Nicht so einfach wie gedacht – OLG Hamm präzisiert Kriterien zur Haftungsbefreiung von Organmitgliedern bei Einschaltung externer Beratung.
Unter welchen Bedingungen können sich Mitglieder von Leitungs- und Aufsichtsorganen auf eine haftungsausschließende Wirkung berufen, wenn sie bei der Erfüllung ihrer Aufgaben externe Berater hinzuziehen und auf diese vertrauen? Unlängst hat das OLG Hamm (OLG Hamm, Urteil v. 6. April 2022 – 8 U 73/12) zu dieser in der Praxis äußerst relevanten Frage ein Urteil gefällt. Dabei bekräftigt und präzisiert es die in diesem Kontext höchstrichterlich entwickelten Kriterien.
Hintergrund: Recht und Pflicht zur Hinzuziehung externer Berater
Die Entscheidung des OLG Hamm fügt sich in ein Spannungsfeld, dem sich viele Mitglieder von Organen juristischer Personen ausgesetzt sehen: Einerseits ist die Beauftragung externer Berater durch den Grundsatz der persönlichen Amtsführung und das Verbot der Einholung missbräuchlicher und bloßer Gefälligkeitsgutachten („opinion shopping“) begrenzt. Andererseits ist angesichts der zumeist hochkomplexen Sachverhalte der Bedarf an externer Beratung hoch.
Der BGH hat schon 1982 in der sog. Hertie-Entscheidung (BGH, Urteil v. 15. November 1982 – II ZR 27/82) für Aufsichtsratsmitglieder festgestellt, dass die Hinzuziehung externer Beratung immer dann in Betracht kommt, wenn sie
- ausschließlich der Erfüllung gesetzlicher Aufgaben im Interesse des Unternehmens dient,
- hierzu erforderlich und nicht durch eine gesellschaftsinterne Aufklärung ersetzbar ist,
- auf eine konkrete, durch den Einzelfall veranlasste Fragestellung beschränkt ist und
- der fachlich qualifizierte und unabhängige Berater sorgfältig ausgewählt wurde.
Darüber hinaus kann sich das Recht zur Hinzuziehung externer Berater auch zu einer Pflicht verdichten: Denn um die Business Judgement Rule für sich in Anspruch nehmen zu können, müssen Aufsichtsrats- und Vorstandsmitglieder ihre Entscheidungen auf einer angemessenen Informationsgrundlage treffen (§§ 93 Abs. 1 S. 2, 116 AktG). Fehlt ihnen die dafür notwendige Sachkunde, gebietet es die Sorgfaltspflicht, externen Rat in Anspruch zu nehmen. Die Einschaltung unabhängiger Experten kann für die Organmitglieder daher unter Haftungsaspekten entlastend wirken, während sie im Fall der Nichtbeauftragung den erhöhten Haftungsrisiken aus §§ 93 Abs. 2, 116 AktG ausgesetzt sind und sich daraus ein mittelbarer Zwang zur Beauftragung entwickelt.
BGH entwickelte bereits Kriterien zum haftungsbefreienden Vertrauen auf externen Rat
Der BGH hat in diesem Zusammenhang in einer Reihe von Entscheidungen Kriterien dafür entwickelt, unter welchen Voraussetzungen Organmitglieder haftungsentlastend auf externen Rat vertrauen können (vgl. BGH, Urteil v. 20. September 2011 − II ZR 234/09; BGH, Urteil v. 27. März 2012 − II ZR 171/10; BGH, Urteil v. 28. April 2015 – II ZR 63/14). Die Kriterien sind:
- Fachliche Befähigung des Beraters, womit fachliche Eignung bzw. formale Zugehörigkeit zu einer entsprechenden Berufsträgerschaft (z.B. Rechtsanwälte oder WP/StB) gemeint ist
- Unabhängigkeit des Beraters, wobei grundsätzlich weder eine Vorbefassung noch die Beratung durch die interne Fach-, insbesondere Rechtsabteilung schadet (anders, wenn im Einzelfall Umstände, etwa Interessenskonflikte, entgegenstehen)
- Ausreichende Information durch das Gesellschaftsorgan, damit der Berater in der Lage ist, den Sachverhalt im Wesentlichen zu überblicken, wobei auch dieser aufgrund seiner höheren Fachkenntnis angehalten ist, ggf. zusätzliche Informationen anzufragen
- Plausibilitätskontrolle, die keine fachliche Überprüfung darstellt, sondern darauf gerichtet ist, ob dem Berater nach dem Inhalt der Auskunft alle erforderlichen Informationen zur Verfügung standen, er die Informationen verarbeitet und alle sich in der Sache auch für einen Rechtsunkundigen aufdrängenden Fragen widerspruchsfrei beantwortet hat oder sich aufgrund der Auskunft weitere Fragen aufdrängen
Sind die genannten Voraussetzungen erfüllt, darf sich das Organmitglied auf den eingeholten Rechtsrat verlassen, wenn die (objektiv pflichtwidrige) Maßnahme durch die Rechtsauskunft des Beraters gedeckt ist (Kongruenz von Rechtsrat und Organhandeln). Irrtümer eines beauftragten Sachverständigen werden den Organmitgliedern grundsätzlich nicht zugerechnet, wenn und weil der Berater nicht im Pflichtenkreis des Organmitglieds, sondern in dem der Gesellschaft tätig geworden ist. Daher kommt eine Haftungsbefreiung selbst dann in Betracht, wenn der eingeholte Rat objektiv unzutreffend war. Bei fehlerhaftem Rat ist u.U. ein Rückgriff gegen den Berater möglich, insbesondere wenn das betreffende Organmitglied in den Schutzbereich des Beratervertrages einbezogen ist.
