Generalanwalt des EuGH plädiert grundsätzlich gegen eine nachträgliche Verhandlungspflicht, wenn eine SE ohne ein Beteiligungsverfahren gegründet wurde.
Im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens vor dem EuGH (Vorlagebeschluss des Bundesarbeitsgerichts (BAG) an EuGH v. 17. Mai 2022 – 1 ABR 37/20) sind die Schlussanträge des Generalanwalts vom 7. Dezember 2023 veröffentlich worden. Darin plädiert der Generalanwalt grundsätzlich gegen eine Pflicht zum Nachholen des sog. Arbeitnehmerbeteiligungsverfahrens, wenn die SE zunächst durch arbeitnehmerlose Gesellschaften ohne Durchführung des Beteiligungsverfahrens gegründet wird und erst anschließend die Kontrolle über Tochtergesellschaften mit Arbeitnehmern* übernimmt.
Feststellungen des Generalanwalts zum Nachholen von SE-Beteiligungsverfahren
Folgende Kernaussagen aus den Schlussanträgen des Generalanwalts sind dabei hervorzuheben:
- Die Eintragung einer SE ohne Durchführung eines Beteiligungsverfahrens sei möglich, wenn weder die SE noch die Gründungsgesellschaften zum Zeitpunkt der Gründung Arbeitnehmer beschäftigen. Art. 12 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2157/2001 (SE-VO) stehe dem nicht entgegen. Dies entspricht der absolut herrschenden Meinung, der Rechtsprechung und der Praxis in Deutschland.
- Ein Recht auf nachträgliche Verhandlungen zur Beteiligung der Arbeitnehmer bestehe nach der Richtlinie 2001/86/EG (SE-Richtlinie) grundsätzlich nicht, wenn ein besonderes Verhandlungsgremium (BVG) nicht schon zu Anfang (d.h. im Rahmen der Gründung der SE) eingesetzt worden sei.
- Das Fehlen eines solchen Rechts auf Nachholen des Beteiligungsverfahrens sei nicht ein Versehen, sondern eine bewusste Entscheidung des Unionsgesetzgebers, die sich aus dem Kompromiss über das Vorher-Nachher-Prinzip ergebe. Der Generalanwalt begründet dies in seinen Schlussanträgen sehr ausführlich.
- Ausnahmsweise, nämlich in Missbrauchsfällen, käme ein Nachholen des Beteiligungsverfahrens bei einer zunächst ohne Beteiligungsverfahren gegründeten SE in Betracht. Insofern verweist der Generalanwalt auf die von der SE-Sachverständigengruppe erörterten Konstellationen, die missbräuchlich sein könnten.
Im Ergebnis schlägt der Generalanwalt dem EuGH vor, die erste Vorlagefrage des BAG wie folgt zu beantworten:
Art. 12 Abs. 2 SE-VO ist in Verbindung mit den Art. 3 bis 7 der SE-Richtlinie dahin auszulegen, dass die genannte Vorschrift nach der Eintragung einer Holding-SE, die von beteiligten arbeitnehmerlosen Gesellschaften gegründet wurde, ohne dass zuvor Verhandlungen zur Beteiligung der Arbeitnehmer geführt worden wären, die Aufnahme solcher Verhandlungen nicht allein deshalb vorschreibt, weil diese Holding-SE zu einem Unternehmen wird, das die Kontrolle über Tochtergesellschaften ausübt, die Arbeitnehmer in einem oder mehreren Mitgliedstaaten beschäftigen.
Die übrigen Vorlagefragen des BAG (u.a. zur zeitlichen Begrenzung der Pflicht zum Nachholen des Beteiligungsverfahrens) seien damit nicht relevant.
EuGH folgt häufig dem Generalanwalt
Der EuGH ist nicht an die Vorschläge des Generalanwalts gebunden, folgt diesen jedoch in den meisten Fällen. Wann die Entscheidung des EuGH verkündet wird, ist zum Tag der Erstellung dieses Beitrags noch nicht bekannt.
Missbrauch als entscheidendes Kriterium: Arbeitnehmern dürfen keine Beteiligungsrechte entzogen oder vorenthalten werden
Sollte sich der EuGH auch in diesem Fall der Ansicht des Generalanwalts anschließen, wird bei SE-Gründungen ohne Beteiligungsverfahren die Frage nach einem Missbrauch zentral sein.
Art. 11 der SE-Richtlinie regelt hierzu, dass die Mitgliedstaaten im Einklang mit dem Unionsrecht geeignete Maßnahmen treffen sollen, um zu verhindern, dass eine SE dazu missbraucht wird, Arbeitnehmern Beteiligungsrechte zu entziehen oder vorzuenthalten. Bisher fehlt im deutschen SE-Beteiligungsgesetz eine Regelung zum Nachholen des Beteiligungsverfahrens, wenn das Verfahren im Rahmen der SE-Gründung mangels Arbeitnehmern unterbleibt. Für Missbrauchskonstellationen könnte eine solche Nachholpflicht künftig vorgesehen werden, wenn sich der EuGH dem Generalanwalt insoweit anschließt.
Offene Fragen im Hinblick auf Beteiligungsverfahren bei Aktivierung einer Vorrats-SE
Offen bleibt, ob die dargestellten Grundsätze auch auf Vorrats-SE zu übertragen wären. Hier kommt nämlich die Besonderheit hinzu, dass im Zuge der Aktivierung der Vorrats-SE verschiedene Gründungsvorschriften erneut zur Anwendung kommen. Wenn die SE im Zuge der Aktivierung Arbeitnehmer bekommt oder in die SE-Tochtergesellschaften mit Arbeitnehmern eingebracht werden, könnte deshalb argumentiert werden, dass der Fall wie eine Neugründung zu behandeln und deshalb das Beteiligungsverfahren grundsätzlich nachzuholen sei. Auf einen Missbrauch käme es dann nicht an.
Die Behandlung von Vorrats-SE liegt derzeit in einem anderen Verfahren dem BAG zur Entscheidung vor.
* Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.