23. August 2016
Akteneinsicht Kartellgeschädigter
Kartellrecht

Akteneinsicht Kartellgeschädigter in Prozessakten

Die gerichtliche Inanspruchnahme eines Geschäftsführers wegen Kartellverstößen kann aufgrund der Akteneinsicht Kartellgeschädigter zum Bumerang werden.

Nach § 299 Abs. 2 ZPO kann der Präsident eines Gerichts ohne Einwilligung der Parteien die Einsicht in die Verfahrensakte gestatten, wenn ein Dritter ein rechtliches Interesse an der Akteneinsicht glaubhaft machen kann. Das Verwaltungsgericht Düsseldorf hat ein für die Akteneinsicht Kartellgeschädigter beachtenswertes Urteil erlassen (Urteil vom 07.07.2016, Az.: 20 K 5425/15).

Bundeskartellamt verhängt 88 Mio. Euro Bußgeld

Ein in Essen ansässiger Stahlhersteller hatte nach den Feststellungen des BKartA zusammen mit anderen Schienenherstellern und –verkäufern in den Jahren 2001 bis 2011 zu Lasten von u.a. Nahverkehrsunternehmen Preis- und Kundenschutzabsprachen getroffen. Damit hatte er gegen das Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen (§ 1 GWB) verstoßen. Das BKartA hat deshalb gegen dieses Unternehmen ein Bußgeld in Höhe von 88 Mio. Euro verhängt.

Um zumindest einen Teil des gezahlten Bußgeldes zurück zu bekommen, hat der Stahlhersteller seinen damaligen Geschäftsführer vor dem Arbeitsgericht und dem Landesarbeitsgericht auf Schadensersatz in Anspruch genommen. Er stützte den Schadensersatzanspruch auf die Verletzung der Organpflicht des Geschäftsführers durch dessen Teilnahme an den wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen. Das Arbeitsgericht und das Landesarbeitsgericht hatten die Klage hinsichtlich eines Schadensersatzanspruchs für das verhängte Bußgeld abgewiesen.

Verfahren zur Akteneinsicht

Ein Nahverkehrsunternehmen verlangte von dem Landesarbeitsgericht Einsicht in die gesamte Verfahrensakte des Schadensersatzprozesses. Dieses Nahverkehrsunternehmen war in der Zeit von 2001 bis 2011 von dem Stahlhersteller beliefert worden. Es sah sich als von dem Kartell geschädigt an.

Die Präsidentin des Landesarbeitsgerichts wies den Antrag auf Akteneinsicht zurück. Es sei zwar überwiegend wahrscheinlich, dass das Nahverkehrsunternehmen Akteneinsicht benötige, um kartellrechtliche Schadensersatzansprüche substantiieren zu können. Jedoch stünden diesem rechtlichen Interesse des Nahverkehrsunternehmens die Interessen der Verfahrensbeteiligten vor dem Landesarbeitsgericht entgegen. Insbesondere die bestehenden Geschäftsgeheimnisse des Stahlherstellers müssten zu einem vollständigen Ausschluss des Akteneinsichtsbegehrens führen.

Der Stahlhersteller hatte sich in Verträgen mit Dritten (auch anderen Kartellbeteiligten) zur Geheimhaltung verpflichtet. Zudem hatte der Stahlhersteller sein operatives Geschäft im Bereich Gleistechnik im Jahre 2014 eingestellt.

Verwaltungsgericht Düsseldorf gibt Klage überwiegend statt

Das Verwaltungsgericht Düsseldorf gab der Klage des Nahverkehrsunternehmens auf Einsicht in die Verfahrensakte des arbeitsgerichtlichen Verfahrens überwiegend statt. Es verpflichtete die Präsidentin des Landesarbeitsgerichts, den Antrag des Nahverkehrsunternehmens auf Akteneinsicht unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.

