Aufstockungsklagen von Architekten und Ingenieuren zur Honorarerhöhung weiterhin möglich und erfolgversprechend.
Der Bundesgerichtshof (BGH) entschied am 2. Juni 2022, dass die Mindest- und Höchstsätze der Honorarordnung für Architekten und Ingenieure (HOAI) auf vor dem 1. Januar 2021 begründete Vertragsverhältnisse weiterhin Anwendung finden (Az. VII ZR 174/19).
Die Entscheidung knüpft an das vielbeachtete Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 4. Juli 2019 (Az. C-377/17) an, das einen Verstoß des HOAI-Preisrechts gegen die EU-Dienstleistungsrichtlinie feststellte. Unter den deutschen Gerichten war es im Nachgang der EuGH-Entscheidung zu einer unterschiedlichen Rechtsprechung in der Frage gekommen, ob aus dem Verstoß gegen die EU-Dienstleistungsrichtlinie die Unanwendbarkeit der HOAI-Bestimmungen folgt.
Mindest- und Höchstsätze der HOAI bleiben trotz Verstoßes gegen EU-Dienstleistungsrichtlinie anwendbar
Der BGH hat in dieser Frage nun Rechtsklarheit geschaffen: Die HOAI bleibt anwendbar, auch wenn ihre Bestimmungen gegen die EU-Dienstleistungsrichtlinie verstoßen. Nachdem der deutsche Gesetzgeber aufgrund der EuGH-Entscheidung das HOAI-Preisrecht zum 1. Januar 2021 abgeschafft hat, bedeutet die Entscheidung für Planerverträge Folgendes: Vor dem 1. Januar 2021 geschlossene Planerverträge müssen das Preisrecht der HOAI zwingend beachten; seit dem 1. Januar 2021 geschlossene Planerverträge sind von den Preisvorgaben der HOAI befreit.
Überraschend ist die Entscheidung des BGH nicht. Bereits mit Urteil vom 18. Januar 2022 (Az. C-261/20) hatte der EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens seine Auffassung geäußert, dass die Mindest- und Höchstsätze der HOAI trotz Verstoßes gegen die EU-Dienstleistungsrichtlinie anwendbar bleiben. Die EU-Dienstleistungsrichtlinie richte sich allein an die Bundesrepublik Deutschland als Mitgliedstaat, nicht dagegen an den einzelnen Bürger*. Der einzelne Bürger könne daher keine Rechte aus der EU-Dienstleistungsrichtlinie herleiten.
Aufstockungsklagen aus Altverträgen weiterhin möglich
Damit bleiben Aufstockungsklagen in vor dem 1. Januar 2021 begründeten Vertragsverhältnissen erfolgversprechend. Architekten und Ingenieure können bei mindestsatzunterschreitenden Altverträgen die Aufstockung ihres Honorars noch nachträglich vom Auftraggeber einfordern. Der BGH stellte ausdrücklich klar, dass die Geltendmachung von Mindestsätzen sich insbesondere nicht deshalb als treuwidrig darstellt, weil die zugrundeliegenden HOAI-Bestimmungen gegen das Unionsrecht verstoßen. Jede Partei, so der BGH, kann sich grds. auf eine nationale Rechtsvorschrift berufen, solange diese gültig und im Verhältnis der Parteien anwendbar ist.
Aufstockungsklagen bleiben damit in Altfällen möglich. Ein Selbstläufer sind sie aber nicht. Denn ob eine Mindestsatzunterschreitung unter Berücksichtigung des Gesamthonorars tatsächlich vorliegt und das Verlangen eines zusätzlichen Honorars nicht treuwidrig und der Anspruch darauf auch noch nicht verjährt ist, hängt – wie immer – vom Einzelfall ab.
*Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Lediglich der leichteren Lesbarkeit halber wird künftig bei allen Bezeichnungen nur noch die grammatikalisch männliche Form verwendet.