15. Dezember 2022
Führungspositionen-Richtlinie
Corporate Governance & Risk Compliance (ESG)

Führungspositionen-Richtlinie: (Einheitliche) europaweite Geschlechterquoten für börsennotierte Gesellschaften?

40 %-Quote für den Aufsichtsrat bzw. 33 %-Quote für Vorstand und Aufsichtsrat – besteht Handlungsbedarf für börsennotierte Gesellschaften in Deutschland?

Die Richtlinie (EU) 2022/2381 des Europäischen Parlaments und des Europäischen Rates vom 23. November 2022 zur Gewährleistung einer ausgewogeneren Vertretung von Frauen und Männern unter den Direktoren* börsennotierter Gesellschaften und über damit zusammenhängende Maßnahmen (FüPo-RL) wurde am 22. November 2022 vom Europäischen Parlament angenommen und am 7. Dezember 2022 im Amtsblatt der EU veröffentlicht. Sie tritt am 20. Tag nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt in Kraft, d.h. am 27. Dezember 2022 und damit noch in diesem Jahr. Ab diesem Zeitpunkt haben die Mitgliedstaaten zwei Jahre Zeit, die Regelungen umzusetzen.

FüPo-RL: Geschlechterquoten für börsennotierte Gesellschaften in der EU

Bereits 2012 hatte die Europäische Kommission einen Vorschlag für eine europaweit einheitliche Geschlechterquote in Führungspositionen vorgelegt. Nachdem das Vorhaben fast ein Jahrzehnt von verschiedenen Mitgliedstaaten im Rat blockiert worden war, konnte im Juni 2022 eine Einigung zwischen dem Parlament und dem Rat erzielt werden: Die nunmehr verabschiedete FüPo-RL verpflichtet Mitgliedstaaten, bis zum 30. Juni 2026 sicherzustellen, dass in börsennotierten Gesellschaften gewisse Geschlechterquoten gelten. Ausgenommen hiervon sind Kleinstunternehmen sowie kleine und mittlere Unternehmen (KMU) (Art. 2 S. 2 FüPo-RL).

Mind. 40 % der „nicht geschäftsführenden Direktoren“ – gem. Art. 3 Nr. 5 FüPo-RL sind dies in einem dualistischen System die Aufsichtsratsmitglieder – oder 33 % aller Direktoren, wozu sowohl die „geschäftsführenden Direktoren“ – gem. Art. 3 Nr. 4 FüPo-RL sind dies in einem dualistischen System die Vorstandsmitglieder – als auch die „nicht geschäftsführenden Direktoren“ zählen, sollen dem unterrepräsentierten Geschlecht angehören. Zu Direktoren in diesem Sinne gehören auch Arbeitnehmervertreter (Art. 3 Nr. 3 FüPo-RL), sodass diese bei der Erfüllung der Quote mitberücksichtigt werden. 

[Im Folgenden wird im Grundsatz vom dualistischen System ausgegangen; vor diesem Hintergrund werden stets die entsprechenden Begriffe „Aufsichtsrat“ und „Vorstand“ verwendet, während die FüPo-RL im Grundsatz vom monistischen System ausgeht und die Begriffe „nicht geschäftsführende Direktoren“ und geschäftsführende Direktoren“ verwendet.]

Der deutsche Gesetzgeber hat mit der Verabschiedung des Gesetzes für die Gleichstellung von Frauen und Männern in der Bundesverwaltung und in den Gerichten des Bundes (FüPoG I) sowie des Gesetzes zur Ergänzung und Änderung der Regelungen für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst (FüPoG II) – siehe auch unsere Beiträge zur Frauenquote im Vorstand und in Führungspositionen sowie zum Mindestbeteiligungsgebot – in den letzten Jahren bereits (erste) Maßnahmen zur Stärkung einer ausgewogenen Vertretung der Geschlechter in Führungspositionen börsennotierter Gesellschaften ergriffen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob durch die FüPo-RL neue Pflichten für börsennotierte Gesellschaften in Deutschland entstehen. 