Die Voraussetzungen des § 299 Abs. 2 ZPO sah das Gericht als erfüllt an. Es bestünden zudem keine so erheblichen rechtlichen Interessen der Verfahrensbeteiligten des arbeitsgerichtlichen Verfahrens, die das Akteneinsichtsrecht des Nahverkehrsunternehmens im Rahmen des Ermessens vollständig ausschließen könnten. Dem Nahverkehrsunternehmen stehe jedoch kein Anspruch auf vollständige Einsicht in die Verfahrensakte zu.

Rechtliches Interesse des Nahverkehrsunternehmens

Das Verwaltungsgericht Düsseldorf befand, dass das Nahverkehrsunternehmen ein rechtliches Interesse an der Akteneinsicht glaubhaft gemacht habe. Dieses rechtliche Interesse liege in der Verfolgung und Durchsetzung von kartellrechtlichen Schadensersatzansprüchen. Der Sachverhalt des Prozesses vor dem Landesarbeitsgericht und der potenzielle kartellrechtliche Schadensersatzanspruch des Nahverkehrsunternehmens gegen den Stahlhersteller weisen im Tatsächlichen identische Elemente auf. Eine vollständige Übereinstimmung liege zwar nicht vor, sei für das rechtliche Interesse aber nicht notwendig. Die Teilnahme des Geschäftsführers an den Kartellabsprachen, die Gegenstand des Verfahrens vor dem Landesarbeitsgericht waren, seien für den kartellrechtlichen Schadensersatzanspruch des Nahverkehrsunternehmens von großer Bedeutung.

Ermessensfehler der Präsidentin des Landesarbeitsgerichts

Das Verwaltungsgericht Düsseldorf meinte weiter, dass die Präsidentin des Landesarbeitsgerichts das ihr zukommende Ermessen fehlerhaft und damit rechtswidrig ausgeübt habe. Die Präsidentin habe dem Geheimhaltungsbedürfnis zu Unrecht den Vorrang gegenüber dem Recht des Nahverkehrsunternehmens auf Akteneinsicht zugebilligt. Das Nahverkehrsunternehmen bedürfe der Akteneinsicht zur effektiven Rechtsverfolgung seiner kartellrechtlichen Schadensersatzansprüche.

Der Bußgeldbescheid, die Urteile des Arbeitsgerichts und des Landesarbeitsgerichts und die mögliche Teilnahme an den mündlichen Verhandlungen in den Arbeitsgerichtsverfahren seien kein adäquater Ersatz für die Akteneinsicht in die Gerichtsakten.

Bußgeldbescheid nicht aussagekräftig genug

Der Bußgeldbescheid beschränke sich auf die Feststellung, dass der Stahlhersteller gegen § 1 GWB verstoßen habe. Welche Auswirkungen dieser Verstoß auf die Beziehungen zu Kunden habe, lasse sich dem Bußgeldbescheid nicht entnehmen. Solche Tatsachen benötige das Nahverkehrsunternehmen jedoch, um einen kartellrechtlichen Schadensersatzanspruch darlegen und erforderlichenfalls beweisen zu können.

Urteile der Arbeitsgerichte nicht umfassend genug

Da sich der Akteneinsichtsanspruch nach § 299 Abs. 2 ZPO auf die gesamte Verfahrensakte erstreckt, genügten die Urteile der Arbeitsgerichte (Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht) dem Informationsinteresse des Nahverkehrsunternehmens nicht. Sie bilden nur einen kleinen Ausschnitt aus der Gesamtakte. Die aus Sicht des Einsichtbegehrenden relevanten Tatsachen können in den für die Entscheidung nicht wesentlichen Teilen des Sachverhalts enthalten sein. Solche unwesentliche Teile des Sachverhalts werden im Urteil aber nicht erwähnt.

Nach Ansicht des Verwaltungsgerichts Düsseldorf „liege [es] auf der Hand„, dass die Teilnahme an den mündlichen Verhandlungen im Verfahren vor den Arbeitsgerichten kein adäquater Ersatz für die Akteneinsicht sei. Weitere Ausführungen hierzu hielt das Verwaltungsgericht für entbehrlich.

