Nach welchen Kriterien eine Sitzverlegung innerhalb Deutschlands vor einem Insolvenzantrag als rechtmissbräuchliche Zuständigkeitserschleichung bewertet wird.
Verlegt eine Gesellschaft unmittelbar vor einem Insolvenzantrag ihren Geschäftssitz, stellt sich die Frage, ob dies allein aus unternehmerischen Motiven erfolgte oder ob durch die Sitzverlegung die ausschließliche örtliche Zuständigkeit eines anderen Insolvenzgerichts begründet werden soll (§ 3 Abs. 1 Satz 1 InsO).
Aufgrund des im Herbst 2020 einer breiteren Öffentlichkeit bekannt gewordenen „Bremer Modells“ sind Sitzverlegungen im Zusammenhang mit einem Insolvenzverfahren aktuell im Fokus. Beim „Bremer Modell“ verlegten Gesellschaften ihre Geschäftssitze nach Bremen und firmierten zum Teil um, um die Zuständigkeit von bestimmten Richterinnen und Richtern am dortigen Insolvenzgericht begründen zu können.
Eine Sitzverlegung innerhalb Deutschlands, die ausschließlich den Zweck verfolgt, eine andere örtliche Zuständigkeit zu begründen (nationales Forum-Shopping), wird das Insolvenzgericht unter bestimmten Umständen als rechtsmissbräuchliche Zuständigkeitserschleichung ansehen. Rechtsfolge einer solchen Zuständigkeitserschleichung sind die Unzuständigkeit des Insolvenzgerichts am neuen Sitz der Schuldnerin und ggf. die Unzulässigkeit des Insolvenzantrags (vgl. BGH, Beschluss vom 13. Dezember 2005 – X ARZ 223/05; OLG Celle, Beschluss vom 8. Dezember 2003 – 2 W 123/03; LG Bremen, Beschluss vom 5. Oktober 2020 – 6 T 370/20 = NZI 2021, 83 [m. Anm. Hellfeld]; Hölzle/Jacoby, ZIP 2021, 337; Aghamiri u.a. in: Rattunde/Smid/Zeuner, InsO, 4. Aufl. 2018, § 3 Rn. 20).
Doch anhand welcher Kriterien wird ein Insolvenzgericht eine Sitzverlegung als rechtsmissbräuchlich bewerten?
Bedeutung des Geschäftssitzes – örtliche Zuständigkeit des Insolvenzgerichts
Nach § 3 Abs. 1 S. 1 InsO ist das Insolvenzgericht örtlich zuständig, in dessen Bezirk die Schuldnerin ihren allgemeinen Gerichtsstand hat. Dies ist nach § 17 Abs. 1 S. 1 ZPO der Sitz der Gesellschaft. Sofern jedoch der Mittelpunkt der selbstständigen wirtschaftlichen Tätigkeit der Schuldnerin an einem anderen Ort liegt, ist ausschließlich das Insolvenzgericht an diesem Ort zuständig (§ 3 Abs. 1 S. 2 InsO). Für die Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit ist daher der Mittelpunkt der wirtschaftlichen Tätigkeit gegenüber dem Sitz vorrangig maßgeblich (vgl. Hölzle/Jacoby, ZIP 2021, 337 (338); Gerhardt in: Jaeger InsO, 1. Aufl. 2004, § 3 Rn. 14; Kexel in: Graf-Schlicker, InsO, 5. Aufl. 2020, § 3 InsO Rn. 2).
Aus diesem Grund ist auch nach einer formalen Sitzverlegung an einen anderen Ort ausschließlich das Insolvenzgericht am alten Sitz der Schuldnerin örtlich zuständig, sofern der Mittelpunkt der selbstständigen wirtschaftlichen Tätigkeit der Schuldnerin an ihrem alten Sitz liegt (vgl. Prütting in: Kübler/Prütting/Bork, InsO, 89. Lieferung 08.2021, § 3 Rn. 22). Dies ist etwa dann der Fall, wenn die Schuldnerin weiterhin nur dort für ihren Geschäftsbetrieb werbend tätig ist (Ganter/Bruns in: MüKo InsO, 4. Aufl. 2019, § 3 Rn. 42; OLG Celle, Beschluss vom 8. Dezember 2003 – 2 W 123/03).
Ist bei Eingang des Insolvenzantrags hingegen nicht feststellbar, dass die Schuldnerin überhaupt noch wirtschaftlich aktiv ist, richtet sich die örtliche Zuständigkeit nach dem Sitz der Schuldnerin (§ 3 Abs. 1 Satz 1 InsO [vgl. Prütting in: Kübler/Prütting/Bork, InsO, 89. Lieferung 08.2021, § 3 Rn. 13; Hölzle/ Jacoby, ZIP 2021, 337]).