OLG Hamm gibt Schadensersatzklagen gegen Aufsichtsratsmitglieder statt
Die vorgenannten Kriterien hat nun auch das OLG Hamm in seiner Entscheidung wieder aufgegriffen. In dem Prozess, der sich in eine lange Reihe von Verfahren im Zusammenhang mit der Insolvenz der ehemaligen KarstadtQuelle AG einreiht, hat das OLG Hamm – anders als die Vorinstanz – dem Antrag des Insolvenzverwalters gegen sechs ehemalige Aufsichtsratsmitglieder stattgegeben und diese zur Zahlung von mehr als EUR 53 Mio. Schadensersatz verurteilt.
Das Gericht vertrat die Auffassung, der Gesellschaft sei durch die Nichtinanspruchnahme der damaligen Vorstandsmitglieder ein Schaden entstanden. Diese hätten ihre Pflichten verletzt, als in einer finanziellen Schieflage der Gesellschaft Anfang der 2000er Jahre fünf Warenhausimmobilien deutlich unter Wert veräußert und diese später zu überhöhten Konditionen zurückgemietet wurden. Das Gericht begründet die Haftung der Aufsichtsratsmitglieder anhand der vom BGH in der ARAG/Garmenbeck-Entscheidung (BGH, Urteil v. 21. April 1997 – II ZR 175/95) aufgestellten Grundsätze, dass zur Überwachungsaufgabe des Aufsichtsrats die Verfolgung von Pflichtverstößen des Vorstands samt Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen zählt. Die Aufsichtsräte hätten gegen diese Pflicht verstoßen, da sie jedenfalls die erforderliche Abwägung zwischen den Erfolgsaussichten der Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen und den damit verbundenen Nachteilen nicht in einer dem hierbei strengen rechtlichen Maßstab genügenden Art und Weise vorgenommen hätten.
In ihrer Verteidigung hatten sich die Aufsichtsratsmitglieder u.a. darauf berufen, dass sie – wie vom LG Essen in der Vorinstanz noch bejaht – auf externe Gutachten und Stellungnahmen (u.a. der eigenen Rechtsabteilung) hätten vertrauen dürfen, die nahelegten, dass die Nichtgeltendmachung von Ersatzansprüchen wegen sonst drohender Gefährdung der Kreditfinanzierung dem Konzernwohl entsprechen würde. Dem hat das OLG Hamm in seiner Entscheidung eine Absage erteilt und eine haftungsbefreiende Wirkung der Gutachten und Stellungnahmen abgelehnt.
Präzisierung der Kriterien durch das OLG Hamm
Im Zusammenhang mit der Frage der fachlichen Befähigung der externen Berater argumentierte das Gericht, dass die Gutachten z.T. nur von Juristen angefertigt worden seien, die für die betreffenden Fragen als nicht allein fachkundig angesehen werden könnten. So hätten die Aufsichtsratsmitglieder vor einer entscheidenden Sitzung keinen betriebswirtschaftlichen Expertenrat eingeholt, obwohl sich die wirtschaftliche Situation der Gesellschaft im Hinblick auf Finanzierungsverträge deutlich verändert hatte. Um haftungsbefreiend auf externen Rat vertrauen zu können, ist also sorgfältig auf die sachlichen Zusammenhänge der betreffenden Fragen zu achten und ein entsprechend fachlich kundiger Berater auszuwählen, was in der Praxis neben juristischen häufig (betriebs-)wirtschaftliche Berater betreffen wird.
