An Anekdoten über „vergessene Gesetze“ herrscht kein Mangel. So nimmt der durchschnittliche Mitteleuropäer mit Erstaunen zur Kenntnis, dass es Fußgängern in Salt Lake City untersagt ist, eine Violine in einer Papiertüte zu transportieren, wohingegen Los Angeles das Abschlecken von Kröten verbietet (diese und weitere Beispiele hier). Weit weg, mag man denken, und sich für die eigene wirtschaftliche Tätigkeit in hiesigen Breiten vor derart drastischen Rechtsfolgen gefeit sehen. Weit weg wähnt man vor allem das scharfe Schwert des Strafrechts – von Wirtschaftsstraftaten wie Bestechung, Untreue oder Insolvenzverschleppung einmal abgesehen.
Eine unzutreffende Einschätzung, denn „vergessene Gesetze“ existieren auch hierzulande. Zugegeben: Das sogenannte „Nebenstrafrecht“ (etwas herabsetzend für alle Strafnormen außerhalb des Strafgesetzbuches) ist ein weites Feld, und die Neigung von Staatsanwaltschaften und Strafgerichten zu Aktivitäten in diesem Bereich erscheint gelegentlich überschaubar. Gleichwohl existieren Strafvorschriften auch in Rechtsbereichen, in denen sie vielfach nicht unbedingt vermutet werden, und Unternehmen können schneller als erwartet zum Schauplatz von Ermittlungsverfahren werden.
Eine gewisse Popularität haben Straftaten nach dem Urhebergesetz erlangt, seit Inhaber von Rechten an Musik- und Filmwerken beim Vorgehen gegen „Raubkopierer“ verstärkt Staatsanwälte bemühen (Details zu diesem Ansatz und seinen Grenzen hier). Weit weniger häufig, aber in gleicher Weise möglich sind derartige Verfahren wegen der Verletzung von Urheberrechten an Computerprogrammen – beim Einsatz nicht oder nicht hinreichend lizensierter Software können auf Antrag des Software-Lizenzgebers oder bei besonderem öffentlichen Interesse Strafverfahren eingeleitet werden.
Gleich mehrere Strafvorschriften hält auch das Wettbewerbsrecht bereit. Nach §§ 17, 18 UWG drohen beim Verrat von Betriebs- oder Geschäftsgeheimnissen oder der sog. „Vorlagenfreibeuterei“ Geldstrafe oder Haftstrafen von bis zu fünf Jahren. Diese Vorschriften treten gelegentlich aus ihrem Schattendasein hervor: Betroffene Unternehmen erstatten – nach unserem Eindruck häufiger als noch vor wenigem Jahren – Strafanzeigen, wenn z.B. umfangreiche Kundendatenbanken oder Konstruktionszeichnungen plötzlich in den Händen von Wettbewerbern auftauchen, nachdem Führungskräfte das Unternehmen verlassen oder Kooperationsverhandlungen abgebrochen werden. Dieser verstärkte Schutz relevanten internen Know-Hows führt gelegentlich auch zu energischen Ermittlungsmaßnahmen der Staatsanwaltschaften, Hausdurchsuchungen beim vermeintlich rechtsverletzenden Unternehmen und in Privatwohnungen von Geschäftsführung oder Vorstand inklusive. Neben dem Geheimnisverrat sind nach § 16 UWG auch bestimmte Fälle irreführender Werbung unter Strafe gestellt – die Konsequenzen eines rechtlich risikoreichen Außenauftritts erschöpfen sich also nicht nur in den klassischen wettbewerbsrechtlichen Ansprüchen „Unterlassung, Auskunft, Schadensersatz“.
Ärger mit dem Staatsanwalt droht im Bereich des gewerblichen Rechtsschutzes überdies bei Verletzungen markenrechtlicher Vorschriften (neben der klassischen Produktpiraterie auch in komplexeren Fällen wie hier), von Verletzungen des Rechts am eigenen Bild nach dem Kunsturhebergesetz (§ 33 KUG). Auch die vorsätzliche Nichteinhaltung datenschutzrechtlicher Vorschriften ist bei Bereicherungs- oder Schädigungsabsicht strafbar, § 44 BDSG.
In der Praxis ist die Anwendung all dieser nebenstrafrechtlichen Vorschriften indes nicht ohne Probleme (eine detaillierte Auseinandersetzung mit der „Kriminalisierung des Kennzeichenrechts″ hier). Teilweise werden schon Ermittlungsverfahren selbst bei hinreichendem Tatverdacht angesichts erheblichen Ermittlungsaufwandes und beschränkter Ressourcen eingestellt, teilweise folgt die Einstellung nach Anklageerhebung in der Hauptverhandlung (oft genug gegen Auflagen oder Geldbußen, die nur einen Bruchteil der wirtschaftlichen Folgen aufgrund der zivilrechtlichen Verfahren wegen des gleichen Sachverhalts ausmachen). Das scharfe Schwert des Strafrechts erweist sich trotz der abschreckenden Strafandrohungen dabei oft als erstaunlich stumpf. Teilweise hat der Gesetzgeber die Tatbestandsvoraussetzungen auch (bewusst oder unbewusst) eng gefasst – nachvollziehbar im Hinblick auf den strafrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz, stellenweise diffizil in der Rechtsanwendung. So stellte die Staatsanwaltschaft ein Verfahren wegen eines offensichtlich erwiesenen Verstoßes gegen datenschutzrechtliche Bestimmungen bei einer großen Textil-Einzelhandelskette zunächst ein, weil sich eine Schädigungsabsicht nicht nachweisen ließ.
So unbefriedigend dies für ein in seinen Rechten verletztes Unternehmen sein mag, so berechtigt ist die sorgfältige rechtliche Würdigung des relevanten Sachverhalts durch Staatsanwaltschaften und Gerichte – und die Konsequenz einer Verfahrenseinstellung oder eines Freispruchs, wenn die besonderen Voraussetzungen strafwürdiger Verstöße gegen urheber-, wettbewerbs-, datenschutzrechtliche oder vergleichbare Vorschriften im Einzelfall eben nicht vorliegen. Genau hierauf muss sich die im Wirtschaftsleben agierende Person auch verlassen können, denn wer heute eine Strafanzeige erstattet, kann morgen selbst Beschuldigter sein. Gleiches gilt schon für die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens: Denn nicht nur in Fällen erheblicher Medienaufmerksamkeit ist bereits ein Ermittlungsverfahren dazu geeignet, die Reputation eines Unternehmens nachhaltig zu beschädigen.