Geschlechterquoten und Zielvorgaben für Leitungsorgane (Art. 5 FüPo-RL)

Die Mitgliedstaaten können zwischen zwei alternativen verbindlichen Quoten im Hinblick auf die Vertretung der Geschlechter in Leitungsorganen wählen: Zum einen kann eine Quote von mind. 40 % des unterrepräsentierten Geschlechts für den Aufsichtsrat der betroffenen Unternehmen festgelegt werden (Art. 5 Abs. 1a FüPo-RL). Sollte sich ein Mitgliedstaat für diese Variante entscheiden, sind zusätzlich individuelle quantitative Zielvorgaben zur Verbesserung der ausgewogenen Vertretung der Geschlechter im Vorstand festzulegen (Art. 5 Abs. 2 FüPo-RL). Die Quote von 40 % war bereits in dem Vorschlag der Kommission aus dem Jahr 2012 vorgesehen.

Eine Neuerung gegenüber dem damaligen Vorschlag stellt indes die zweite Variante dar: Ein Mitgliedstaat kann sich nunmehr alternativ dafür entscheiden, eine gemeinsame Quote für den Aufsichtsrat sowie den Vorstand einer börsennotierten Gesellschaft zu verfolgen. Im Fall dieser zweiten Variante muss das unterrepräsentierte Geschlecht insgesamt mit mind. 33 % in den beiden Leitungsorganen der Gesellschaft vertreten sein (Art. 5 Abs. 1b FüPo-RL).

Besetzung der Leitungsorgane nach einem transparenten Auswahlverfahren: Klare, neutrale und eindeutige Kriterien ohne Diskriminierung (Art. 6 FüPo-RL)

Als Mittel zur Erreichung der Zielvorgaben soll nach Art. 6 FüPo-RL dienen, dass die von den Gesellschaften durchgeführten Auswahlverfahren zur Besetzung der Leitungsorgane transparent sind und nach klaren, neutralen und eindeutigen Kriterien ohne Diskriminierung durchgeführt werden. 

Ausweislich des Erwägungsgrunds 22 ist dies eines der wichtigsten Instrumente für die Umsetzung der FüPo-RL. Als mögliche Auswahlkriterien werden etwa „Erfahrung mit Management- oder Aufsichtsaufgaben, internationale Erfahrung, Interdisziplinarität, Leitungsqualitäten, Kommunikationsfähigkeit, Fähigkeit zur Netzwerkarbeit und einschlägige Kenntnisse, beispielsweise im Bereich Finanzen, Finanzaufsicht oder Personalverwaltung“ (Erwägungsgrund 39 FüPo-RL) genannt.

Umfassende Berichtspflichten zur Beurteilung der Fortschritte der verpflichteten Gesellschaften (Art. 7 FüPo-RL) 

Neben einer Berichtspflicht der Gesellschaften auf ihrer Internetseite über den Anteil der Geschlechter in ihren Leitungsorganen, über die gefassten Maßnahmen sowie über die Gründe für die Nichterreichung von Quoten (gem. Art. 5 Abs. 1 FüPo-RL) bzw. von individuellen quantitativen Zielvorgaben (gem. Art. 5 Abs. 2 FüPo-RL) verlangt die FüPo-RL, dass Gesellschaften den zuständigen nationalen Behörden jährlich entsprechende Angaben übermitteln. 

Zudem ist eine Veröffentlichung der Angaben in der Erklärung zur Unternehmensführung vorgesehen. Schließlich werden die Mitgliedstaaten verpflichtet, anhand von leicht zugänglichen Listen bekanntzugeben, welche börsennotierten Gesellschaften die Quote von 40 % bzw. 33 % erreicht haben.

Sanktionen bei Verstößen gegen Vorgaben der FüPo-RL (Art. 8 FüPo-RL)

Verstöße gegen die ergänzenden individuellen quantitativen Zielvorgaben im Vorstand (Art. 5 Abs. 2 FüPo-RL) im Falle der Festlegung einer Geschlechterquote von mind. 40 % im Aufsichtsrat (Art. 5 Abs. 1a FüPo-RL), Verstöße gegen die Gewährleistung eines transparenten Auswahlverfahrens sowie Verstöße gegen die Berichterstattungspflichten sollen mit wirksamen, verhältnismäßigen und abschreckenden Sanktionen geahndet werden.

