5. April 2022
Ausnahme Ausschreibung Vergabe
Öffentliches Wirtschaftsrecht

Das EUR-100-Milliarden-Paket für die Bundeswehr: Vergaberechtliche Rahmenbedingungen – Teil 2: Ausnahmen von der Ausschreibungspflicht

Das Beschaffungspaket für die Bundeswehr und die Äußerungen der Verteidigungsministerin zu dessen Umsetzung werfen vergaberechtliche Fragen auf.

Als Folge der völkerrechtswidrigen Invasion Russlands in die Ukraine hat die Bundesregierung angekündigt, der Bundeswehr ein Sondervermögen von EUR 100 Milliarden für notwendige Investitionen und Rüstungsvorhaben zur Verfügung zu stellen. 

In einem Gastbeitrag in der Welt am Sonntag hat Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht ihren Drei-Punkte-Plan für die Bundeswehr zur Umsetzung dieser Investition vorgestellt. Der zweite dieser drei Punkte betrifft unmittelbar das Vergaberecht, bei dem im Verteidigungsministerium wohl ganz besonders der Schuh drückt. Die Ministerin gibt das Ziel vor, dass wir „schneller und wirtschaftlicher“ werden müssen. Die Optimierung des Beschaffungswesens wurde zur Chefsache erklärt. Um eine „Hürde“ kurzfristig zu beseitigen, kündigt die Ministerin an, die „europarechtlichen Ausnahmen für das Vergaberecht voll“ auszuschöpfen. Das spare „zeitaufwändige Vergabeverfahren“ und dadurch würden Ressourcen freigesetzt.

Diese Entwicklung und diese Aussagen geben Anlass, sich die vergaberechtlichen Rahmenbedingungen für Beschaffungen der Bundeswehr und dort insbesondere die von der Ministerin angesprochenen Ausnahmen näher anzuschauen. Inwieweit die Situation in der Ukraine Dringlichkeitsvergaben rechtfertigt, haben wir bereits in einem separaten Beitrag beleuchtet.

Art. 346 AEUV ist keine Pauschalausnahme für die Bundeswehr

Mit den europäischen Ausnahmen meint die Verteidigungsministerin insbesondere den Art. 346 Abs. 1 Buchstabe b des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), der über § 107 Abs. 2 GWB unmittelbar im deutschen Vergaberecht gilt. Danach sind Beschaffungen ausgenommen, die Waffen, Munition oder Kriegsmaterial betreffen und wo die Ausnahme zur Wahrung wesentlicher Sicherheitsinteressen erforderlich ist.

Bei der Anwendung dieser Vorschrift ist allerdings zu beachten, dass es sich hierbei um keine Pauschalausnahme für Beschaffungen der Bundeswehr handelt. 

Liste von Waffen, Munition und Kriegsmaterial

Zum einen gilt die Ausnahme nur für Waffen, Munition und Kriegsmaterial, die in einer 1958 aufgestellten Liste zusammengefasst sind. Diese umfasst die klassischen Waffen und Waffensysteme wie Schusswaffen, Kanonen, Panzer, Kriegsschiffe und Militärflugzeuge ebenso wie sonstiges Material wie militärische elektronische Ausrüstung, Fallschirme, Brückensysteme, Kameras und Suchlicht. Die Liste erscheint auf den ersten Blick zwar veraltet. Andererseits ist sie aber auch hinreichend offen, um neuere Technologien der Kriegsführung abzudecken. 

Erforderlichkeit zur Wahrung wesentlicher Sicherheitsinteressen

Die militärische Zweckbestimmung des zu beschaffenden Gegenstands ist erforderlich, allerdings nicht ausreichend. Darüber hinaus muss der Verzicht auf ein förmliches Vergabeverfahren für die Wahrung der „wesentlichen Sicherheitsinteressen“ der Bundesrepublik Deutschland erforderlich sein. Dabei steht dem Beschaffer zwar ein Beurteilungsspielraum zu („seines Erachtens“), der allerdings – wenn auch eingeschränkt – gerichtlich überprüfbar ist.

Bei der Beschaffung muss im Einzelfall hinterfragt werden, warum die wesentlichen Sicherheitsinteressen selbst bei Anwendung des an militärische Bedürfnisse angepassten Vergaberechts nach der Vergabeverordnung Verteidigung und Sicherheit (VSVgV) nicht gewahrt werden können. 

Strategiepapier zu verteidigungsindustriellen Schlüsseltechnologien

Mit dem Ziel, Beschaffungen ohne förmliche Vergabeverfahren zu vereinfachen, hat der Gesetzgeber die „wesentlichen Sicherheitsinteressen“ konkretisiert. Dazu hat er festgelegt, dass solche Interessen „insbesondere berührt“ seien, wenn der Auftrag „verteidigungsindustrielle Schlüsseltechnologien“ betreffe.

Zu diesen Schlüsseltechnologien hat die Bundesregierung parallel das „Strategiepapier der Bundesregierung zur Stärkung der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie“ verfasst. Dabei unterscheidet das Papier zwischen nationalen Schlüsseltechnologien einerseits sowie Technologien, deren Sicherung in Kooperation mit europäischen Partnern erfolge und bei denen auf global verfügbare Technologien zurückgegriffen werde, andererseits. Dem Papier lässt sich insoweit folgende Zuordnung entnehmen: 

Nationale Schlüsseltechnologien:Geschützte/gepanzerte Fahrzeuge, Marineschiffbau (Über-/Unterwasserplattformen), Elektronische Kampfführung, sicherheitsrelevante IT-/Kommunikationstechnologien, vernetzte Operationsführung/Krypto, Schutz und Sensorik, Künstliche Intelligenz, Teile der IT-Kommunikationshardware
Sicherung in Kooperation mit europäischen Partnern und Rückgriff auf global verfügbare TechnologienHandfeuerwaffen, Dreh- und Starrflügler, Flugkörper/Luftverteidigung, ungeschützte Fahrzeuge, ABC-Abwehr, Teile der IT-/Kommunikationshardware

