BSG kassiert Urteil des LSG Berlin-Brandenburg und unterstreicht die Verhandlungsverantwortung der Krankenkassen und Hersteller im Arzneimittelpreisrecht.
Die mit dem AMNOG 2011 eingeführte frühe Nutzenbewertung für neuartige Arzneimittel zählt zu den wichtigsten Innovationen des deutschen Krankenversicherungsrechts der letzten Jahre und hatte enorme wirtschaftliche Bedeutung für den Gesundheitsmarkt. Entsprechend hartnäckig wurde nach dem Inkrafttreten des Gesetzes um die Auslegung der maßgeblichen Vorschriften gerungen.
Nachdem es zwischenzeitlich so schien, als seien die wesentlichen Grundfragen höchstrichterlich geklärt oder gesetzgeberisch nachjustiert worden, sorgte 2017 ein Urteil des LSG Berlin-Brandenburg plötzlich für neue erhebliche Unsicherheiten bei den betroffenen Akteuren. Das Gericht stufte die seit Jahren etablierte sogenannte Mischpreisbildung als rechtswidrig ein (LSG Berlin-Brandenburg, Urteil v. 28. Juni 2017 – L 9 KR 213/16 KL). Ein solcher Mischpreis wird gebildet, wenn die frühe Nutzenbewertung zu dem Ergebnis kommt, dass das neuartige Arzneimittel bei einer Patientengruppe einen Zusatznutzen hat, bei einer anderen Patientengruppe hingegen nicht. Dies war in 17 Prozent der in 2017 abgeschlossenen Verfahren der Fall.
Eine Bestätigung des Urteils durch das BSG hätte das Arzneimittelpreisregime in Deutschland teilweise grundsätzlich in Frage gestellt. Diese Gefahr ist nun gebannt. Denn das Bundessozialgericht hat die Bedenken der Vorinstanz nicht bestätigt, sondern das Aushandeln eines Mischpreises ausdrücklich für rechtmäßig erklärt (BSG, Urteil vom 3. Juli 2018 – B 3 KR 20/17 R).
Frühe Nutzenbewertung innovativer Arzneimittel nach dem AMNOG-Verfahren
Die Bildung eines Mischpreises steht ganz am Ende des von innovativen Arzneimitteln zu durchlaufenden AMNOG-Verfahrens, das sich nach den §§ 35a und 130b SGB V richtet. Gemäß § 35a SGB V bewertet der Gemeinsame Bundesausschuss bei erstattungsfähigen Arzneimitteln mit neuen Wirkstoffen deren Nutzen, wozu insbesondere die Bewertung von Ausmaß und therapeutischer Bedeutung ihres Zusatznutzens gegenüber der jeweils zweckmäßigen Vergleichstherapie gehört. Nach Abschluss des Bewertungsverfahrens erlässt der GBA eine Richtlinie, in der er über das Ausmaß des Zusatznutzens des Arzneimittels entscheidet.
Die Arzneimittelnutzenverordnung sieht in § 5 Abs. 7 eine abgestufte Kategorisierung vor, die von einem „erheblichem Zusatznutzen″ bis zu einem „geringeren Nutzen als demjenigen der zweckmäßigen Vergleichstherapie″ reicht. Hierbei nimmt der GBA eine Differenzierung zwischen verschiedenen Patientengruppen vor, sofern die Untersuchung ergeben hat, dass der Effekt des Arzneimittels bei ihnen unterschiedlich ist.
Vereinbarung eines Erstattungsbetrages nach § 130 b SGB V und Mischpreisbildung
Der frühen Nutzenbewertung des Gemeinsamen Bundesausschusses folgt ein Verfahren zur Vereinbarung oder Festsetzung des Erstattungsbetrages nach § 130b SGB V zwischen dem Spitzenverband Bund der Krankenkassen und dem pharmazeutischen Hersteller. Wesentliches Kriterium für dessen Höhe ist das vom GBA angenommene Ausmaß des Zusatznutzens des Arzneimittels.
