Der Retained EU Law (Revocation and Reform) Bill 2021 könnte der britischen Regierung beispiellose Macht verleihen.
Auch sieben Jahre nachdem die Menschen im Vereinigten Königreich für den Brexit gestimmt haben, sind die Auswirkungen dieser Entscheidung immer noch für Überraschungen gut. Jetzt plant die britische Regierung, das britische Gesetzbuch von allen aus der EU kommenden Regelungen zu befreien.
Im Schatten des Windsor Framework mit Nordirland hat die britische Regierung eine Gesetzesinitiative auf den Weg gebracht, die den Ministern* beispiellose Exekutivgewalt verleihen könnte. Der Retained EU Law (Revocation and Reform) Bill 2021 soll über 3.500 Gesetze, Regeln und Vorschriften, die ursprünglich durch die EU-Mitgliedschaft Großbritanniens eingeführt wurden, ändern oder sogar aufheben. Damit könnten massive Veränderungen in vielen Bereichen der Wirtschaft, einschließlich grundlegender Arbeitsgesetze, regulierter Industrien und der Einhaltung von Vorschriften, einhergehen. Kritiker warnen vor einer Machtverschiebung zugunsten der Regierung und einem Verlust von parlamentarischer Kontrolle. Sollte der Gesetzentwurf in seiner vorliegenden Form in Kraft treten, würden alle noch verbliebenen Rechtsvorschriften der Europäischen Union zum 31. Dezember 2023 aufgehoben.
Derzeit liegt der Entwurf dem zuständigen Ausschuss des House of Lords (Oberhaus des britischen Parlaments) zur Prüfung vor.
Inhalt des Retained EU Law (Revocation and Reform) Bill 2021
Der Retained EU Law (Revocation and Reform) Bill 2021 stellt einen Gesetzentwurf im Vereinigten Königreich mit dem Ziel dar, bestimmte Aspekte des EU-Rechts zu ändern, die nach dem Austritt aus der Europäischen Union im britischen Recht beibehalten wurden. Der Gesetzentwurf würde die britische Regierung ermächtigen, jegliches beibehaltene EU-Recht, einschließlich derjenigen Normen, die vor dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU verabschiedet wurden, zu ändern, aufzuheben oder zu ersetzen.
Der Entwurf ist Teil der umfassenderen Bemühungen der britischen Regierung, ihren Rechtsrahmen vor dem Hintergrund des Brexits neu zu gestalten und die Kontrolle über ihr Rechtssystem wiederzuerlangen. Die britische Regierung hat betont, der Gesetzentwurf sei notwendig, um Aktualität und Zweckmäßigkeit des britischen Rechts weiterhin sicherzustellen, während er gleichzeitig eine größere Flexibilität bei Gesetzesänderungen einräumt.
Allerdings stößt der Gesetzentwurf auf Widerstand, da er nach Ansicht der Kritiker zu einer Aushöhlung der Arbeitnehmerrechte, des Umweltschutzes und anderer bedeutender Rechtsvorschriften führen könnte, die zuvor im EU-Recht verankert waren. Ebenso wird die Sorge geäußert, dass die Rechtsstaatlichkeit sowie die Unabhängigkeit der Justiz untergraben werden könnten.
In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass es sich bei dem Retained EU Law (Revocation and Reform) Bill 2021 um einen Gesetzentwurf handelt, der noch Änderungen unterworfen werden kann oder möglicherweise letztendlich gar nicht verabschiedet wird.
Mögliche Auswirkungen des Retained EU Law (Revocation and Reform) Bill 2021 auf EU-Unternehmen
Der Gesetzentwurf könnte erhebliche Auswirkungen auf Unternehmen haben, die im Vereinigten Königreich tätig sind. Schließlich wurden viele Aspekte des britischen Rechts, bspw. in den Bereichen Handel, Wettbewerb, Beschäftigung und Verbraucherschutz, zuvor vom EU-Recht abgeleitet.
Wenn der Retained EU Law (Revocation and Reform) Bill 2021 verabschiedet wird, könnte er der britischen Regierung mehr Flexibilität bei der Änderung oder Aufhebung von Rechtsvorschriften geben, die aus dem EU-Recht abgeleitet wurden. Dies könnte zu einer ganzen Reihe von Auswirkungen auf Unternehmen führen. Unternehmen mit Sitz in der EU („EU-Unternehmen“), die im Vereinigten Königreich Geschäften nachgehen oder Beteiligungen halten, müssen möglicherweise ihre Tätigkeiten anpassen oder neue Vorschriften oder Anforderungen erfüllen, die sich aus Änderungen des britischen Rechts ergeben. Insbesondere bei Unternehmen mit grenzüberschreitender Tätigkeit oder aus stark regulierten Branchen könnte dies erhebliche Auswirkungen auf die Kosten haben.
