28. Oktober 2014
Internationale Zuständigkeit
Life Sciences & Healthcare

Der Verdacht reicht – Generalanwalt zum Produktfehler bei implantierbaren Medizinprodukten

Analyse zum EuGH-Urteil: bloßer Fehlerverdacht reicht, um Fehler bei implantierbaren Medizinprodukten zu begründen.

Kann ein Produkt fehlerhaft sein, wenn es selbst nicht fehlerhaft ist? Diese spontan wohl häufig mit „nein″ beantwortete Frage beschäftigt seit einiger Zeit den Europäischen Gerichtshof (EuGH). Bei näherem Hinsehen ist die Antwort nicht eindeutig – schon gar nicht, wenn es um sensible implantierbare Medizinprodukte geht. Kann der bloße Fehlerverdacht bei derartigen Produkten schon einen Fehler begründen? Der Generalanwalt beim EuGH meint in seinen kürzlich veröffentlichen Schlussanträgen: Ja.

Zum Hintergrund

In den beiden zugrundeliegenden Fällen, die in Deutschland ihren Ursprung haben, geht es um Herzschrittmacher und Defibrillatoren eines amerikanischen Herstellers, der nach internen Qualitätskontrollen Sicherheitshinweise aussprach, weil der Verdacht der Fehlerhaftigkeit der Produkte bestand.

Bei den Herzschrittmachern wurde eine Ausfallwahrscheinlichkeit festgestellt, die 17 bis 20 Mal höher lag als bei vergleichbaren Produkten. Bei den Defibrillatoren bestand der Verdacht von Fehlern der Bauelemente. Einige der Implantate wurden daraufhin auf Wunsch der Patienten ausgetauscht. Dafür fordern die Krankenkassen die Kosten vom Hersteller zurück.

Beide Fälle gingen durch die Instanzen bis zum Bundesgerichtshof, der zur Klärung dem EuGH zwei Fragen zur Präzisierung des Fehlerbegriffs und zum Umfang des zu ersetzenden Schadens vorlegte (Verbundene Rechtssachen C‑503/13 und C‑504/13).

Zum rechtlichen Rahmen

Die rechtliche Grundlage möglicher Ersatzansprüche bildet das Produkthaftungsgesetz (ProdHG), das die nationale Umsetzung der Produkthaftungsrichtlinie 85/374/EWG darstellt. Nach § 1 ProdHaftG bzw. Art. 6 der Richtlinie hat ein Hersteller denjenigen Schaden zu ersetzen, der durch einen Fehler des Produktes entsteht.

Auslegungsfrage und Kern des Streits zwischen den Parteien ist, ob bereits ein Fehler vorliegt, wenn dieser zwar nicht konkret festgestellt wird, jedoch ein begründeter Verdacht dafür vorliegt (1. Vorlagefrage). Konkret stellt sich die Frage, ob ein in den menschlichen Körper implantiertes medizinisches Gerät, etwa ein Herzschrittmacher, schon dann als fehlerhaft zu qualifizieren ist, wenn es die gleichen Merkmale hat wie andere Geräte, von denen erwiesen ist, dass sie ein nennenswert höheres Ausfallrisiko haben als normal.

Notwendige Folgefrage ist dann, ob der zu ersetzende Schaden auch die Kosten der Explantation des möglicherweise fehlerhaften Produkts sowie die Kosten der Implantation eines neuen Implantats umfasst (2. Vorlagefrage).

Die Schlussanträge

In Bezug auf die erste Vorlagefrage stellte der Generalanwalt zunächst fest, dass ein Produkt dann einen Fehler aufweise, wenn es nicht die Sicherheit bietet, die seitens der Patienten zu erwarten sei. Nach Meinung des Generalanwalts sei ein Sicherheitsrisiko dabei dann schon gegeben, wenn ein erhöhtes Ausfallsrisiko bestehe. Dies reiche aus, um einen Produktfehler zu bejahen.

