Vorsicht vor einer Pflichtenkollision bei Abführung von Sozialversicherungsbeiträgen im vorläufigen Eigenverwaltungsverfahren. Wir zeigen Lösungsmöglichkeiten auf!
Führte die Eigenverwaltung bis vor wenigen Jahren eher eine Art „Schattendasein″, so zeigen zum Teil auch medienwirksame Insolvenzfälle der letzten Jahre, dass die Bedeutung solcher Verfahren in Deutschland stetig zunimmt. Gerade auch bei mittleren und größeren Insolvenzfällen mit vielen Arbeitnehmern ist die Bedeutung von Eigenverwaltungsverfahren gestiegen. Die Besonderheit dieser Verfahren ist, dass die Geschäftsführung auch in der Insolvenz weiter die Geschäfte führt und nicht durch einen Insolvenzverwalter ersetzt, sondern lediglich durch einen Sachwalter überwacht wird.
Pflichtenkollision in der vorläufigen Eigenverwaltung
Mit der Zunahme von Eigenverwaltungsverfahren hat auch die Frage an praktischer Relevanz gewonnen, wie das Spannungsverhältnis von insolvenzrechtlichen Sicherungspflichten und sozialversicherungsrechtlichen Zahlungspflichten des eigenverwaltenden Schuldners bzw. der Geschäftsleitung des insolventen Unternehmens aufzulösen ist. Dabei ist zu beachten, dass die unterlassene Abführung der auf den Arbeitnehmer entfallenden Beiträge zur Sozialversicherung strafbewehrt ist, vgl. § 266a Abs. 1 StGB.
Im Regelinsolvenzverfahren stehen Zahlungen des Schuldners im Eröffnungsverfahren unter dem Zustimmungsvorbehalt des vorläufigen Insolvenzverwalters. Dies gilt auch für straf- oder haftungsbewehrte Zahlungen (z. B. Sozialabgaben, aber auch Steuern). Allerdings kann der vorläufige Insolvenzverwalter diese Zustimmung verweigern, weil er die Insolvenzmasse sichern muss. Verweigert er die Zustimmung, kann die Geschäftsführung die straf- oder haftungsbewehrten Zahlungen nicht leisten. Wegen der fehlenden Zustimmung entfällt aber eine Haftung oder Strafbarkeit.
Bei der Eigenverwaltung ist dies anders. Durch die Bestellung eines vorläufigen Sachwalters im vorläufigen Eigenverwaltungsverfahren bzw. auch in einem Schutzschirmverfahren (§ 270b InsO) werden die dem Schuldner zustehenden Rechte nur im Innenverhältnis beschränkt. Im Außenverhältnis ist weiterhin der Schuldner bzw. die bisherige Geschäftsführung zuständig. Darauf folgt, dass der Schuldner grundsätzlich die sozialversicherungsrechtlichen Pflichten erfüllen muss. Wird diese Pflicht verletzt, kann das zu einer Strafbarkeit führen (§ 266a StGB). Darüber hinaus droht auch eine persönliche Haftung gem. § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 266a StGB.
Diese Zahlungspflichten stehen in Konkurrenz zu der allgemeinen Pflicht in einem Insolvenzverfahren, die Masse zu sichern und nur absolut betriebsnotwendige Ausgaben zu tätigen. Es stellt sich daher die Frage, ob die sozialversicherungsrechtlichen Abführungspflichten im Insolvenzeröffnungsverfahren nicht zurücktreten gegenüber der im Gläubigerinteresse zu wahrenden Pflicht, die Insolvenzmasse zu sichern. So sind die Organe einer juristischen Person in der Antragsphase mit insolvenzgesellschaftsrechtlichen Zahlungsverboten belegt, die bei Zuwiderhandeln erhebliche haftungsrechtliche Folgen nach sich ziehen können (§ 64 S. 1 GmbHG bzw. §§ 92 Abs. 2, 93 Abs. 3 Nr. 6 AktG).
Die Nichtbeachtung der insolvenzrechtlichen Pflicht zur Massesicherung kann zudem ebenfalls strafrechtliche Relevanz haben (§ 266 StGB, § 283c Abs. 1 StGB). Ein Geschäftsführer sitzt somit buchstäblich „zwischen zwei Stühlen“. Erfüllt er eine Pflicht, verletzt er gleichzeitig die andere.
Lösungsmöglichkeiten zur Auflösung der Pflichtenkollision in der Eigenverwaltung
Die in Rechtsprechung und Literatur diskutierten Lösungsansätze zur Auflösung der dargelegten Pflichtenkollision sind vielfältig. Im Einzelnen ist vieles umstritten.
In der Literatur wohl herrschend ist der Ansatz, sich zur Auflösung des Konflikts dem Instrumentarium des (Insolvenz-) Anfechtungsrechts zu bedienen (sog. „Anfechtungslösung“). Bei dieser Lösung zahlt der eigenverwaltende Schuldner die laufenden Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung erst, nachdem er zuvor die beteiligten Sozialversicherungsträger über den Insolvenzantrag informiert hat. Die Zahlungsempfänger haben dadurch im Zeitpunkt des Erhalts der Zahlung Kenntnis von der Insolvenz. Sie sind „bösgläubig“. Dies wiederum ermöglicht die spätere Anfechtung nach Abschluss des Eröffnungsverfahrens und Eröffnung des eigentlichen Insolvenzverfahrens, vgl. § 130 Abs. 1 Nr. 2 InsO. Nachteil dieser Anfechtungslösung ist allerdings der zusätzliche Liquiditätsbedarf im Rahmen der vorläufigen Eigenverwaltung, der bei der Liquiditätsplanung und der Fortführungsfinanzierung bereits im Vorfeld der Verfahrenseinleitung zu berücksichtigen ist (M. Hoffmann in: Kübler, HRI – Handbuch Restrukturierung in der Insolvenz, 3. Aufl. 2018, § 7 Rn. 181). Denn zunächst müssen die Zahlungen nach dieser Lösung ja jedenfalls vorgenommen werden. Sie fließen erst einige Wochen später nach der Insolvenzeröffnung wieder zurück.