Zum einen könnten sich Änderungen des britischen Wettbewerbsrechts auf EU-Unternehmen auswirken, die eine bedeutende Präsenz auf dem britischen Markt haben. Ebenso könnten Änderungen im Arbeitsrecht, insbesondere in Bereichen wie Arbeitnehmerschutz und Tarifverhandlungen, Folgen für EU-Unternehmen mit Mitarbeitern oder Betrieben im Vereinigten Königreich haben.
Zum anderen könnten sich Änderungen des britischen Rechts auf EU-Unternehmen auswirken, die auf das Vereinigte Königreich als Tor zum größeren EU-Markt angewiesen sind. So könnten bspw. Änderungen des britischen Handelsrechts, der Zolltarife oder -vorschriften die Fähigkeit von EU-Unternehmen beeinträchtigen, mit dem Vereinigten Königreich Handel zu treiben und umgekehrt. Dies könnte erhebliche Auswirkungen auf Lieferketten, Logistik und grenzüberschreitende Geschäftsvorgänge nach sich ziehen.
Die genauen Auswirkungen des Gesetzentwurfs auf die Unternehmen hängen jedoch von den spezifischen Änderungen im britischen Recht sowie von der Branche und der Größe des jeweiligen Unternehmens ab. Ferner ist zu beachten, dass der Entwurf auf seinem Weg durch das Gesetzgebungsverfahren noch geändert werden kann, sodass seine endgültigen Auswirkungen möglicherweise erst nach seiner Verabschiedung klar erkennbar werden.
Kritik am Retained EU Law (Revocation and Reform) Bill 2021
Kritik am Retained EU Law (Revocation and Reform) Bill 2021 kam von den Oppositionsparteien der britischen Regierung, aber auch aus dem House of Lords.
Dieses äußerte seine Besorgnis darüber, dass es dem Entwurf an Substanz fehle und er die Rechtsstaatlichkeit untergraben könnte. Begründet wird dies mit der Absicht hinter dem Gesetzentwurf, den Ministern die Befugnis zu verschaffen, vom Parlament verabschiedete Gesetze ohne Einhaltung des üblichen parlamentarischen Prozesses einseitig aufzuheben oder zu ändern. Auf diese Weise würden die Minister die parlamentarische Kontrolle umgehen, die einen grundlegenden Aspekt des demokratischen Systems des Vereinigten Königreichs darstellt.
Der Gesetzentwurf könnte auch die Möglichkeiten der Gerichte zur Überprüfung von Regierungsentscheidungen limitieren. Denn der Entwurf zielt darauf ab, den Umfang gerichtlicher Überprüfungen von Entscheidungen, die im Rahmen des Gesetzentwurfs getroffen wurden, einzuschränken.
Ein weiteres Argument des House of Lords besteht darin, dass die Möglichkeit einseitiger Gesetzesänderungen oder -aufhebungen durch die Minister zu Rechtsunsicherheit führen könnte, da der Entwurf hierzu weder klare Richtlinien noch einen Verfahrensvorschlag enthält.
Ebenso unklar ist die Zahl der aufzuhebenden oder beizubehaltenden EU-Rechtsvorschriften. Die britische Regierung hat das von ihr bereits identifizierte beibehaltene EU-Recht in einem Online-Dashboard veröffentlicht (UK Government – Retained EU Law Dashboard | Tableau Public). Dieses Dashboard umfasst derzeit etwa 3.530 beibehaltene EU-Rechtsvorschriften. Allerdings ist davon auszugehen, dass sich diese Zahl noch erhöhen dürfte.
Wie geht es weiter?
Sollte der Gesetzentwurf in seiner jetzigen Form in Kraft treten, würde das gesamte beibehaltene EU-Recht am 31. Dezember 2023 aufgehoben, wobei die britische Regierung jedoch einem Aufschub bis spätestens zum 23. Juni 2026 zustimmen könnte. Jede beibehaltene EU-Rechtsvorschrift, die die Regierung erhalten möchte, müsste vor diesem Datum im britischen Recht kodifiziert werden.
Es ist auch möglich, dass der Gesetzentwurf nie in Kraft treten oder vor dem Ablauf der Frist für die Umsetzung in britisches Recht wieder aufgehoben wird. Nach den derzeitigen Bestimmungen des Gesetzentwurfs kann dieser Termin bis zum 23. Juni 2026 hinausgeschoben werden. Die nächsten Parlamentswahlen im Vereinigten Königreich müssen bis zum 23. Januar 2025 stattfinden, könnten aber auch früher abgehalten werden. Wenn die Frist bis nach den Parlamentswahlen verlängert wird, könnte eine neue britische Regierung den Gesetzentwurf ändern oder gänzlich verwerfen.
*Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.