Kriterien, die für eine rechtsmissbräuchliche Sitzverlegung sprechen
Das Insolvenzgericht wird bei der Prüfung der Zulässigkeit des Insolvenzantrags und damit einhergehend seiner örtlichen Zuständigkeit in einer Gesamtschau von Indizien beurteilen, ob eine Sitzverlegung im Zusammenhang mit dem Insolvenzantrag eine Zuständigkeitserschleichung darstellt und daher rechtsmissbräuchlich ist (vgl. BGH, Beschluss vom 13. Dezember 2005 – X ARZ 223/05; OLG Celle, Beschluss vom 8. Dezember 2003 – 2 W 123/03).
Rechtsmissbräuchliche Sitzverlegung: keine rein zeitliche Betrachtung
Im deutschen Insolvenzrecht ist eine Verlegung des Geschäftssitzes nicht allein deshalb unbeachtlich oder rechtsmissbräuchlich, weil die Sitzverlegung zeitlich unmittelbar vor einem Insolvenzantrag erfolgte. Anders regelt es der für Sitzverlegungen innerhalb Deutschlands nicht anwendbare Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 2 S. 2 EuInsVO. Eine Sitzverlegung innerhalb der Europäischen Union von einem Mitgliedsstaat in einen anderen ist demnach unbeachtlich, wenn innerhalb von drei Monaten nach der Sitzverlegung ein Insolvenzantrag gestellt wird. Teile der Literatur fordern eine entsprechende Regelung im nationalen Recht (Smid, NZI 2021, 710).
Jedoch kann eine Sitzverlegung im Zusammenspiel mit einem kurze Zeit später gestellten Insolvenzantrag ein Indiz für eine rechtsmissbräuchliche Sitzverlegung sein (OLG Celle, Beschluss vom 8. Dezember 2003 – 2 W 123/03). Dies gilt insbesondere, wenn die Sitzverlegung innerhalb einer laufenden gesetzlichen Frist zur Stellung eines Insolvenzantrags erfolgt (§ 15a InsO [Sternal in: Kayser/Thole, HK-InsO, 10. Aufl. 2020, § 3 Rn. 21]). Eine rechtsmissbräuchliche Sitzverlegung kann jedoch nur in der Gesamtschau mit weiteren Indizien angenommen werden (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 8. Dezember 2003 – 2 W 123/03).
Geplante Firmenbestattung ist Anzeichen für rechtsmissbräuchliche Sitzverlegung
Ein entscheidendes Kriterium für eine rechtsmissbräuchliche Sitzverlegung ist eine geplante gewerbsmäßige Firmenbestattung an dem neuen Sitz der Schuldnerin (vgl. BGH, Beschluss vom 13. Dezember 2005 – X ARZ 223/05; OLG Celle, Beschluss vom 8. Dezember 2003 – 2 W 123/03).
Wird der Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens weit entfernt von dem Geschäftsbetrieb gestellt, erfahren Gläubiger dies nicht oder verspätet, da Veröffentlichungen zu dem Verfahren für den neuen Geschäftssitz erfolgen (vgl. Pape in: Uhlenbruck InsO, 15. Aufl. 2019, § 3 Rn. 12; Ganter/Bruns in: MüKo InsO, 4. Aufl. 2019, § 3 Rn. 40; Madaus in: Beck OK InsO, 23). Weist dann das Insolvenzgericht den Insolvenzantrag der zu bestattenden Gesellschaft nach § 26 InsO mangels Masse ab und wird die Gesellschaft im Handelsregister gelöscht, wird den Gläubigern die Durchsetzung von Haftungsansprüchen faktisch genommen (vgl. Pape in: Uhlenbruck InsO, 15. Aufl. 2019, § 3 Rn. 12; Ganter/Bruns in: MüKo InsO, 4. Aufl. 2019, § 3 Rn. 40; Madaus in: Beck OK InsO, 23. Ed., § 3 Rn. 26.1). Daher erschwert eine Sitzverlegung zum Zwecke der Firmenbestattung die Wahrnehmung der Gläubigerrechte im Insolvenzverfahren.
Stellt die Schuldnerin innerhalb von drei Wochen nach der Beurkundung des Gesellschafterbeschlusses über die Sitzverlegung einen Insolvenzantrag, spricht dies für eine Firmenbestattung und mithin eine missbräuchliche Sitzverlegung (vgl. Ganter/Bruns in: MüKo InsO, 4. Aufl. 2019, § 3 Rn. 41; Sternal in: Kayser/Thole, HK-InsO, 10. Aufl. 2020, § 3 Rn. 21; Madaus in: Beck OK InsO, 23. Ed., § 3 Rn. 26.2). Denn es kann davon ausgegangen werden, dass die Gesellschaft im Zeitpunkt des Beschlusses über die Sitzverlegung bereits insolvenzreif war (vgl. Ganter/Bruns in: MüKo InsO, 4. Aufl. 2019, § 3 Rn. 41) und die Verantwortlichen wussten, dass sie innerhalb der in § 15a InsO geregelten Frist einen Antrag hätten stellen müssen, um eine Strafbarkeit wegen Insolvenzverschleppung zu vermeiden.