Hinsichtlich des Kriteriums der Unabhängigkeit der Berater ging das OLG Hamm nicht auf die Argumentation ein, dass die Rechtsabteilung schon nicht als „unabhängiger Experte“ angesehen werden könne, da sie dem Vorstand unterstellt gewesen sei. Das Gericht sah sich insofern – wohl aufgrund bereits hinreichender anderweitiger Gründe, s.u. – nicht veranlasst, zu der auch vom BGH noch nicht abschließend geklärten Frage Stellung zu nehmen, inwieweit im Fall der internen Rechtsabteilung die Unabhängigkeit der Berater bereits durch deren Stellung innerhalb der Organisationsstruktur des Unternehmens in Frage gestellt wird oder inwiefern sie erst bei Hinzutreten besonderer Interessenskonflikte oder Vorbefassungsproblematiken ausscheidet. Auch wenn das Vertrauen auf den Rat der internen Rechtsabteilung wohl nicht per se als ungeeignet angesehen werden kann, eine Enthaftung herbeizuführen, sind Organmitglieder jedenfalls bessergestellt, wenn sie (zusätzlich) fachkundigen externen (Rechts-)Rat einholen.
Der Schwerpunkt der Argumentation des Gerichts liegt aber auf der Frage der hinreichenden Information der Berater durch die Organmitglieder bzw. der anschließenden Plausibilitätskontrolle: Im Ergebnis seien die für die Realisierbarkeit der Schadensersatzansprüche maßgeblichen Fragen der Eintrittspflicht der Versicherung und der Höhe der Privatvermögen der betreffenden früheren Vorstandsmitglieder nicht hinreichend aufgeklärt worden. Die Gutachten hatten hierzu keine näheren Erwägungen enthalten. Demgegenüber sei aus den gegebenen Umständen, etwa vorliegenden Vertragsdokumenten, für die Aufsichtsratsmitglieder erkennbar gewesen, dass derartige maßgebliche Gesichtspunkte, die für die Frage der Realisierbarkeit der Schadensersatzansprüche von Bedeutung waren, nicht hinreichend behandelt wurden. Im Ergebnis hätten die Aufsichtsratsmitglieder daher keinen hinreichenden Expertenrat eingeholt. Ist für ein Organmitglied ersichtlich, dass die Sachverhaltsfeststellung nicht vollständig war, darf es auf die Richtigkeit eines Expertenrats nicht vertrauen. Daher ist auf eine Ermittlung aller wesentlichen tatsächlichen Umstände, die Unterrichtung der Berater über diese Sachverhalte sowie eine sorgfältige anschließende Plausibilitätsprüfung zu achten.
Praxis erhält genauere Leitplanken bei dennoch bleibender Einzelfallabhängigkeit
Das OLG Hamm hat in seiner Entscheidung keine grundlegenden bzw. bislang ungeklärten Rechtsfragen beantwortet, was auch durch die Nichtzulassung der Revision zum BGH ersichtlich wird. Wichtig festzuhalten ist, dass es sich bei den oben genannten höchstrichterlich entwickelten Kriterien für ein haftungsbefreiendes Vertrauendürfen auf externen Rat nur um „Leitplanken“ und nicht um feste Tatbestandsmerkmale handelt. Die Fragen der fachlichen Befähigung, Unabhängigkeit und hinreichenden Information bedürfen in hohem Maße der Ausfüllung mit Fakten, und sind so in jedem Einzelfall zu bewerten. Vor diesem Hintergrund bietet das Urteil des OLG Hamm nützliche Anhaltspunkte zur Konkretisierung der sonst eher weichen Kriterien, wobei aber auch Raum für Interpretation bleibt.
Um dem Risiko der Haftung nach den §§ 93, 116 AktG entgegenzuwirken, ist Vorstands- und Aufsichtsratsmitgliedern daher zu empfehlen, eine umfassende Aufbereitung des zu beurteilenden Sachverhalts sicherzustellen, darauf zu achten, dass der bzw. die Berater alle relevanten Fachgebiete abdecken, die Ergebnisse im Anschluss einer sorgfältigen Plausibilitätsprüfung zu unterziehen und schon aus Beweiszwecken alles Vorgenannte zu dokumentieren.
*Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.