Überraschendes Urteil des EuGH: Unionsrecht hindert die nationalen Gerichte nicht an der Anwendbarkeit der HOAI-Mindestsätze.
Bereits im Juli 2019 hatte der Europäische Gerichtshof (EuGH) für Aufsehen gesorgt, als er die verbindlichen Bereits im Juli 2019 hatte der Europäische Gerichtshof (EuGH) für Aufsehen gesorgt, als er die verbindlichen Mindest- und Höchstsätze der HOAI für EU-rechtswidrig erklärte, da diese gegen die Europäische Dienstleistungsrichtlinie 2006/123/EG verstoßen (Rs. C-377/17). In der Folge hatte der deutsche Gesetzgeber das verbindliche Preisrecht der HOAI für nach dem 1. Januar 2021 geschlossene Architekten- und Ingenieurverträge* abgeschafft und damit die Europäische Dienstleistungsrichtlinie europarechtskonform umgesetzt.
Umstritten aber blieb, wie mit den zuvor abgeschlossenen Architekten- und Ingenieurverträgen umzugehen sei: Richtet sich die EU-Dienstleistungsrichtlinie nur an die Bundesrepublik Deutschland als Gesetz- und Verordnungsgeber oder entfaltet sie auch zwischen Privaten unmittelbare Wirkung? In letzterem Fall wäre die Verbindlichkeit des Preisrechts der HOAI auch in den Altverträgen entfallen und die (nachträgliche) Geltendmachung von Mindestsatzhonoraren mittels sog. Aufstockungsklagen ausgeschlossen.
Unionswidrigkeit des verbindlichen Preisrechts der HOAI, aber EU-Dienstleistungsrichtlinie entfaltet keine unmittelbare Wirkung zwischen Privaten
Diese Frage hat der EuGH in dem vom Bundesgerichtshof (BGH) angestrengten Vorabentscheidungserfahren in einem – für viele Beobachter unerwarteten – Urteil vom 18. Januar 2022 (C-261/20) nunmehr beantwortet: Danach ist ein nationales Gericht nicht allein aufgrund des Unionsrechts verpflichtet, die Höchst- und Mindestsätze der HOAI (§ 7 HOAI a.F.) unangewendet zu lassen, auch wenn diese gegen die EU-Dienstleistungsrichtlinie verstoßen. Sein Urteil zur Unionswidrigkeit des verbindlichen Preisrechts der HOAI richte sich, so der EuGH, gegen die Bundesrepublik Deutschland als Mitgliedstaat und habe nicht die Verleihung von Rechten an Einzelne zum Gegenstand. Die EU-Dienstleistungsrichtlinie entfalte insoweit keine unmittelbare Wirkung zwischen Privaten.
Aufstockungsklagen gegen Bauherrn möglich
In der Folge können sich Architekten und Ingenieure aus vor dem 1. Januar 2021 geschlossenen Verträgen weiterhin auf die Einhaltung der Mindestsätze berufen und diese mit Aufstockungsklagen gegen ihren Bauherrn geltend machen.
Der insoweit geschädigte Bauherr könne nach Ansicht des EuGH grundsätzlich einen Schadenersatzanspruch gegen den Staat geltend machen. Jeder Mitgliedstaat müsse sicherstellen, dass dem Einzelnen der Schaden ersetzt wird, der ihm durch die Nichtbeachtung des Unionsrechts (hier: Unionswidrigkeit des verbindlichen Preisrechts der HOAI) entstanden ist, gleichgültig, welche staatliche Stelle diesen Verstoß begangen hat und welche Stelle nach dem Recht des betreffenden Mitgliedstaats diesen Schadensersatz grundsätzlich zu leisten hat.
Bis eine solche Schadensersatzklage geführt wurde und höchstrichterlich geklärt ist, wie sich der Schaden des Auftraggebers zusammensetzt, dürften einige Jahre vergehen. Zunächst aber bleibt abzuwarten, wie die nationalen Gerichte die Vorgaben des EuGH bei den sog. Aufstockungsklagen umsetzen.
*Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Lediglich der leichteren Lesbarkeit halber wird künftig bei allen Bezeichnungen nur noch die grammatikalisch männliche Form verwendet.