Auch wenn der Antrag später als drei Wochen nach dem Beschluss über die Sitzverlegung gestellt wird, kann für eine Firmenbestattung sprechen, dass die Schuldnerin an ihrem neuen Sitz nicht für ihren Geschäftsbetrieb wirbt (Madaus in: Beck OK InsO, 23. Ed., § 3 Rn. 26.2; Ganter/Bruns in: MüKo InsO, 4. Aufl. 2019, § 3 Rn. 42) bzw. an dem neuen Sitz nur eine Briefkastenfirma unterhält und unter der neuen Anschrift zahlreiche weitere Firmen entsprechende Sitzverlegungen durchgeführt haben (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 8. Dezember 2003 – 2 W 123/03).
Weitere generelle Anzeichen für eine gewerbsmäßige Firmenbestattung sind insbesondere
- die Abberufung der alten sowie die Bestellung einer neuen Geschäftsführung,
- die Übertragung der Geschäftsanteile an die neue Geschäftsführung,
- der angebliche Verlust der Geschäftsunterlagen,
- ein unmittelbarer zeitlicher Zusammenhang mit der Stellung des Insolvenzantrags und
- die planmäßige Veräußerung der Vermögensgegenstände der Schuldnerin, damit der spätere Insolvenzantrag mangels Masse abgewiesen wird, weil die Schuldnerin keine verwertbaren Vermögensgegenstände mehr aufweist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 7. Mai 2020 – IX ZB 84/19 = NZI 2020, 679 [680]; 13. Dezember 2005 – X ARZ 223/05; OLG Celle, Beschluss vom 8. Dezember 2003 – 2 W 123/03).
Auch die Beauftragung einer professionellen Firmenbestattungsdienstleistung ist ein starkes Indiz (vgl. Madaus in: Beck OK InsO, 23. Ed., § 3 Rn. 26.2).
Das Insolvenzgericht am neuen Sitz der Gesellschaft wird bei der Prüfung der Zulässigkeit von einer rechtsmissbräuchlichen Sitzverlegung und einem unzulässigen Antrag ausgehen, wenn die Gesamtschau der Indizien das Gepräge einer gewerbsmäßigen Firmenbestattung hat (BGH, Beschluss vom 13. Dezember 2005 – X ARZ 223/05; OLG Celle, Beschluss vom 8. Dezember 2003 – 2 W 123/03). Denn der Insolvenzantrag, der auf eine Firmenbestattung gerichtet ist und nicht auf die Verfahrenseröffnung und die gemeinschaftliche Befriedigung der Gläubiger nach § 1 InsO, verfolgt verfahrensfremde Zwecke. Den Antragstellenden fehlt das Rechtsschutzbedürfnis und der Antrag ist als unzulässig zurückzuweisen (vgl. BGH, Beschluss vom 4. Februar 2016 − IX ZB 71/15). Auf die zudem nicht gegebene örtliche Zuständigkeit des Insolvenzgerichts am neuen Sitz der Schuldnerin kommt es dann nicht mehr an.
Prüfung der Indizien von Amts wegen vorzunehmen
Seit dem Beschluss des BGH vom 13. Dezember 2005 – X ARZ 223/05 – sind die Insolvenzgerichte angehalten, von Amts wegen zu prüfen, ob eine örtliche Unzuständigkeit – etwa aufgrund einer rechtsmissbräuchlichen Sitzverlegung – gegeben ist. Das Gericht kann die eigene örtliche Unzuständigkeit und ggf. die Unzulässigkeit des Insolvenzantrags erst nach Würdigung der vorgetragenen Umstände und ggf. weiterer Sachverhaltsaufklärung von Amts wegen wirksam aussprechen (BGH, Beschluss vom 13. Dezember 2005 – X ARZ 223/05; OLG Celle, Beschluss vom 11. Januar 2010 – 4 AR 3/10).
Fazit: Nicht jede Sitzverlegung vor einer Insolvenz ist potenziell rechtsmissbräuchlich
Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist eine Sitzverlegung im Zusammenhang mit einem Insolvenzantrag nicht per se rechtsmissbräuchlich. Die Schuldnerin kann durch eine Veränderung der tatsächlichen Umstände einen anderen Gerichtsstand begründen, ohne sich dem Vorwurf einer Zuständigkeitserschleichung auszusetzen. Jedoch dort, wo die Veränderung der die Zuständigkeit bestimmenden Umstände mit zusätzlichen, dem Insolvenzzweck zuwiderlaufenden Umständen – wie z.B. einer gewerblichen Firmenbestattung – verknüpft werden, kommt eine Missbräuchlichkeit der Sitzverlegung in Betracht. Zu einer Zuständigkeitserschleichung oder sogar einer Unzulässigkeit des Insolvenzantrags kommt es nur, wenn die Sitzverlegung als Instrumentarium zur Gläubigerbenachteiligung eingesetzt wird.