Beispielhaft werden in der Richtlinie Bußgelder oder die Möglichkeit, gerichtlich die Nichtigkeit eines Beschlusses über die Auswahl eines Aufsichtsrats- oder Vorstandsmitglieds feststellen zu lassen, als mögliche Sanktionen aufgezählt. Hingegen soll das Verfehlen der Geschlechterquote von 40 % für den Aufsichtsrat bzw. 33 % für Vorstand und Aufsichtsrat als solche (Art. 5 Abs. 1 FüPo-RL) sanktionslos bleiben (vgl. Erwägungsgrund 48 sowie Wortlaut des Art. 8 Abs. 1 FüPo-RL). 

„Opt-out“ zum Auswahlverfahren (und Fiktion der Quoten) (Art. 12 FüPo-RL)

Vor dem Hintergrund, dass bereits in einigen Mitgliedstaaten der EU – wie u.a. in Deutschland durch das FüPoG I und das FüPoG II – Maßnahmen getroffen wurden, um eine ausgewogenere Vertretung von Männern und Frauen in Leitungsorganen zu erreichen, sieht die FüPo-RL (vor dem Hintergrund des Subsidiaritätsprinzips) „Opt-out“-Möglichkeiten vor:

Mitgliedstaaten können die Anwendung der Vorschriften zum Auswahlverfahren unter bestimmten Voraussetzungen aussetzen. Insoweit bestehen zwei Alternativen: Nach Alternative 1 (Art. 12 Abs. 1a FüPo-RL) muss das unterrepräsentierte Geschlecht faktisch bereits mind. 30 % der Aufsichtsratsmitglieder oder mind. 25 % der Vorstands- sowie der Aufsichtsratsmitglieder in börsennotierten Gesellschaften ausmachen. Alternative 2 (Art. 12 Abs. 1b FüPo-RL) hingegen bedeutet, dass das nationale Recht (i) ebendiese vorgenannten Quoten (von 30 % bzw. 25 %) vorgeben, (ii) wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Durchsetzungsmaßnahmen bei Nichteinhaltung der vorgenannten Quoten (von 30 % bzw. 25 %) vorsehen und (iii) vorschreiben muss, dass alle börsennotierten Gesellschaften, die nicht unter dieses nationale Recht fallen, individuelle quantitative Zielvorgaben für Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder festlegen.

Für den Fall des „Opt-outs“ in Bezug auf die Vorgaben für das Auswahlverfahren greift zugleich eine Fiktion im Hinblick auf die (strengeren) Quoten von 40 % bzw. 33 % der FüPo-RL: Macht ein Mitgliedstaat von der „Opt-out“-Möglichkeit Gebrauch, gelten die (strengeren) Quoten der FüPo-RL als erfüllt (vgl. Art. 12 Abs. 1 S. 2 FüPo-RL). 

Deutschland kann und wird von der zweiten „Opt-out“-Möglichkeit Gebrauch machen – vgl. hierzu auch die Informationen auf der Seite des BMFSJ vom 25. November 2022, nach denen in Deutschland kein Umsetzungsbedarf mehr bestehe. Denn Deutschland erfüllt die drei vorgenannten Voraussetzungen der zweiten Variante bereits: 

  1. In Deutschland bestehen heute verbindliche Geschlechterquoten für börsennotierte und paritätisch mitbestimmte Gesellschaften: § 96 Abs. 2 AktG normiert für Aufsichtsräte (seit dem FüPoG I) eine verbindliche Geschlechterquote von 30 %. Zudem normiert der jüngst durch das FüPoG II eingeführte § 76 Abs. 3a AktG nunmehr ergänzend ein Mindestbeteiligungsgebot für Vorstände: Vorstände, die aus mehr als drei Mitgliedern bestehen, sind mit mind. einer Frau und einem Mann zu besetzen. 
  2. § 96 Abs. 2 AktG sanktioniert eine Missachtung mit der Nichtigkeit der Wahl bzw. der Bestellung (so wie im Übrigen auch § 76 Abs. 3a AktG). 
  3. Des Weiteren greift für börsennotierte Gesellschaften, die nicht der paritätischen Mitbestimmung unterliegen und damit von den vorgenannten verbindlichen Geschlechterquoten ausgenommen sind, § 111 Abs. 5 AktG. Diese Vorschrift bestimmt, dass der Aufsichtsrat für den Frauenanteil im Aufsichtsrat und im Vorstand Zielgrößen festlegt. 

In Deutschland bleibt es damit (vorerst) bei den aktuellen Geschlechterquoten und den bestehenden Vorgaben für Auswahlverfahren.