Entgegenstehende Rechte schließen das Akteneinsichtsbegehren nicht aus

Die Interessen der Verfahrensbeteiligten vor dem Landesarbeitsgericht auf Schutz der Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse und auf Schutz der informationelle Selbstbestimmung müssten, so das Verwaltungsgericht, teilweise zurückstehen. Die Verfolgung eines kartellrechtlichen Schadensersatzanspruchs könne den Eingriff in die Grundrechte aus Art. 12 GG (Betriebs- und Geschäftsgeheimnis) sowie aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG (Recht auf informationelle Selbstbestimmung) rechtfertigen. Tatsachen, aus denen sich ein kartellrechtlicher Schadensersatzanspruch ergibt, seien bereits keine Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse. Sie  werden daher nicht von Art. 12 GG geschützt.

Kein Anspruch auf vollständige Akteneinsicht Kartellgeschädigter

Das Interesse des Nahverkehrsunternehmens überwiegt nach Auffassung des Verwaltungsgerichts aber nicht so stark, dass Einsicht in die gesamte Verfahrensakte zu gewähren sei. Die Entscheidung über die Einsicht in die Verfahrensakte des arbeitsgerichtlichen Prozesses stehe somit weiterhin im Ermessen der Präsidentin des Landesarbeitsgerichts. Die Präsidentin des Landesarbeitsgerichts müsse bei ihrer erneuten Ermessensausübung die Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts Düsseldorf beachten.

Bei der Ermessensentscheidung zu berücksichtigende Rechte

Einige vertragliche Informationen der Verfahrensbeteiligten, die in der arbeitsgerichtlichen Verfahrensakte enthalten sind, seien schützenswert. Dazu gehören solche, die nicht im Zusammenhang mit den wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen stehen und zu deren Geheimhaltung sich der Stahlhersteller vertraglich verpflichtet hat. Außerdem seien Informationen schützenswert, die keinen Bezug zu wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen aufweisen. Dies trifft vor allem auf Geschäftsbeziehungen des Stahlherstellers mit Dritten zu.

Zu Gunsten des Berufungsbeklagten seien solche Aktenbestandteile nicht zu veröffentlichen, die personenbezogene Daten enthalten oder sich auf

Kernbestandteile des Beschäftigungsverhältnisses (etwa Vergütung, Vertragsinhalte, Details des Ausscheidens) beziehen und bei denen ein Zusammenhang mit den Verstößen gegen das GWB ausscheidet.

Maßstab bei der Beurteilung der entgegenstehenden Rechte

Sollten sich schwierige Abgrenzungsfragen stellen, ob schützenwerte Interessen der Verfahrensbeteiligten betroffen sind, sei zu Gunsten des Nahverkehrsunternehmens zu entscheiden. Dies ergäbe sich vor allem aus der Tatsache, dass der Stahlhersteller seine Geschäftstätigkeit im Jahr 2014 eingestellt hat. Es könne sich daher immer nur um Informationen eines abgeschlossenen Geschäftsmodells handeln. Der Stahlhersteller könne bei Veröffentlichung dieser Informationen keine Nachteile mehr erleiden.

Maßstab der Ermessensausübung

Eine Abwägung der widerstreitenden Interessen kann nach Ansicht des Verwaltungsgerichts Düsseldorf nicht zu einem vollständigen Ausschluss des Akteneinsichtsrechts führen. Neben den bereits aufgeführten Rechten der Verfahrensbeteiligten könne auch ein zu hoher Verwaltungsaufwand des Landesarbeitsgerichts für die Gewährung der Akteneinsicht nicht zum Ausschluss der Akteneinsicht führen. Eine Überforderung der personellen und sachlichen Möglichkeiten des Landesarbeitsgerichts sei weder dargelegt noch erkennbar.

Es verbleibe trotz alledem ein Ermessen der Präsidentin des Landesarbeitsgerichts bei der Gewährung der Akteneinsicht. Sie habe abzuwägen, in welche Aktenbestandteile Einsicht zu gewähren ist und welche Bestandteile aufgrund der Rechte der Verfahrensbeteiligten zu anonymisieren sind. Das Verwaltungsgericht Düsseldorf konnte nicht erkennen, dass das der Präsidentin des Landesarbeitsgerichts eingeräumte Ermessen bei der Gewährung der Akteneinsicht auf nur eine Weise rechtmäßig ausgeübt werden könne. Es ist dem Verwaltungsgericht rechtlich untersagt, die Ermessensentscheidung der Präsidentin des Landesarbeitsgerichts durch eine eigene zu ersetzen.

