25. Juli 2025
Transaktionswertschwelle
Kartellrecht

BGH bestätigt die Auslegung des Bundeskartellamtes zur Transaktionswertschwelle des § 35 Abs. 1a GWB 

In einem Beschluss vom 17. Juni 2025 (KVR 77/22) hat der BGH die bisher vom Bundeskartellamt vertretene weite Auslegung der Transaktionswertschwelle des § 35 Abs. 1a GWB bestätigt. 

Der Anwendungsbereich der Transaktionswertschwelle ist für Übernahmen umsatzschwacher Unternehmen mit geringem Inlandsbezug zu hohem Kaufpreis in Deutschland höchstrichterlich geklärt. 

Rechtsrahmen des § 35 GWB und Voraussetzungen der Transaktionswertschwelle 

Die klassische Anmeldeschwelle in Deutschland (§ 35 Abs. 1 GWB) knüpft ausschließlich an die Umsatzerlöse der beteiligten Unternehmen an. Eine Anmeldepflicht besteht demnach nur, wenn kumulativ:

  • die weltweiten Umsatzerlöse aller Beteiligten gemeinsam EUR 500 Mio. übersteigen;
  • der deutschlandweite Umsatz eines Beteiligten EUR 50 Mio. übersteigt; und
  • der deutschlandweite Umsatz eines weiteren Beteiligten EUR 17,5 Mio. übersteigt.

Seit 2017 unterliegen Übernahmen von Unternehmen, deren Umsätze in Deutschland unter den regulären Schwellenwerten liegen, gem. § 35 Abs. 1a GWB dennoch der fusionskontrollrechtlichen Anmeldepflicht, wenn kumulativ:

  • die weltweiten Umsatzerlöse aller Beteiligten EUR 500 Mio. übersteigen;
  • der deutschlandweite Umsatz eines Beteiligten EUR 50 Mio. übersteigt;
  • kein weiterer Beteiligter Umsatzerlöse von mehr als EUR 17,5 Mio. in Deutschland erzielt;
  • der Wert der Gegenleistung der Transaktion EUR 400 Mio. übersteigt; und
  • das Zielunternehmen in erheblichem Umfang in Deutschland tätig ist.

Diese Transaktionswertschwelle dient insbesondere dazu, sog. „killer acquisitions“ zu erfassen – also Transaktionen, bei denen etablierte Unternehmen junge, innovative Firmen mit geringem Inlandsumsatz (weniger als EUR 17,5 Mio.) aber hohem wirtschaftlichem Potenzial übernehmen. 

Die Anwendung der Transaktionswertschwelle gestaltete sich in der Praxis der letzten Jahre jedoch als herausfordernd. Die Beteiligten sehen sich häufig mit Unsicherheiten konfrontiert, insbesondere bei der Bestimmung, ob die Tätigkeit des Zielunternehmens in Deutschland im Sinne des § 35 Abs. 1a GWB als „erheblich“ einzustufen ist. 

Rechtsstreit um die Anmeldepflicht im Fall Kustomer

Der Entscheidung des BGH lag die Übernahme der Kundenservice-Plattform Kustomer durch eine weltweit führende Technologie- und Medienplattform im Jahr 2022 zugrunde. Das Bundeskartellamt nahm eine Anmeldepflicht des Zusammenschlusses nach der Transaktionswertschwelle (§ 35 Abs. 1a GWB) an: auch wenn Kustomer keine direkten Geschäftskunden (Lizenznehmer) im erheblichen Umfang auf dem deutschen Markt habe, reiche es für eine erhebliche Inlandstätigkeit aus, dass Kustomer für ausländische Direktkunden in erheblichem Umfang Daten deutscher Endverbraucher* verarbeitet. 

Obwohl das Bundeskartellamt die Übernahme im Phase-1-Verfahren freigab, erhob der Erwerber Klage gegen den Kostenbescheid für das Anmeldeverfahren. Das zuständige OLG Düsseldorf lehnte mit Beschluss vom 23. November 2022 (Az. Kart 11/22 (V)) die Zuständigkeit des Bundeskartellamts ab und hob den Kostenbeschluss auf. 