Weder § 130b SGB V noch die auf seiner Grundlage getroffene Rahmenvereinbarung zwischen dem GKV-Spitzenverband und der pharmazeutischen Industrie sieht dabei allerdings eine Regelung für den Fall vor, dass ein neuartiges Arzneimittel für eine Patientengruppe einen Zusatznutzen aufweist, für eine andere hingegen nicht. In einem solchen Fall hatten sich die Verhandlungspartner in der Praxis mit der Bildung eines Mischpreises beholfen: In einem ersten Schritt wurden fiktive, sich am Ausmaß des Zusatznutzens orientierende Erstattungsbeträge für die einzelnen Patientengruppen berechnet. Diese wurden dann – nach der Patientenzahl gewichtet – verrechnet, um so zu einem nach § 78 Abs. 2 S. 2 AMG einheitlichen Erstattungsbetrag zu gelangen.
Die Kritik des LSG Berlin-Brandenburg an der Mischpreisbildung für innovative Arzneimittel
Diese Praxis hielt das LSG Berlin-Brandenburg für rechtswidrig. Seine Argumentation beruhte dabei maßgeblich auf § 130b Abs. 3 S. 1 SGB V, wonach der Erstattungsbetrag für Arzneimittel ohne Zusatznutzen nicht zu höheren Jahrestherapiekosten als die zweckmäßige Vergleichstherapie führen darf. Gegen diese Vorgabe verstoße – so das LSG – die Mischpreisbildung, weil der Mischpreis bei denjenigen Patientengruppen, für die kein Zusatznutzen festgelegt werden konnte, die Kosten der zweckmäßigen Vergleichstherapie überschreite.
Daneben führe die Mischpreisbildung zu einer verzerrten Ausgangslage für zukünftige Preisbildungen: Trete nämlich in einer Patientengruppe ein neues Medikament auf den Plan, dem das aktuell bewertete Arzneimittel dann als zweckmäßige Vergleichstherapie gegenüber gestellt werde, seien dessen Jahrestherapiekosten entweder zu hoch oder zu niedrig.
Schließlich wies das LSG Berlin-Brandenburg auf Regressrisiken für die Vertragsärzte hin: Verordneten diese das bewertete Arzneimittel in einer Patientengruppe ohne Zusatznutzen, setzten sie sich dem Vorwurf der unwirtschaftlichen Versorgung aus.
BSG: Mischpreisbildung für innovative Arzneimittel ist zulässig
Dieser Argumentation folgte das Bundessozialgericht in seiner Entscheidung vom 4. Juli 2018 nicht. Vielmehr bestünden gegen die Bildung Mischpreises keine rechtlichen Bedenken. Denn nach dem Arzneimittelpreisrecht gelte für ein Arzneimittel im Regelfall nur „ein″ Preis und daran anknüpfend auch nur ein nach § 130b SGB V festzulegender Erstattungsbetrag. Bei einer am Zusatznutzen orientierten Kalkulation sei deshalb die Bildung eines Mischpreises geradezu unerlässlich, sofern der GBA in einem Beschluss zur frühen Nutzenbewertung den Zusatznutzen oder die zweckmäßige Vergleichstherapie für unterschiedliche Patientengruppen verschieden bewertet habe.
Die in § 130b Abs. 3 S. 1 SGB V mittlerweile als Sollvorschrift statuierte Vorgabe, Erstattungsbeträge festzusetzen, die die Kosten der zweckmäßigen Vergleichstherapie nicht überschreiten, gelte nämlich nur für – vorliegend gerade nicht betroffene – Arzneimittel ohne jeglichen Zusatznutzen. Bei Arzneimitteln hingegen, bei denen ein Zusatznutzen jedenfalls für einige Patientengruppen anerkannt wurde, glichen sich die teils zu hohen und teils zu niedrigen Erstattungsbeträge durch einen Durchschnittswert im Endeffekt aus, wenn die Verteilung des Arzneimittels auf Patienten mit und ohne Zusatznutzen rechnerisch angemessen berücksichtigt wird. Auch ein Verstoß gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot sei daher – zumindest auf der Ebene des Arzneimittelpreisrechts – zu erkennen.
Nach einigem Wirbel bleibt damit im Ergebnis alles beim Alten: Handelt es sich bei dem Präparat zumindest teilweise um eine echte Innovation, liegt die wirtschaftliche Arzneimittelversorgung weiter in der Verhandlungsverantwortung der Krankenkassen und Hersteller.