„Aus diesem Grund hat sich das vorlegende Gericht zu der Frage veranlasst gesehen, ob ein aktives implantierbares medizinisches Gerät im Wesentlichen als fehlerhaft zu betrachten ist, wenn es zu einem Produktmodell gehört, dessen Ausfallrisiko nennenswert höher als das normale ist, oder bei einer beträchtlichen Anzahl von Produkten gleicher Bauart bereits ein Fehler aufgetreten ist. Diese Frage ist meines Erachtens zu bejahen.″

Nicht erforderlich sei , dass sich das erhöhte Ausfallrisiko tatsächlich realisiert habe. Dies ergebe sich vorliegend insbesondere aufgrund der Art des Produkts – bei den in Rede stehenden Implantaten handele es sich um für Patienten lebenswichtige Produkte und nicht etwa um Akkus für Mobiltelefone oder Pflegeprodukte. Die erhöhte Wahrscheinlichkeit eines Schadens reiche daher aus.

Auch Erwägungen des Verbraucherschutzes sprächen für eine extensive Auslegung des Fehlerbegriffs. Sinn und Zweck der Richtlinie sei nicht nur die Herstellung eines unverfälschten Wettbewerbs und freien Warenverkehrs, sondern Ziel der Richtlinie sei auch Verbraucherschutz, was sich bereits aus den Erwägungsgründen der Richtlinie ergebe.

Im Ergebnis bejaht der Generalanwalt damit die erste Frage und schlägt dem EuGH folgende Antwort vor:

„Ein in den Körper eines Patienten implantiertes medizinisches Gerät ist als fehlerhaft im Sinne von Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 85/374/EWG […] zu betrachten, wenn es die gleichen Merkmale aufweist wie andere Geräte, von denen erwiesen ist, dass sie ein nennenswert höheres als das normale Ausfallrisiko haben oder es bei einer beträchtlichen Anzahl von ihnen bereits zu Ausfällen gekommen ist.″

Die zweite Vorlagefrage bejaht der Generalanwalt ebenfalls. Weise das Produkt einen wie oben beschriebenen Fehler auf, so würden auch die Kosten für das Explantieren und Neuimplantieren in den zu ersetzenden Schaden fallen. Dies soll allerdings nur gelten, wenn ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem sich aus dem Ausfallrisiko ergebenden Fehler und dem konkreten Schaden bestehe.

Maßgeblich dafür sei wiederum das Sicherheitsrisiko. Wenn eine gleich geeignete alternative Maßnahme zur Risikobekämpfung in Betracht komme, so könne dies zu einem anderen Ergebnis führen. Die Entscheidung über mögliche Alternativmaßnahmen ist dabei nach Ansicht des Generalanwalts eine Frage des Einzelfalls, die den nationalen Gerichten überlassen bleiben soll.

Fazit

Der Generalanwalt spricht sich für eine weite Auslegung des Fehlerbegriffs aus. Nach seinen Ausführungen kommt dem Wahrscheinlichkeitsgrad des Risikos, dass ein Schaden eintritt, für das Vorliegen oder Nichtvorliegen eines Fehlers eine maßgebliche Bedeutung zu. Seiner Auffassung nach sei der erforderliche Grad der Wahrscheinlichkeit von der Art des konkret betroffenen Produkts abhängig.

Konkret bedeutet das, dass für Hersteller von implantierbaren Medizinprodukten seiner Auffassung nach deutlich strengere Haftungsmaßstäbe gelten – und zwar bereits auf der Ebene des Fehlerbegriffs – als für Hersteller aus anderen Branchen.

Es bleibt abzuwarten, ob der EuGH der Ansicht des Generalanwalts folgen wird. Er ist zwar nicht an dessen Schlussanträge gebunden, schließt sich ihnen aber in der Mehrheit der Fälle an.

Spricht sich auch der EuGH in seinem in einigen Monaten zu erwartenden Urteil für ein weites Verständnis des Fehlerbegriffs – und damit für ein strengeres Haftungsregime – bei Medizinprodukten aus, hätte dies erhebliche Auswirkungen für den Umgang mit Produkthaftungsrisiken in der Medizinprodukteindustrie.

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