„Opt-out“ zur Berichtspflicht (Art. 7 Abs. 4 FüPo-RL) 

Neben der „Opt-out“-Möglichkeit des Art. 12 FüPo-RL sieht Art. 7 Abs. 4 der FüPo-RL eine solche Möglichkeit auch im Hinblick auf die umfassenden Berichtspflichten vor: Für Mitgliedstaaten der EU, die 

die Anwendung von Artikel 6 auf der Grundlage von Artikel 12 ausgesetzt

haben, gilt, dass sie von einer Umsetzung der neuen Berichtspflichten in nationales Recht absehen können, wenn das

nationale Recht Berichterstattungspflichten enthält, die die regelmäßige Veröffentlichung von Informationen über die Fortschritte börsennotierter Gesellschaften im Hinblick auf eine ausgewogenere Vertretung von Frauen und Männern in ihren Leitungsorganen gewährleistet.

Für börsennotierte Gesellschaften in Deutschland greift insoweit die Pflicht zur Erstellung und Veröffentlichung einer Erklärung zur Unternehmensführung gem. § 289f HGB, sodass auch im Hinblick auf die in der FüPo-RL normierten Berichtspflichten Deutschland von der „Opt-out“-Möglichkeit profitieren kann. Die FüPo-RL sieht insoweit einen umfassenden „Opt-out“ vor, sodass Gesellschaften auch nicht – in Ergänzung ihrer Pflicht aus § 289f HGB – verpflichtet werden, Angaben auch gegenüber zuständigen Behörden offenzulegen. Auch wird Deutschland nicht verpflichtet, anhand von leicht zugänglichen Listen bekanntzugeben, welche börsennotierten Gesellschaften die Quoten bereits erreicht haben.

Geschlechterquoten: Vorbildfunktion der börsennotierten Gesellschaften für die gesamte europäische Wirtschaft?

Die FüPo-RL betont die besondere wirtschaftliche Bedeutung und Sichtbarkeit von börsennotierten Gesellschaften sowie deren großen Einfluss auf den Markt (vgl. Erwägungsgrund 27). Es heißt, dass diese Gesellschaften „Maßstäbe für die Wirtschaft im weiteren Sinne“ setzen und dass „andere Unternehmen ihrem Beispiel folgen werden“. Abzuwarten bleibt, ob börsennotierte Gesellschaften dieser starken Vorbildfunktion gerecht werden können, indem zum einen die Aufsichtsräte nicht mitbestimmter börsennotierter Gesellschaften ehrgeizige Quoten (nach § 111 Abs. 5 AktG) für Vorstände und Aufsichtsräte festlegen und zum anderen die weiteren Gesellschaften in Deutschland, die nicht in den Anwendungsbereich des FüPoG I oder des FüPoG II fallen, eine ausgewogenere Vertretung der Geschlechter in ihren Leitungsorganen durch freiwillige Maßnahmen voranbringen werden. 

Interessant ist zudem, dass die von institutionellen Stimmrechtsberatern vielfach geäußerte Forderung, die Amtszeiten von Aufsichtsräten zu verkürzen oder jedenfalls das gesetzliche Maximum des § 102 Abs. 1 AktG nur unter Angabe entsprechender Gründe auszureizen – vgl. insoweit etwa die Forderung (auf Seite 6) in den Glass Lewis Proxy Voting Policies Germany für 2023 –, eine neue Dimension gewinnt: Nach Erwägungsgrund 15 der FüPo-RL ist eine „regelmäßige Neubesetzung von Direktorenstellen anzuregen“, um die „spezifischen Hindernisse“ für Frauen als Direktoren auszuräumen. Es bleibt abzuwarten, ob die verschiedenen „Stellschrauben“ den Anteil von Frauen in Leitungsorganen zu erhöhen vermögen und – wie einige Studien nahelegen und die FüPo-RL es in ihrem Erwägungsgrund 16 als „weitgehenden Konsens“ postuliert – daraus resultierend die Qualität der Entscheidungen in den Unternehmen und die Unternehmensführung insgesamt positiv beeinflusst werden sowie auf lange Sicht das Wachstum der Wirtschaft stimuliert und den demographischen Herausforderungen in Europa begegnet werden kann.

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*Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.

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