Wahrscheinlichkeit von Akteneinsichtsbegehren nach § 299 Abs. 2 ZPO

Die Gefahr eines Akteneinsichtsbegehrens nach § 299 Abs. 2 ZPO dürfte trotz des Urteils des Verwaltungsgerichts Düsseldorf auch zukünftig gering sein. Damit ein Kartellgeschädigter ein Akteneinsichtsbegehren nach § 299 Abs. 2 ZPO geltend machen kann, müsste ein kartellbeteiligtes Unternehmen ein Zivilverfahren führen (z.B. auf Schadensersatz gegen einen Geschäftsführer/ein Vorstandsmitglied), in dem der Verstoß gegen das Kartellverbot Verfahrensgegenstand ist. Dies ist durch die Entscheidungen der beiden Arbeitsgerichte unwahrscheinlicher geworden. Nach Ansicht der Arbeitsgerichte steht einem Unternehmen kein Regressanspruch gegen seinen Geschäftsführer auf (teilweise) Erstattung des wegen des Kartellrechtsverstoßes verhängten Bußgeldes zu.

Die Gefahr einer Akteneinsicht nach § 299 Abs. 2 ZPO dürfte dennoch nicht gebannt sein. Es ist gerichtlich nicht geklärt, ob dem kartellbeteiligten Unternehmen ein Schadensersatzanspruch gegen seinen Geschäftsführer/sein Vorstandsmitglied wegen kartellrechtlicher Schadensersatzansprüche der Kartellgeschädigten zusteht. Sollte ein solcher Anspruch bejaht werden, könnten Unternehmen diesen Schadensersatzanspruch gegen den Geschäftsführer/das Vorstandsmitglied durch eine Feststellungsklage geltend zu machen.

Für eine solche Feststellungsklage spricht, dass die Verjährungsfristen der einzelnen Schadensersatzansprüche unterschiedlich lang sein können. Die Kartellgeschädigten könnten ihren Schadensersatzanspruch gegen das Unternehmen zu einer Zeit geltend machen, zu der der Anspruch des Unternehmens gegen den Geschäftsführer/das Vorstandsmitglied bereits verjährt ist. Das Unternehmen könnte jedoch durch eine erfolgreiche Feststellungsklage die Verjährungsfrist ihres Schadensersatzanspruchs gegen den Geschäftsführer/das Vorstandsmitglied auf 30 Jahre verlängern und den Regressanspruch damit sichern.

Änderungen durch die 9. GWB-Novelle?

Nach derzeitigem Stand der 9. GWB-Novelle, die die europäische Schadensersatzrichtlinie umsetzen soll, wird das Akteneinsichtsrecht nach § 299 Abs. 2 ZPO nicht durch neue Vorschriften im GWB verdrängt. Die Verfahrensvorschriften für die Informationszugangsansprüche in §§ 89c, 89d GWB-E, die Sonderregelungen für Akteneinsichtsbegehren außerhalb des GWB enthalten, betreffen jeweils Sondersituationen.

Die Vorschriften gelten nämlich nur bei gerichtlichen Verfahren auf kartellrechtlichen Schadensersatz oder auf Informationszugang der potenziell Kartellgeschädigten nach den dafür neu einzuführenden Vorschriften des GWB. Dies entspricht nicht dem von § 299 Abs. 2 ZPO geregelten Sachverhalt. Bei diesem Akteneinsichtsrecht ist ein Verfahren zwischen einem kartellbeteiligten Unternehmen und einem Dritten anhängig. Der potenziell Kartellgeschädigte steht als Dritter außerhalb dieses Verfahrens. Sein Akteneinsichtsrecht ist daher rein formaler Natur.

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