Eine andere Option hat 2014 das AG Hamburg ins Spiel gebracht, indem es die Überleitung der Kassenführungsbefugnis auf den vorläufigen Sachwalter gemäß § 275 Abs. 2 InsO kraft gerichtlicher Anordnung für möglich hält, wenn dieser sie nicht selbst gemäß §§ 270a Abs. 1, 275 Abs. 2 InsO an sich zieht (sog. Kassenführungslösung). Zieht der vorläufige Sachwalter die Kassenführung an sich, ist er und nicht mehr der Schuldner bzw. die bisherige Geschäftsführung für die laufenden Zahlungen verantwortlich. Selbständige Zahlungen des Schuldners sind nach einem Übergang der Kassenführungsbefugnis auf den vorläufigen Sachwalter jedenfalls faktisch aus verschiedenen Gründen unmöglich. Obwohl der eigenverwaltende Schuldner im Außenverhältnis weiterhin verfügungsbefugt bleibt, soll er nach dieser Lösung nicht persönlich haften oder sich strafbar machen, wenn die Zahlungen vom vorläufigen Sachwalter nicht vorgenommen werden. Folglich sei eine straf- und haftungsrechtliche Verantwortung der Geschäftsleiter des eigenverwaltenden Schuldners ausgeschlossen. Problematisch an diesem Lösungsvorschlag ist allerdings, dass die Übernahme der Kassenführung durch den vorläufigen Sachwalter den eigentlichen Zweck der Eigenverwaltung konterkariert, bei der der Schuldner selbst ja weiter die Geschicke der Gesellschaft leiten soll. Deshalb ist diese Lösung in der Literatur Gegenstand umfangreicher Diskussionen.
Ein weiterer Lösungsansatz hat sich auf Grundlage eines Beschlusses des AG Düsseldorf aus dem Jahr 2014 herausgebildet. Das Gericht ordnete einen Zustimmungsvorbehalt zugunsten des vorläufigen Sachwalters dergestalt an, dass Zahlungen i.S.v. § 266a StGB, also die Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung, nur mit Zustimmung des vorläufigen Sachwalters geleistet werden dürfen. Eine solche Einzelanordnung des Gerichts lässt sich bei einem Verfahren nach § 270a InsO oder § 270b InsO wohl zulässigerweise auf § 21 Abs. 1 S. 1 InsO stützen und würde das Strafbarkeitsrisiko des Geschäftsführers des eigenverwaltenden Schuldners ausschließen.
Praxistipp: Vorgehensweise in der vorläufigen Eigenverwaltung mit dem Insolvenzgericht abstimmen
Der eigenverwaltende Schuldner befindet sich in einem Dilemma. Ihn treffen Zahlungspflichten einerseits und Massesicherungspflichten andererseits, die sich nicht beide gleichzeitig erfüllen lassen.
In der Praxis wird, wie vorstehend aufgezeigt, versucht, diese Konfliktlage aufzulösen, um die erheblichen Haftungsrisiken auszuschließen oder zumindest erheblich abzumildern, ohne dass die zutage tretende Konfliktlage bisher jedoch gesetzlich oder höchstrichterlich aufgelöst werden konnte.
Zusätzliche Brisanz gewinnen die aufgeworfenen Rechtsfragen dadurch, dass der eigenverwaltende Schuldner auch hinsichtlich fälliger Forderungen aus dem Steuerschuldverhältnis in eine Pflichtenkollision mit Haftungs- und Strafbarkeitsrisiken gerät (ausführlich hierzu Mielke/Sedlitz, ZIP 2017, 1646). Die Konfliktlage ist in Bezug auf die laufenden Steuern (insbesondere Lohn- und Umsatzsteuern) ganz ähnlich, so dass auch hier die vorstehenden Lösungen angewendet werden.
Bis zu einer höchstrichterlichen Klärung dieses Konfliktes ist dem eigenverwaltenden Schuldner aufgrund der Vielfalt der vorgeschlagenen Lösungsansätze und vieler im Detail noch zu klärenden tatsächlichen und rechtlichen Fragen dringend zu raten, die Vorgehensweise frühzeitig, bestenfalls schon vor dem Insolvenzantrag, mit dem zuständigen Insolvenzgericht abzustimmen. Dabei ist es unerlässlich, dass der jeweilige Berater die bevorzugte Regelung des jeweiligen Insolvenzgerichts kennt und sich der vorgesehene Sachwalter ebenfalls im Detail mit der Thematik auskennt. Dadurch können unnötige Verzögerungen in der zeitkritischen Phase eines Insolvenzeröffnungsverfahrens, aber insbesondere erhebliche Haftungsrisiken für den eigenverwaltenden Schuldner, vermieden werden.