiten unberührt lässt. Ein mächtiges Instrument dürfte die Mehrstimmrechtsaktie in diesem Zuschnitt aber angesichts der vielen Gestaltungsalternativen nicht darstellen. 

Die Mehrstimmrechtsaktie ist kein Verlust und kaum Gewinn

Es ist positiv zu beurteilen, dass auch der Regierungsentwurf die Mehrstimmrechtsaktie umsetzt und konkretisiert. Ihr pauschales Verbot nach aktuellem Recht lässt sich nur schwer begründen. Ob aber das neue Instrument tatsächlich dazu in der Lage ist, Gründern, Familienunternehmen und KMUs die Beschaffung von Eigenkapital in der Summe zu erleichtern, ist eher unwahrscheinlich. Von Unternehmen zu Unternehmen wird man sich genau ansehen müssen, welche Investorengruppe angesprochen werden soll, welchen Schutz die Gesellschaft und ihre Gesellschafter brauchen und ob dieser Schutz nicht auch mit bestehenden – und von den Gerichten ausgiebig behandelten – Instrumenten umgesetzt werden kann. Die Erfahrungen im Ausland können eine Anregung sein, sich mit der Möglichkeit des Börsengangs intensiv zu beschäftigen und hierbei das wiederentdeckte Instrument der Mehrstimmrechtsaktie in Erwägung zu ziehen.

*Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.

Tags: Mehrstimmrechtsaktie Zukunftsfinanzierungsgesetz