EuGH fordert Nachweis, dass Ausschreibung Sicherheitsinteressen nicht wahrt

Die Notwendigkeit des Verzichts auf ein Vergabeverfahren lässt sich für ein konkretes Beschaffungsvorhaben nicht mit einem Verweis auf dieses Strategiepapier begründen. Dass wesentliche Sicherheitsinteressen „berührt“ sind, rechtfertigt noch keinen Verzicht auf ein förmliches Vergabeverfahren. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) muss der Auftraggeber, der sich auf diese Ausnahme beruft, konkret „nachweisen“, dass eine Ausschreibung dem Erfordernis des Schutzes nationaler Sicherheitsinteressen in dem speziellen Einzelfall nicht hätte gerecht werden können. 

Zudem handelt es sich bei dem Strategiepapier um ein industriepolitisches Papier, das auch Aspekte berücksichtigt, die außerhalb der reinen Sicherheitsinteressen liegen. Hinzu kommt, dass sich die verteidigungspolitischen Gegebenheiten mit dem Angriff auf die Ukraine und damit die nationalen Sicherheitsinteressen Deutschlands grundlegend geändert haben. Zu beachten ist im Übrigen, dass die bestehenden Kooperationsprogramme etwa für Kampfpanzer mit Frankreich oder für U-Boote mit Norwegen zeigen, dass auch in den als nationale Schlüsseltechnologien proklamierten Bereichen europäische Kooperationen möglich sind.

Kooperation zur Forschung und Entwicklung

Damit kommt auch eine weitere europäische Ausnahme vom Vergaberecht in den Blick. Diese gilt für Aufträge im Rahmen europäischer Kooperationsprogramme, die der Forschung und Entwicklung neuer Ausrüstung dienen müssen. Sie können daher keine Beschaffung bereits am Markt angebotener Systeme umfassen. Befreit sind aber nicht nur Forschungs- und Entwicklungsaufträge. Die Entwicklung kann sich vielmehr über den gesamten Lebenszyklus erstrecken, d.h., die Kooperationspartner können auch bei Herstellung der Marktreife weiterhin aus der Kooperation beschaffen.  

Die Kooperation muss aus mind. zwei Mitgliedstaaten der EU bestehen, dann können auch Drittstaaten teilnehmen. Diese Differenzierung ist wenig einleuchtend, etwa mit Blick auf Kooperationen mit Großbritannien oder Norwegen. 

Durch solche Kooperationsprojekte lassen sich die recht hohen Entwicklungskosten für Waffensysteme aufteilen. Zudem können die Staaten gegenseitig von dem jeweiligen Know-how profitieren. Andererseits erfordert die Zusammenarbeit auch, dass sich die Staaten und Unternehmen aufeinander einlassen. Die Beschränkung von Schlüsseltechnologien auf die eigene nationale Industrie ist einer solchen Kooperation wesensfremd, soweit sie darauf angelegt ist, neues Know-how gemeinsam zu entwickeln. Das erfordert dann auch eine klare Regelung über die Zuordnung der Schutzrechte.

Vergabe nach Verfahren einer internationalen Vereinbarung

Von der Anwendung des nationalen Vergaberechts ausgenommen sind auch Beschaffungen, die nach Maßgabe von Verfahrensregeln erfolgen, die durch eine internationale Vereinbarung geschaffen wurden. Voraussetzung ist, dass ein solches völkerrechtliches Abkommen mit einem Staat, der nicht Mitglied der EU oder des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) ist, geschlossen wurde. Ein solches Übereinkommen muss ein geordnetes Verfahren mit gewissen Mindestanforderungen vorsehen. Der Verzicht auf ein Vergabeverfahren lässt sich daher auf diesem Wege nicht erreichen. 

Regierungsaufträge (government-to-government contracts)

Auch außerhalb von Kooperationsprogrammen und internationalen Vereinbarungen hat die Bundesregierung das Recht, einen verteidigungsspezifischen Auftrag an eine andere Regierung oder eine andere Gebietskörperschaft eines anderen Staats zu vergeben. In ihren Leitlinien zu Aufträgen zwischen Regierungen (government-to-government oder G2G) weist die Europäische Kommission ausdrücklich darauf hin, dass aus dem allgemeinen EU-Recht und der Rechtsprechung des EuGH folge, dass die Mitgliedstaaten nicht völlig frei seien, Regierungsaufträge zu erteilen. Es müsse vorher eine sorgfältige Markterkundung durchgeführt werden. Ein Auftrag an eine Regierung kommt nur dann in Betracht, wenn die Markterkundung ergibt, dass die beabsichtigte Beschaffung nur über einen G2G-Vertrag erfolgen kann. Insbesondere ist der Kauf von einer Regierung nicht zulässig, wenn der Verkäufer selbst den Kaufgegenstand erst für diesen Weiterverkauf erwirbt. Regierungsaufträge sind daher kein geeignetes Instrument, um am Markt verfügbare Ausrüstung vergabefrei zu beschaffen. 

Dieser kurze Überblick zeigt, dass ein Spielraum für Beschaffungen ohne förmliches Vergabeverfahren besteht. Dieser ist allerdings nicht sehr groß. Da die deutschen Vorschriften die europarechtlichen Vorgaben spiegeln, lassen sich diese Spielräume auch nicht durch nationale Gesetzesänderungen ausweiten. 

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