Nach Auffassung des OLG Düsseldorf genügt allein die Verarbeitung personenbezogener Daten deutscher Endverbraucher für im Ausland ansässige Direktkunden (Lizenznehmer) von Kustomer nicht, um eine erhebliche Inlandstätigkeit im Sinne des § 35 Abs. 1a GWB zu bejahen. Maßgeblich sei vielmehr, dass nur die Lizenznehmer als unmittelbare Kunden Kustomers die Wettbewerbsbedingungen beeinflussen könnten, indem sie zwischen verschiedenen Anbietern wählen. Die Endnutzer selbst hätten hingegen keinen Einfluss auf diese Entscheidung und damit auch nicht auf den relevanten Wettbewerb.

BGH-Beschluss: weiter Maßstab zur Bestimmung der erheblichen Inlandstätigkeit 

Der BGH stellte zunächst klar, dass zumindest die Verarbeitung personenbezogener Daten von in Deutschland ansässigen Endkunden für in Deutschland ansässige Geschäftskunden (Direktkunden) von Kustomer eine erhebliche Inlandstätigkeit im Sinne von § 35 Abs. 1a Nr. 4 GWB begründen kann. Ob dies auch für die Verarbeitung deutscher Endkundendaten für im Ausland ansässige Geschäftskunden gilt, ließ der BGH ausdrücklich offen.

Dabei betonte das Gericht, dass die Datenverarbeitung keine bloße Nebenleistung, sondern ein wesentlicher Bestandteil der Geschäftstätigkeit von Kustomer sei. Das wettbewerbliche Potenzial des Unternehmens ergebe sich insbesondere aus der datenbezogenen Tätigkeit mit Inlandsbezug, die nach dem Zusammenschluss aufgrund der Präsenz und Marktstellung des Erwerbers im Inland eine verstärkte wettbewerbliche Relevanz entfalten könne.

Für die Annahme einer Inlandstätigkeit sei weder eine unmittelbare noch eine mittelbare Rechtsbeziehung zwischen dem Zielunternehmen (Kustomer) und den betroffenen Endkunden erforderlich. Maßgeblich sei allein, ob die Tätigkeit des Zielunternehmens generell geeignet sei, infolge des Zusammenschlusses wettbewerbliche Auswirkungen auf inländische Märkte zu entfalten.

Hinsichtlich des Merkmals der „Erheblichkeit“ konkretisierte der BGH, dass zwar eine gewisse Spürbarkeit der Marktbeeinflussung erforderlich sei, die Schwelle hierfür jedoch niedrig anzusetzen sei: Lediglich marginale Auswirkungen seien außer Betracht zu lassen. Bei der Prüfung sei insbesondere die Anzahl der im Inland betroffenen Endkunden zu berücksichtigen, während umsatzbezogene Kriterien unberücksichtigt bleiben müssten.

Rechtsklarheit oder Rechtsunsicherheit? Folgen der BGH-Entscheidung

Die Entscheidung des BGH stärkt die kartellbehördlichen Eingriffsmöglichkeiten in der Fusionskontrolle. Auch Übernahmen von Unternehmen, deren Deutschlandbezug lediglich mittelbar besteht – etwa über in Deutschland ansässige Endverbraucher – können unter die Anmeldepflicht nach § 35 Abs. 1a GWB fallen. Diese Auslegung trägt zwar dem Schutzzweck der Transaktionswertschwelle Rechnung, nämlich potenziell wettbewerbsrelevante Zusammenschlüsse auch bei geringen Umsätzen zu erfassen, sie kann aber in der unternehmerischen Praxis weiterhin zur Unsicherheit führen: erwerbende Unternehmen werden regelmäßig nicht in der Lage sein, die indirekten Auswirkungen der Zielunternehmenstätigkeit auf deutsche Verbraucher zuverlässig einzuschätzen. Es bleibt abzuwarten, inwieweit sich aus der Entscheidung des BGH klare und praktikable Leitlinien für die Anwendung der Transaktionswertschwelle entwickeln lassen.

* Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.

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